Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug. Gottfried Zurbrügg

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Название Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug
Автор произведения Gottfried Zurbrügg
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783960085577



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stieg in ihm auf, diese Lippen zu küssen. „Dann darf ich Ihnen meine größte Kostbarkeit zeigen?“, fragte er und erhob sich.

      Neugierig stand auch Anne auf. In dem Augenblick klopfte es an der Tür. „Herein“, rief Scherrer ungehalten. Das Hausmädchen erschien mit einem silbernen Tablett, auf dem Teller mit duftenden Pastetchen standen.

      „Ist es jetzt recht?“, fragte sie, als sie die Teller auf den Tisch stellte. „Sie haben es so bestellt.“

      „Ist gut“, sagte Scherrer, „vielen Dank, Irmgard.“ Er wartete, bis Anne sich wieder gesetzt hatte. Die Zeit ist schlecht gewählt, ärgerte er sich, während er aus dem Königskopf eine Flasche Wein holte. Aber er fing sich rasch, entkorkte die Flasche und sagte: „Ein zarter Rosé-Wein von den Tübinger Hängen. Ich hoffe, Sie mögen so etwas.“

      Anne nickte überrascht und ließ ihn einschenken. Scherrer hob das Glas, um mit ihr anzustoßen, da begann er zu husten. Er versuchte noch, sein Glas auf den Tisch zu stellen, doch der Husten ließ es nicht mehr zu. Schnell nahm Anne ihm das Glas ab, aber Wein tropfte auf den Tisch. Scherrer nickte dankend und bemühte sich, Luft zu bekommen. „Bitte!“, keuchte er und deutete auf den Tisch mit der Leselampe. Anne sah eine kleine Spraydose, sprang auf und holte sie. Scherrer rang um Luft, nahm das Spray und sprühte es in den Rachen. Das Medikament entfaltete rasch seine Wirkung und Scherrer konnte nach und nach wieder ruhiger atmen. „Entschuldigen Sie“, sagte er immer noch atemlos, „es ist mir furchtbar peinlich, aber der Husten lässt mich einfach nicht mehr los.“

      „Waren Sie schon beim Arzt?“, fragte Anne besorgt.

      „Mein Hausarzt hat mir das Spray gegeben“, antwortete Scherrer, der sich sichtlich besser fühlte, „damit bekomme ich so einen Anfall gut unter Kontrolle.“

      Was man sieht, dachte Anne. Männer! Bestimmt war er nicht beim Arzt. Aber das war nicht ihr Problem.

      Scherrer griff hinter die Lehne des Sofas und läutete. Sofort erschien das Hausmädchen. „Irmgard, würden Sie bitte den Tisch abwischen?“, sagte Scherrer und zu Anne: „Aber setzen Sie sich doch. Der kleine Zwischenfall sollte uns den Abend nicht verderben.“

      Irmgard nahm die Teller zur Seite, wischte mit einem Tuch den Tisch ab und stellte die Teller wieder hin. Dann verließ sie diskret den Raum. Anne setzte sich vorsichtig und Scherrer wartete, bis sie die Gabel nahm, um die Pastetchen zu probieren.

      „Es gibt wenige Frauen, die ägyptische Kunst wirklich verstehen“, sagte Scherrer. „Auch wenige Männer“, fügte er lächelnd hinzu. „Sehen Sie“, dabei zeigte er auf seine große Bücherwand, „die Hälfte meiner Literatur beschäftigt sich mit Gentechnik und die andere Hälfte mit Kunst, Mystik, Philosophie und eben auch Ägypten. Eigentlich zwei widersprüchliche Fachgebiete, und doch habe ich das Gefühl, sie würden zusammengehören.“

      Anne probierte die Pastetchen. Sie waren ausgezeichnet.

      „Viele meiner Kollegen sind der Meinung“, fuhr Scherrer fort, „dass moderne Gentechnik und Ägypten überhaupt nicht zusammenpassen würden, und belächeln mein Hobby. Aber ich glaube, dass die alten Ägypter wesentlich mehr wussten oder ahnten, als wir bisher entschlüsselt haben.“

      „Das denke ich auch“, bestätigte Anne und nahm einen Schluck Wein. „Ich bewundere den Papyrus über Ihrem Schreibtisch im Büro. Die Szenen sind so lebendig, als wären sie erlebt und nicht erdacht.“

      „Dann freue ich mich darauf, Ihnen meine größte Kostbarkeit zu zeigen“, sagte Scherrer begeistert. „Aber erst wollen wir essen.“ Er selber griff herzhaft zu und genoss die Pasteten.

      Nach dem Essen griff er hinter die Lehne und läutete. Geduldig wartete er, bis Irmgard abgeräumt hatte und Gebäck auftrug. Sie stellte neue Weingläser hin. Scherer stand auf und entnahm dem König eine neue Flasche. Als Irmgard gegangen war, sagte er: „Kommen Sie. Ich bin neugierig, was Sie dazu sagen.“

      Anne stand auf und sah verstohlen auf die Uhr. Fast zwei Stunden war sie schon in der Wohnung und es versprach, eine lange Nacht zu werden. Scherrer stellte die Weinflasche auf den Tisch und ging in eine Ecke des Raumes, die geheimnisvoll im Dunkeln lag. Neugierig folgte ihm Anne. Er beugte sich zu einem Gegenstand hinunter, der auf dem Boden lag. Der Husten begann wieder. Eine Mahnung daran, dass Krankheit und Tod immer nahe sind, dachte er. Hoffnung liegt nur in der Unsterblichkeit. Ob sie das verstehen wird?

      Vorsichtig hob er den Sarkophag und hielt ihn ins Licht. Erschrocken zuckte Anne zurück, als ihr ein ägyptischer König in die Augen sah. Augen und Mund wirkten so lebendig, als wolle er im nächsten Augenblick etwas sagen.

      „Habe ich Sie erschreckt?“, fragte Scherrer amüsiert. „Das wollte ich nicht. Es ist ein Sarkophag, der für ein Königsgrab gedacht war. Er wurde nie benutzt, deshalb durfte ich ihn auch mitnehmen. Zeigen möchte ich Ihnen aber das hier. Kommen Sie bitte.“

      Anne trat näher, ihr Gesicht war jetzt ganz nah neben dem seinen. Sie spürte den feinen Duft seines Rasierwassers. Er war ganz auf die Schriftzeichen konzentriert.

      „Können Sie es sehen?“, flüsterte er, als verrate er ein großes Geheimnis.

      Anne schaute genau hin. „Es sind Abbildungen aus dem Totenbuch“, antwortete sie.

      „Genau“, bestätigte Scherrer, dicht neben ihr. Gleich wird er mich küssen, dachte Anne, aber Scherrer war ganz in die Bilder und Zeichen vertieft. „Es ist mehr“, flüsterte er. „Ich glaube, in diesen Symbolen ist das Geheimnis des Todes verborgen. Wenn wir sie erst einmal lesen können, sind wir dem größten Geheimnis der Menschheit einen Schritt näher. Als ich diesen Sarkophag aus Ägypten mitnehmen wollte, ist mir etwas Eigenartiges passiert.“

      Scherrer schwieg. Seine Gedanken waren wieder bei jenem seltsamen Tag in Luxor.

      Der Zoll war die eigentliche Klippe, nicht die Wüste. Das wurde ihm klar, als ihn die Sprechanlage ausrief. „Dr. Scherrer zum Zoll, Dr. Scherrer aus Tübingen zum Zoll!“

      Verhaftung?, dachte Scherrer und sah sich um. Die Reisenden warteten auf ihre Abfertigung, als sei das nichts Besonderes. Noch blinkten nicht die Lichter, die das Einchecken anzeigten. Niemand beachtete ihn. Nebeneinander standen oder saßen Menschen aus allen Nationen, aber sie nahmen keine Notiz voneinander. Suche ich etwa Hilfe?, dachte Scherrer. Suche ich ein Gesicht, an dem ich mich festhalten kann?

      „Sind Sie Dr. Scherrer aus Tübingen?“, fragte eine junge Stimme hinter ihm. Erstaunt drehte sich Scherrer um. Da stand eine schlanke, junge Frau in blauer Dienstuniform. Irgendetwas irritierte ihn. Vielleicht der mandelförmige Augenschnitt, das breite Gesicht oder dass sie die Haare unter einem Kopftuch verborgen trug und nicht das blaue Schiffchen im Haar hatte wie ihre Kolleginnen. „Ich bringe Sie zum Zoll“, sagte sie. „Es gibt Schwierigkeiten.“

      „Kennen wir uns?“, fragte Scherrer. Sie lächelte höflich über die plumpe Anmache. „Ich meine das nicht so“, stotterte Scherrer und ärgerte sich über sich selbst. „Ihr Gesicht.“

      „Was ist damit?“ Jetzt sah ihn die junge Frau erstaunt an. „Es kommt mir so bekannt vor, als hätte ich Sie schon einmal gesehen“, antwortete Scherrer. „So ein Gesicht vergisst man nicht.“

      „Soll das ein Kompliment sein?“, fragte die junge Frau und fuhr leise fort: „Man wird auf uns aufmerksam. Ich will Ihnen helfen. Stellen Sie keine weiteren Fragen. Überlassen Sie alles mir. Jetzt folgen Sie ganz unauffällig.“

      Sie wandte sich ab und ging mit raschen Schritten durch die Halle voraus. Viele Blicke folgten ihr. Scherrer sah sich um und beeilte sich, ihr zu folgen. Kein Aufsehen, dachte er, aber das ist doch Hathor, die Göttin! Das flache Gesicht mit den mandelförmigen Augen. Das kann nicht sein! Trägt sie ein Kopftuch, damit man ihre Ohren nicht sieht? Ich war zu lange in Ägypten und seine Götter verfolgen mich nun.

      Als habe sie seine Gedanken erraten, drehte sich die junge Frau um. „Wir haben gemeinsame Interessen. Das haben Sie gespürt und deshalb glauben Sie, mich zu kennen“, sagte sie. „Gehen Sie neben mir, dann fallen Sie weniger auf.“

      Scherrer hielt