Jahrhundertwende. Wolfgang Fritz Haug

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Название Jahrhundertwende
Автор произведения Wolfgang Fritz Haug
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783867548625



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insgesamt 214 000 Personen.

      Parteitheoretisch: Der Spalt in einer parlamentarischen Partei, die an der Regierung ist; es regiert ja nicht die Partei, sondern ihre Regierungsvertreter regieren, Vertreter hoch 2 oder hoch 3.

      *

      In seinem Rechenschaftsbericht sagte Medwedew, das ZK sei nicht länger ein »Ideologie-Ministerium«. – Jakowlew in seinem Bericht: Die Partei der revolutionären Idee zu einer Machtpartei geworden. Jetzt der Zusammenstoß zwischen der »Idee der Volksmacht und der Praxis der Volksunterdrückung«. Die Wende zur Demokratie sei Jahrzehnte zu spät gekommen.

      Lew Saikow in seinem Bericht: Die gesamte Militärpolitik des Landes wurde vom Politbüro gesteuert. (Merkwürdig, daneben/darunter noch eine extra Regierung zu halten.) Er sprach von der von ihm geleiteten Sonderkommission, die bis vor kurzem nie erwähnt wurde, wo Außenpolitik und die Repressionsapparate aufeinander abgestimmt wurden, wo außer Schewardnadse und Jakowlew u.a. die Chefs von KGB und Armee saßen. Ihre Haupterrungenschaft war der Rückzug aus Afghanistan und die Beendigung des Kalten Kriegs. – Zu den (einseitigen) Abrüstungsmaßnahmen gehört die Öffentlichkeit von vielem, was bislang der Geheimhaltung unterlag.

      Das Problem beim Übergang zur parlamentarischen Daseinsform der KPdSU ist, dass sie nicht mit Mehrheiten bei den Wahlen rechnen kann. Auch hat sie Handlungsfähigkeit einseitig akkumuliert in direkter befehlsadministrativer Machtausübung. Ihre Leute haben nicht gelernt, sich in öffentlicher Konkurrenz durchzusetzen.

      Reflexion am Rande des Parteitags: Das »Persönliche« eine eigenartige Instanz; seine Bedeutung abhängig vom Institutionengefüge und der politischen Kultur des Lebens in diesem Gefüge. Die Mehrheit dieser Delegierten scheint »unter« ihrem Bewusstsein ein großes Verlangen nach dem großen Führer zu spüren. Man muss aufpassen, ein solches Verlangen nicht vorschnell mit Strukturen des »Unterbewussten« zu erklären. Das Geflecht von mittragenden Einlassungen ist noch zu schwach; es fehlt an einem Common Sense, an entsprechenden bewährten Erfahrungen und also auch an Gewohnheiten. Merkwürdig wäre, setzte sich das Verlangen nach einem Volkskönig durch, obwohl es kein politisches Fundament für dieses Volkskönigtum gibt.

      Gorbatschow – Zentrist ohne Zentrum, und doch der einzige Kandidat.

      8. Juli 1990

      »Es wurde demontiert, ohne zugleich aufzubauen.« (ND, 3.7.90) Frank Wehner, Berichterstatter des ND, hält es noch immer für erwähnenswert, »dass kein Beschluss gefasst wurde, ohne dass es Gegenstimmen gegeben hätte«. Auch der Titel gemäßigt-nostalgisch: »Lenin blickt diesmal eher skeptisch in den Saal«. Für »Fehler« in den letzten fünf Jahren habe »die Partei einen hohen Preis zu bezahlen«. Aber was ist mit den sechzig Jahren davor? Begreift nicht, dass ihre Stellung und Funktion der Urfehler. »In scharfem Ton« weist Gorbatschow laut ND die Forderung nach Parteirückzug aus den Repressionsapparaten zurück; unterschlagen wird sein revolutionärer Zusatz, auch alle andern Parteien könnten dort Gruppen aufmachen. Ebenso weggelassen die Frauenfrage und die neue Arbeiterbewegung.

      ND, Titelseite, Herrmann/Wehner unkritisch und konzeptionslos: »Ligatschow setzte sich für die Zusammenarbeit aller marxistisch-leninistischen Kräfte, für den klassenmäßigen Zugang bei der Formierung der Sowjets der Volksdeputierten und eine folgerichtige, stufenweise Verwirklichung der Reformen ein.« Wer, bitte, sind die »marxistisch-leninistischen Kräfte«? Ist der ML denn kein Problem? Was, bitte, wäre ein »klassenmäßiger Zugang bei der Formierung der Sowjets der Volksdeputierten«? Also doch keine freien Wahlen? Und wer spräche im Namen welcher Klassen? Mit welchem Anspruch (Privileg)? Schließlich: was wäre dann »folgerichtig«? Welches wären die »Stufen« und ihre Reihenfolge? Ist denn irgendjemand gegen Folgerichtigkeit als solche und gegen »stufenweise Verwirklichung der Reformen«? Gegen was und wen richtet sich das? Warum werden die Beschwerden gegen die Pressefreiheit nicht berichtet? Nicht der Wink mit Armee und KGB?

      »Schewardnadse, der seine Unterstützung für die Politik Gorbatschows deutlich machte« – was man im ND für mitteilenswert hält! Hier schreibt das Unbewusste, zumindest Ungesagte. – »Aufsehen erregte dessen Bereitschaft, nicht für Leitungsorgane der Partei zu kandidieren«. – Hübsche Bereitschaft. Im Kommentar bezeichnet Frank Wehner die Position Ligatschows als »Sozialismus der reinen Lehre«. Als ob das reine Lehre gewesen wäre.

      Nicht anders der Ton im ND vom 5.7. (Klaus Joachim Herrmann: »von der Klärung zur Klarheit?«): nostalgisch, äußerst ungeklärt selber. Am treffendsten noch, was als absurdes Zeugnis berichtet wird: auf der Demo im Gorkipark ein Transparent: »Es lebe der letzte Parteitag der KPdSU!« – Es ist tatsächlich der letzte.

      An der Kritik, die geübt wird, übersieht der Berichterstatter das positionelle, das Vorentschieden-Indirekte, das Genörgel, das Fehlen wirklicher Analyse und Strategie.

      9. Juli 1990

      Gestern Gorbatschow mit rund 2/3 der Stimmen gewählt: zum ersten Mal direkt und geheim vom Parteitag, also auch nicht mehr durch Palastintrigen im Politbüro absetzbar. Awaliani kandidierte gegen ihn, kein Vertreter der Machtkonservativen.

      12. Juli 1990

      Ligatschow sagte, seine Differenzen mit Gorbatschow beträfen die Taktik, nicht die Strategie. Alle, denen es um die Verteidigung des Sozialismus gehe, sollten sich hinter ihm sammeln. Diese Bewahrungsposition unterminierte er freilich durch die ironische Frage, warum den Sowjetmenschen zugemutet werden solle, nach 70 Jahren des Kollektiveigentums »den Sozialismus durch die Einführung des Privateigentums zu retten«. – Hält er Staatseigentum für Kollektiveigentum?

      1916 Delegierte stimmten dann überraschend für die Streichung Ligatschows aufgrund seiner »konservativen« Ansichten von der Kandidatenliste. Die Streichung wurde zwar wieder rückgängig gemacht, aber der Ausgang war damit klar. Gorbatschows Kandidat, der ukrainische Parlamentspräsident Wolodymyr A. Iwaschko, würde das Rennen machen. Zur Kandidatur war übrigens auch der Karrierist Frolow vorgeschlagen worden.

      Zum Streik scheint Gorbatschow keine konstruktive Position zu finden. Als Lysenko (Demokratische Plattform) beantragte, die Forderung der Streikenden nach Rücktritt der Regierung zu unterstützen, soll Gorbatschow laut FAZ gesagt haben, die »Anstifter« des Streiks hätten ihr Ziel nicht erreicht.

      *

      Wjatscheslaw Kostikow, Kommentator von APN, malt das Bild eines durch den Parteitag schicksalhaft erschütterten Gorbatschow, der als ein anderer hervorgeht, nachdem man ihn der »Demontage des Sozialismus« angeklagt hat. Der Parteitag habe ihn einige Jahre seines Lebens gekostet. Das Wort »Schicksal« liebe er besonders. Er wird mit dem Zaren Boris Godunow verglichen (»und tobend haben sie mich verflucht«), der als Progressiver »seiner Zeit voraus war«. Seit 1985 hätten sich »seine Ideen, Reden, Ansichten, Machtstellung, Wertsystem« »beträchtlich gewandelt«. – Dieser Kommentator lässt einen künftigen präsidialen Würdigungsjournalismus ahnen und verurteilt mich, der ich konzeptionelle Kontinuität bei Gorbatschow sehe, zum Illusionisten.

      *

      Gorbatschow zur Parteitags-Diskussion über seinen Bericht: Scharf gegen Inkompetenz, Flegelei, demagogische Agitation, »gemeine Berechnung« und opportunistische Anpassung an Stimmungen. »Man darf sich nicht von Leuten gängeln lassen, die in der Politik inkompetent sind, das bringt Unglück.« Er spottet über die, welche Vor- und Nachteile auf die Goldwaage legen. »So etwas wie die Perestrojka […] muss man nach neuen, historisch dimensionierten Kriterien einschätzen.« Sein Hauptkriterium: »Befreiung der Gesellschaft«, Freisetzung der »Tatkraft des Volkes«. Dass dabei nicht nur Gutes und Konstruktives an die Oberfläche gekommen ist, »muss man hinnehmen – so ist das nun mal mit der Revolution«. Alle haben noch nicht genügend »gelernt, von der neuen Freiheit Gebrauch zu machen«.

      Was die Verlagerung der Macht in die parlamentarischen Konfliktbearbeitungsorte angeht, registriert er »ein kühles Verhältnis zwischen den Sowjets und der Partei«. Mehr noch: »Bei einem Teil der Deputierten zeichnet sich […] eine Konfrontationshaltung ab.« Viele sind aber auch »einfach verunsichert