Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug. Gottfried Zurbrügg

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Название Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug
Автор произведения Gottfried Zurbrügg
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783960085577



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zurück in die Höhle, ausgestattet mit Büchern und Wissen. Ja, meine Höhle, dachte Scherrer. Dort kann ich verwundbar sein, denn mein Wissen schützt mich.

      Erst in Durlach stieg er aus und bog in die Straße zu seinem Haus ein. Danke, Robert, für das Spiel des Lebens, dachte er, es war so einfach, Sybille zu verführen. Unwillkürlich musste er lachen. Wer weiß, was sie sich vorgestellt hat. Sie war eine Puppe in meinen Armen. Oder war ich der Vampir in den ihren?, fragte er sich. Habe ich Lebenskraft in mich aufgenommen, als ich neben ihr lag und ihre jugendliche Wärme spürte? War es das, was ich gesucht habe? Die Lust eines alternden David, der nicht mehr warm wurde und dem man Abigail als Gefährtin gab? So berichtet es die Bibel. Die Menschen wussten sehr viel um das Geheimnis des Lebens. War sie meine Abigail?

      „Ich war der Handelnde“, sagte er laut. „Ich war der, der ihr Leben gab. Ich war der, der die Fäden in der Hand hielt. Sie hat es genossen. Sie wird nichts bereuen.“

      Er ging die Straße entlang. Ich fahre doch bald wieder los, dachte er, nach Remchingen zu Robert. Es war ihm, als hätte das jemand anders gesagt. „Ja“, sagte er laut. „Ich bin stark genug, auch den Weg zu gehen. Ich habe so viel geschafft. Ich kann noch leben.“

      „Noch“, klang es zurück, „noch blühen die Bäume, auch in diesem April, noch erwacht das Leben.“

      Scherrer sah zu seinem Haus hoch. Glühte da eine Zigarette in seinem Arbeitszimmer? Ein kleiner roter Punkt schien durch die große dunkle Scheibe. „Wartet Dagmar auf mich?“, fragte er sich. „Ich möchte ihr jetzt nicht begegnen.“

      Er blieb auf der Straße stehen. Der rote Punkt verschwand. Sie hat auf mich gewartet. Sie wartet immer noch darauf, dass ich nach Hause komme. Aber mein Weg führt mich weit fort. Ich kehre nicht zu ihr zurück, nur in mein Haus.

      Langsam ging er weiter. Der Morgen kam früh herauf. Die Schatten der Nacht wichen dem Licht eines neuen Tages. Neben der Haustür stand wie immer die Katzengöttin, die er einst aus Ägypten mitgebracht hatte. Scherrer legte seine Hand auf den Katzenkopf aus Granit. Das waren noch Abenteuer. Die Welt war so weit und alles schien erreichbar, dachte Scherrer. Wir hatten die Zukunft vor uns. Alle Wege waren offen. Wir glaubten, die Welt erobern zu können. Aber nun hat sie uns eingeholt.

      Wieder fühlte sich der Katzenkopf eigenartig warm an. Scherrer registrierte es unbewusst und ließ ihn los, um den Schlüssel aus der Hosentasche zu nehmen. Nachdenklich schloss er auf, hielt einen Augenblick inne und lauschte. Wie ein Dieb betrete ich mein eigenes Haus, dachte er. Was habe ich wem gestohlen? Ihr die Jugend? Und die Zeit? Mir ein Stück eigenes Leben? Er lachte leise vor sich hin. Ich wollte noch einmal leben. Habe ich das?

      Es war alles ganz ruhig im Haus. Niemand schien seine Ankunft zu bemerken. Lautlos ging Scherrer über die dicken Teppiche in sein Arbeitszimmer. Leichter Zigarettenrauch hing in der Luft. Dagmar hat auf mich gewartet, dachte Scherrer. Sie hat zwar darauf gewartet, dass ich wiederkomme, aber sie hat den Augenblick der Begegnung nicht gewollt. Es reicht ihr, dass ich im Hause bin. Schwer ließ er sich in die weichen Polster fallen. Eine unbekannte Müdigkeit überkam ihn. Man kann nur ein Stück Leben genießen, dachte er, immer nur ein ganz kleines Stück.

      Die Uhr an der Wand tickte gleichmäßig. Scherrer nahm es im Halbschlaf wahr. Die Zeit anhalten, dachte er, das will ich. Ich will ja nur die Zeit anhalten. Ich will kein ewiges Leben. Ich weiß, dass ewige Jugend nicht möglich ist. Ich will die Zeit anhalten, diese verdammte Zeit anhalten! Der Schlaf hielt ihn schon zu sehr gefangen, als dass er sich noch hätte erheben können.

      „Die Zeit ermöglicht uns Bewegung“, sagte jemand neben ihm. Er spürte die Nähe einer jungen Frau neben sich. Sie war schlank und sehr schön. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen. Es kommt nicht auf das Gesicht an, dachte er. Ein Freund aus Jugendtagen fiel ihm ein, der die Gesichter der jungen Frauen immer mit einem Tuch bedeckte, wenn er mit ihnen schlief. „Es kommt nicht auf die Gesichter an. Der Körper ist wichtig. Nur der Körper.“

      „Wir brauchen den Körper“, sagte die junge Frau neben ihm. „Nur, wenn es einen Körper gibt, der zu uns gehört, können wir Gestalt annehmen. Nur dann können wir uns frei bewegen. Der Körper muss ewig sein.“

      Der Gedanke der alten Ägypter, dachte Scherrer, die Seele kann sich frei bewegen, wenn sie eine Heimat hat, in die sie zurückkehren kann. Wenn sie ein Haus hat, ist das Ka frei. Hat sie es nicht, dann ist sie heimatlos und verweht im Winde.

      „Ist das so falsch?“, fragte die Gestalt neben ihm. „Empfindest du es nicht genauso? Hier ist dein Körper. Nicht du, dein Arbeitsraum, deine Bücher, deine Sammlungen. Sie gehören alle zu dir. Auch du kehrst zurück, um wieder dich selbst zu finden. Du brauchst dein Haus, um deinem Ka die Freiheit geben zu können.“

      Meine Bücher, meine Forschungen, meine Sehnsucht. Nicht dem ewigen Wandel unterworfen zu sein, dachte Scherrer. Träume ich? Verschwimmen Tag und Traum? Ich muss Anneliese anrufen. Sie muss den Brief an die Welt der Wissenschaften weiterschicken.

      „Du musst gar nichts“, sagte die Frau neben ihm. Wie Dagmar, dachte Scherrer, sie würde dasselbe sagen: „Du musst gar nichts.“

      Er wollte aufstehen, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht. Er wollte fortlaufen, aber er kam nicht voran. Natürlich, Serotonin lähmt die Glieder, dachte er. So entstehen Albträume.

      „Das ist kein Traum“, sagte die Gestalt neben ihm. „Du fühlst meine Haut. Du fühlst meine Wärme. Es ist nicht die Wärme der jungen Frau von heute Nacht. Wir sind älter. Wir bestehen durch alle Zeiten.“

      Nur nicht fragen, wer sie ist, dachte Scherrer. Ich will es nicht wissen. Er wagte auch nicht, den Kopf zu drehen.

      „Du würdest es auch nicht verstehen, Scherrer“, sagte sie. „Du bist Wissenschaftler. Du hast deine Skulpturen gesammelt, weil es dir Freude machte, Gegenstände in der Hand zu halten, denen andere Leben eingehaucht hatten. Du hast das Leben gespürt, aber du hattest selber genug Leben, um nur die Kälte des Steins zu fühlen. Nun hast du gemerkt, dass der Stein warm ist.“

      Scherrer verspürte keine Lust, zu diskutieren, und überließ sich dem Schlaf. Die Gegenstände um ihn herum begannen zu leben. Die Katzenstatue vom Eingang seines Hauses, die Göttin Bastet, ging durch den Raum. Er sah die schlanke Figur, den angedeuteten Rock tief auf der Hüfte, aber den Kopf nur von hinten. Es kommt auf den Kopf nicht an, dachte er lächelnd im Schlaf. Es geht um den Körper, nur um den Körper. Geschmeidig schlich Bastet durch den Raum und berührte die kleine Göttin Selekit, die aus ihrem Schlaf erwachte. Ihre goldenen Flügel erhielten schwarz-weiße Federn. Die Flügel begannen zu schlagen, aber Scherrers Augen wurden abgelenkt. Die Kanopen auf dem Bücherregal erwachten. Wieder war es Bastet, die ihnen mit der Hand über den Kopf strich. So wie ich es vorhin getan habe, dachte Scherrer, als ich den Stein zum Leben erweckte. War ihm der Stein nicht warm vorgekommen?

      Zu spät! Scherrer sank tiefer in den Schlaf. Er sah noch, wie sich die Köpfe der Kanopen bewegten, und hörte, wie die Katze sagte: „Wir haben kein Recht, uns in die Welt der Menschen einzumischen. Die Götter und die Menschen leben in unterschiedlichen Zeiträumen. Wir können sie nicht verstehen, und sie verstehen uns nicht.“

      Er hätte zu gern gewusst, was die Kanopen antworteten, aber er hörte sie nicht mehr. Wohlige Dunkelheit umgab ihn.

      Er erwachte, wie es ihm schien, kurze Zeit später. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Morgen erhellte schon den Raum. Alles war an Ort und Stelle. Die kleine Selekit breitete ihre goldenen Flügel aus wie immer. Goldene Flügel, nicht die Farben der Geierflügel, die er im Traum gesehen hatte. Er streckte sich. Seine Glieder schmerzten von der ungewohnten Lage. Die Uhr schlug sechs. Die Zeit anhalten, dachte Scherrer. Mein erster und mein letzter Gedanke. Wenn man das könnte! Ich will keine Ewigkeit. Ich will kein Leben, das hin und her pendelt zwischen der Wirklichkeit und dem Traum. Ich will nicht durch eine Scheintür zwischen den Welten hin und her wandern. Sei es nun eine bemalte Scheintür in einem Grab oder der Bildschirm an meinem Computer, der schwarz wird und trotzdem etwas zeigt, was ich nicht sehen kann. Ich will die Welt der Götter nicht, aber ich will auch nicht im Tod versinken, im Nichts. Ich will nicht vergehen! Die Zeit anhalten! War da nicht Anne Neidhardt mit dem geheimnisvollen