Название | Jahrhundertwende |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
Brigitte und Leo haben übrigens als Modelle gedient für eine Werbekampagne der IG Metall. Sie sind das Musterpaar, das ich schon in Inseraten gesehen habe. Man hat sie mit zwei (fremden) Kindern, 7 und 10, professionellen Fotomodellen, ausgestattet. Nur das Künstliche sieht heutzutage wirklich natürlich aus.
Ich höre von Spannungen zwischen Linker Liste und PDS. Die LL »wird es nicht bringen«, sagt man mir.
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Bildersturm. – F. K. Fromme im heutigen FAZ-Leitartikel: Der Marx-Kopf in Chemnitz »muss schon aus ästhetischen Gründen weichen. Man könnte sogar sagen: aus Respekt vor dem Philosophen, der in einem nicht kleinen Teil der Welt Rechtfertigungen für Herrschaft hergegeben hat. Auch Lenin-Denkmäler aber verdienen ihren Platz nicht mehr. Sie bedeuten eine Verherrlichung des Terrors«. Als »Auswuchs« müsse auch der Name »Ho-Chi-Minh-Straße« beseitigt werden. Frankfurter Machiavellismus: »Die Symbole der alten SED wegzubringen, ist geboten. […] Mit dem Fall der Symbole vollendet sich der Absturz von der Macht.«
Einem Nebukadnezar-Regime, einer altasiatischen Despotie gleichend, aber zugleich ein soziales Modernisierungsregime mit Marxismus-Leninismus als weltlicher Religion.
26. Oktober 1990 (2)
Staat und Wirtschaft, ineinandergreifend. – Der »Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände«, also einer der korporativen Sprecher der BRD-Kapitalisten, rief dieselben auf, sich über die Staatsagentur (»Treuhand«) in die Leitungsebene der DDR-Ökonomie einsetzen zu lassen: »Gehen Sie in die Aufsichtsräte oder, wenn möglich, in die Geschäftsführungen der Ost-Unternehmen, oder senden Sie fähige Mitarbeiter dorthin!«
Konrad Adam schreibt Engels die Lehre zu: »Die Familie wird aufgelöst, das Eigentum verboten, der Staat stirbt ab«. »Engels’ Antipode« Hajek behalte recht: Familie & Eigentum als Grundfesten des Staates. Adam riskiert den Satz, dass »der Versuch, Krankenhäuser, Schulhäuser und Elternhäuser betriebswirtschaftlich zu taxieren, zwangsläufig in die […] Barbarei führen muss«. Verrückterweise ist das gegen den Sozialstaat, nicht gegen den Thatcherismus gemünzt. Denn ohne meine Auslassung heißt es: »zwangsläufig in die Irre sozialstaatlicher Barbarei führen muss«.
27. Oktober 1990
Heute Gorbatschows Wirtschaftsreformplan erhalten. Das Dokument beginnt: »Es gibt keine Alternative zum Übergang zur Marktwirtschaft.« Das »Ziel besteht darin, eine sozial orientierte Wirtschaft aufzubauen, die gesamte Produktion nach den Interessen des Konsumenten auszurichten, den Warenmangel und die Schmach des Schlangestehens zu überwinden, die wirtschaftliche Freiheit der Bürger tatsächlich zu sichern, Bedingungen für die Förderung des Fleißes, der Kreativität, der Initiative und der hohen Produktivität herbeizuführen.« Ob Spätere einmal das Schweigen mithören und die Euphemismen erkennen werden?
Aus Halle schreibt André Gursky, an der dortigen Uni würden Westberliner (er nennt Christian Fenner) zur Zeit den Ton angeben und sich »als ›Besatzer‹, in gewisser ›Siegerpose‹ und teilweise arrogant geben«. Ab kommenden Montag wird André in Darmstadt vielleicht doch ein liberalkritischeres Klima erfahren. Bin neugierig auf seinen Bericht.
Die »Scientology Church« preist in der ehemaligen DDR groß ihr »Reinigungsprogramm« an.
28. Oktober 1990
Gregor Gysi umhergeschleudert im Zusammenwirken von (alten?) Kräften aus der PDS und den Vernichtungsstrategien, denen die PDS von rechts ausgesetzt ist. Das riesige Vermögen wird, vom Gegner populistisch genutzt, zum Unvermögen der PDS.
Die Ungarn erregen das Missvergnügen der FAZ, weil sie »ganz unmarktwirtschaftlich jede Preissteigerung zu einem Drama« machen. »Markt« für die FAZ etwas Quasi-Religiöses, daher »unmarktwirtschaftlich« zu sein ein bedenklicher Charakterfehler. Führe zu einer »Anspruchsgesellschaft«. »Die Ungarn waren schon immer anspruchsvoll. Was sie früher gehindert hat, die kommunistische Herrschaft ergeben hinzunehmen […], droht nun unter demokratischen Umständen den Erfolg zu gefährden.« – Anlass war die Heraufsetzung der Benzinpreise um 60 Prozent.
Die FAZ druckt eine Rede Dmitri Lichatschows über »die Mission der russischen Kultur in der modernen Welt«. Die Russen, sagt dieser, sind innerlich polarisiert, sie leben und sterben für eine Vergangenheit oder für eine Zukunft, sind aber ohne Gegenwart. Das gelte fürs Volk wie für die Intellektuellen. »Die russische Literatur zerquetscht die Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft.«
29. Oktober 1990
Die SU wertet kraft Verordnung von Gorbatschow den Rubel ab und räumt ausländischem Kapital auch ohne die bislang geforderte sowjetische Beteiligung die Wirkungsmöglichkeit ein. Wjatscheslaw Kostikow schreibt in einem Kommentar in »Sowjetunion heute«: »Somit ist die Frage, ob die jetzige Generation der Sowjetbürger vielleicht im Kapitalismus leben wird, keineswegs gegenstandslos. […] Die akzeptabelste Bezeichnung für die Gesellschaft, die unter großen Qualen aus den Ruinen des sowjetischen Totalitarismus erwächst, wäre sicherlich Rechtsstaat. […] Der Sozialismus als hohes humanistisches Ideal existiert und wird existieren.« – Er wird in die Transzendenz verbannt. Das Diesseits liefert sich dem Kapitalismus aus.
30. Oktober 1990
In der SU scheint die Rede von der »Auflösung des letzten Imperiums« eine Art von Realität zu erhalten. Jede erdenkliche ethnisch-linguistische Unterscheidung wird nun zum Titel national-staatlicher Verselbständigung. Die Not des Nicht-mehr-und-noch-nicht führt zum Rette-sich-wer-kann. Dabei fragt sich jeder, wann und wie die militärische Zwangsgewalt auf den Plan tritt. Gorbatschow vor dem Dilemma, unabkömmlich zu sein und wegzumüssen, um Kredite zu beschaffen.
Lew Kopelew hat gestern in Köln gesagt, ein totaler Zusammenbruch Russlands »wäre verderblicher als tausende Tschernobyl-Katastrophen und würde verderblicher für alle Völker in Ost und West auf dem ganzen Planeten sein«. Der praktische Sinn dieser apokalyptischen Warnung ist es, Hilfe fürs Überstehen dieses Winters zu mobilisieren.
Die FAZ (Jens Jessen) beschreibt das Schicksal, das die neue »Normalität« den deutschen Schriftstellern bereitet: »Die Äußerungen der Autoren, mögen sie noch so polemisch sein, sinken zurück in jenes Stimmengewirr, von dem eine pluralistische Gesellschaft ohnehin beherrscht wird.« Soll heißen: das in einer pluralistischen Gesellschaft herrscht, die ohnehin hinterrücks beherrscht wird.
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Mörike, Maler Nolten. – Ich staune beim Wiederlesen, wie wenig mir früher die sonderbare Behandlung der Geschlechterverhältnisse und der »Liebe« zwischen Männern aufgefallen ist. Larkens redet den Maler an mit »Liebling meiner Seele« (II.30). Danach arg idyllisch bei Agnes. Die Volker-Geschichte: er wollte nichts von Frauen wissen, wie seine Mutter einst nichts von Männern: der Wind hat ihn mit ihr gezeugt (77). Der Präsident, der mit seiner Frau eine Hassbeziehung unterhält, fragt sich, »warum jenes namenlose Weh, das alle Mannheit, alle Lust und Kraft der Seele bald bänglich schmelzend untergräbt, bald zornig aus den Grenzen treibt, warum doch jene Heimatlosigkeit des Geistes […] das Erbteil herrlicher Naturen sein muss?« Dann verabschiedet er sich von Nolten mit den Worten: »Schlafen Sie wohl! Lieben Sie mich!« (115) – Die »Bildung« bei Mörike als Quer-Ordnung geschildert, weil sie Stützpunkte unter den Reichen hält. Larkens geht unter Handwerker (Arbeiter), ja, er geht ins Proletariat. Dort zu leben, ist wie eine Verkleidung. Aber warum bringt er sich um? – Auch die Frauen merkwürdig umgetrieben: Margots Leidenschaft für Agnes. Elsbeth: durch Nacht und Dornen »keuchte sehnende Liebe«. Das Liebesverlangen bringt die Menschen fatal überkreuz. »Das Unerträgliche, das Fürchterliche dabei ist, dass hier weder Vernunft noch Gewalt etwas tun können.« (161)
31. Oktober 1990