Название | Jahrhundertwende |
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Автор произведения | Wolfgang Fritz Haug |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548625 |
Gorbatschow vermerkt bei den, »wie man sagt, ›einfachen‹ Genossen, Arbeiter, Bauern, Intellektuellen sowie Sekretäre der Grundorganisationen der Partei das meiste Verständnis für die Ungewöhnlichkeit und Neuartigkeit der Situation […]. Obwohl die Definition ›einfache‹ ja noch aus ›jener Zeit‹ stammt, und ich hätte sie wohl nicht gebrauchen sollen.« – Er denkt nur den Gegensatz zur Nomenklatura, nicht von Gramsci her.
Im Blick auf die neue Arbeiterbewegung akzeptiert er die Kritik am nachhinkenden Reagieren auf diese: »Die Parteikomitees, u.a. das ZK, sind daran schuld, dass sie […] sich ihre Haltung zu den entstehenden neuen Formen der Arbeiterbewegung zu lange überlegt haben.« Auch räumt er ein, »dass wir in den zwischennationalen Beziehungen vieles übersehen und Zeit versäumt haben«, lässt das aber nicht einseitig auf der Führung sitzen: »Wir […] alle zusammen – geben Sie das endlich zu [Beifall] – haben gedacht, in dieser Beziehung sei bei uns alles in Ordnung.«
Zur Kritik an der Nichteinmischung der SU in Osteuropa: »Was denn, wieder Panzer, wieder schöne Lehren, wie man zu leben hat?«
Ideologie. – »Dieser Bereich […] wurde vermutlich der heftigsten Kritik ausgesetzt.« Eine Schwierigkeit sieht er darin, dass viele negative Phänomene nicht nur Hinterlassenschaft der Vergangenheit, sondern »auch ein Ergebnis des ›explosionsartigen‹ Charakters der Freiheit« sind. – »Ideologie« konzentriert sich im Sprachverständnis der KPdSU in diesem historischen Moment auf den Sozialismusbegriff. Dies das Feld der Traditionalisten. Gorbatschow greift folgendermaßen ein: Alles drehe sich darum, was wir unter dem Sozialismus verstehen«. Die »Ideologie des Sozialismus« sei kein Lehrbuch, sondern werde »sich zusammen mit dem Sozialismus selbst in dem Maße herausbilden, in dem wir dazu beitragen, dass das Land satt, geordnet, zivilisiert, geistig reich, frei und glücklich ist«. Den »ideologischen« Tiefstand der auf den ML bestehenden Traditionalisten charakterisiert er damit: Wann immer ein Redner die Fragen philosophisch zu stellen und zu behandeln begann, »verfiel der Saal in Apathie oder er wurde niedergeklatscht«. Das Verlangen nach Wiederherstellung einer verbindlichen Denkordnung bekommt zu hören: »Wir werden es nicht erlauben, alles von den Klassikern Geschaffene in einen neuen ›Kurzen Lehrgang‹ zu verwandeln«.
Ökonomie. – Der Zustand des politischen Akteurs KPdSU ist das eine, die zerreißenden Konflikte und Ungewissheiten über die Umgestaltung des gesamten ökonomischen Mechanismus und aller Verhältnisse in Produktion und Distribution ist das andere, wahrscheinlich viel schwierigere Feld. Gorbatschow unzufrieden damit, dass der Parteitag mit Dreiviertelmehrheit das Wort »Markt« aus dem Namen der Kommission für Wirtschaftsreform gestrichen hat. Die »jähe Wende zu einer radikalen Änderung der Situation in der Volkswirtschaft« werde folglich »nach wie vor nicht verstanden«. Weiterzumachen wie bisher, werde »das Land in den Bankrott führen«.
Demnach tritt er inzwischen für Marktwirtschaft sans phrase ein, sagt er doch auch, deren Vorzüge seien »weltweit erwiesen«, und die Frage bestehe »nur darin, ob unter den Marktverhältnissen eine hohe soziale Sicherheit gewährleistet werden kann«. Die Antwort laute: »gerade die regulierbare [regulierte?] Marktwirtschaft wird es gestatten, den gesellschaftlichen Reichtum so zu vergrößern, dass das Lebensniveau aller steigen wird. Und natürlich haben wir die Staatsmacht in unseren Händen, die […] den Prozess des Übergangs zur Marktwirtschaft nicht ›ausufern‹ lassen« werde. Zwar dürfe man nicht mit den Preisen beginnen, aber die Preisreform sei unvermeidlich.
Trotz meiner Zweifel an der sozialen Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft überzeugen mich die Argumente, die Gorbatschow gegen bestimmte in unserem westlichen Sinn »linke« Kritiken vorbringt. Angesprochen von einem Arbeiter, wann endlich Ordnung herrschen wird und es keine Schieber mehr geben wird, erwidert er: der Markt, und nicht die Polizei, müsse das erledigen. Und noch einmal: Auf die Frage des Sekretärs eines Gebietskomitees: »Können Sie das tun, was Andropow getan hat?«, habe er geantwortet: »Die Bekämpfung des Schwarzmarkts ist zu 80 Prozent eine ökonomische Frage. [Beifall] Wenn es keine entwickelte Wirtschaft gibt, wird sich der Schieber gesundstoßen [Beifall], am Mangel schmarotzen all diese Jobber der Schattenwirtschaft und korrumpierten Elemente.«
Zur Landwirtschaft bekräftigt G nur das x-mal Gesagte: »Veränderung der Produktionsverhältnisse auf der Grundlage der Gesetze über das Eigentum, über den Grund und Boden, über die Pacht, und andrerseits die Hilfeleistung für die Infrastruktur, […] für den Bau von Landmaschinen usw.«. Konfiguration: 1) »allen freiwilligen Entscheidungen freien Spielraum zu gewähren«; 2) den Austausch Stadt-Land ins Gleichgewicht zu bringen; 3) die Lebensverhältnisse auf dem Land zu verbessern; 4) Ökologie gleichrangig mit Lebensmittelproduktion. – Wunderbar, aber im Sinn von Wunder verlangend. »Von daher wurde deutlich, dass die Macht eines Präsidenten gebraucht wird«.
13. Juli 1990
Gestern Abend erklärte Jelzin im Großen Saal des Kreml seinen Parteiaustritt, sehr wirksam, vor laufenden Fernsehkameras, man hätte eine Nadel fallen hören. Dann verließ er den Saal. Empörte Rufe: »Schande, Schande«, plötzlich sehr müde wirkende Gesichter. Die Demokratische Plattform hat sich nun abgespalten und konstituiert sich als eigne Partei. Jelzin erklärte, als russischer Präsident müsse er überparteilich sein, Präsident aller Russen, der sich nicht an die Linie der KPdSU binden könne. Er hat damit weiteren Wind aus Gorbatschows Segeln genommen.
Gestreikt wurde auch in Workuta, wo Arbeiter ihre Parteibücher in einen großen Papiersack warfen.
FAZ-Reißmüller: »Nur wenn die Partei nicht mehr der Staat ist, kann der Leninismus absterben, das Grundübel in der Sowjetunion.«
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Die FAZ setzt ihre auf Säuberung der DDR-Universitäten gerichtete Serie fort: Ralf Georg Reuth (»Weiter auf antikapitalistischem Weg. Die PDS-Gesellschaftswissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität geben nicht auf«) stellt vor allem Heinrich Fink an den Pranger. Er steht im Wege als widerständiges, weil unbelastetes Element. Dieter Segert wird an zweiter Stelle angegriffen, an dritter Michael Brie, der aber mit seinem Bruder André verwechselt und zum Wahlkampfleiter der PDS erklärt wird. Brie habe Kontakte zu Markus Wolf, wird mitgeteilt, als ob das Stasi bedeute. Dieter Klein kriegt vorgehalten, auf dem SEDParteitag vom Dezember 1989 eine wirkliche Herrschaft des Volkes, nicht eine bloße Westkopie angestrebt zu haben.
14. Juli 1990
Außer Gorbatschow und Iwaschko lauter Neue im Politbüro gewählt. Schewardnadse nicht. In der FAZ interpretiert Werner Adam es als eine Art Halbherzigkeit, fast Feigheit, dass Gorbatschow »sich nicht dazu durchringen mochte«, die sozialistische Wahl zu widerrufen und zum Kapitalismus überzugehen.
15. Juli 1990
Laut Fernsehen 400 000 auf dem Platz der Manege. Keine Rede, in der die KPdSU nicht »verbrecherisch« genannt wurde. Ihre Führer sollen vor Gericht gestellt, ihr Eigentum beschlagnahmt werden. Gorbatschow habe sich zu den »Konservativen« geschlagen. Durch seinen Austritt scheint Jelzin diese Deutung festgelegt zu haben.
Später ein Bericht über sowjetische Faschisten, schwarz uniformiert, vom Popen gesegnet, mit Judenhass und Zarenemblemen. Sie sehen tatsächlich den unsrigen ähnlich und wünschen auch, mit diesen in Kontakt zu treten. Juden verlassen zu Zehntausenden das Land, in Israel eine Wohnungskrise.
16. Juli 1990
In seinem Schlusswort sagte Gorbatschow, dies sei nicht der letzte Parteitag der KPdSU und nicht ihr Begräbnis, wie vorhergesagt worden war. »Die Kommunistische Partei lebt und wird leben. Sie wird ihren historischen Beitrag zum Fortschritt des Landes und zum Fortschritt der