Название | Buchstäblichkeit und symbolische Deutung |
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Автор произведения | Matthias Luserke-Jaqui |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772002151 |
Der Zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug ist ein analytisches Drama, das bedeutet, dass die Tat bereits zu Beginn des Textes geschehen ist und nun Schritt für Schritt im Wechselspiel von Rede und Gegenrede aufgedeckt wird. Sein großes weltliterarisches Vorbild hierfür findet Kleist in der griechischen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte. Bereits in der „Vorrede“ zum Stück verweist er auf Kreon und Ödipus, die beiden Hauptfiguren von SophoklesSophokles’ Tragödie König ÖdipusKönig Ödipus. Die Komik ergibt sich nun aus den dramatischen Verwicklungen, die der Autor um das Dingsymbol des zerbrochenen Krugs gruppiert. Der unangemeldete Revisionsbesuch durch Gerichtsrat Walter dient gleichsam als Katalysator, der das Spannungsgeschehen steigert und am Ende Dorfrichter Adam als gesuchten Täter entlarvt. Frau Marthe Rull klagt vor dem Dorfgericht wegen der Zerstörung ihres Krugs und löst mit ihrer Klage erst die Ermittlungen aus, die zugleich eine andere Tat aufdecken. Ihre Tochter Eve hatte nämlich unerlaubterweise nächtlichen Besuch, und ihr Verlobter Veit wird nun beschuldigt, Eve besucht und dabei den Krug zerstört zu haben. Die Leser wissen schon sehr bald, dass der Verdacht auf Richter Adam fallen muss, so dass sich also die Lesespannung nicht auf die Frage richtet, wer war der Täter, sondern darauf, wie wird die Tat aufgeklärt?
4.) Die sehr differenziert gezeichneten Charaktere des Textes veranschaulichen bestimmte menschliche Verhaltensweisen. In der Lektürearbeit kann die Rekonstruktion von Figurencharakterisierungen und die Übertragung in das wirkliche Leben der Schüler geübt und deren Wahrnehmungs- und Sprachvermögen erweitert werden. Beobachtungsgabe, sprachliches Differenzierungsvermögen, Sprech- und Schreibkompetenz der Schüler, kurz allgemeine kognitive Fähigkeiten werden hierdurch gefestigt.
5.) Die Reihung dieser Argumente eröffnet den Blick auf die Themenvielfalt von KleistsKleist, Heinrich von Komödie, die der Text offeriert: Respekt, Autorität, Obrigkeit, Macht, Willkür etc. Sie zu erarbeiten und zu bewerten erfordert ein genaues Textverständnis. Die Macht der List wird von Adam anfänglich ebenso repräsentiert wie sie zum Ende hin von Walter bestätigt wird. Die Frage danach, worin das Delikt Adams eigentlich besteht, öffnet die Wahrnehmung der Schüler für die Rolle der Frau im Text wie in der historischen Wirklichkeit Kleists. Die Frage nach den GeschlechterrollenGeschlechterrollen kann intensiv und gegenwartsbezogen diskutiert werden, ebenso die Rolle des Gefühls und die tabuisierte SexualitätSexualität.
Dorfrichter Adam verkörpert die Verbindung von Verdacht und Verdächtigung, und es stellt sich die Frage, ob Adam prinzipiell zur Einsicht fähig ist und seine Flucht Ausdruck seines Unrechtsbewusstseins ist oder als Schuldeingeständnis im moralischen und juristischen Sinn gilt.
Schließlich erlaubt der Zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug auch eine mediendidaktischeMediendidaktik Lektüre. Wohl kaum ein Text der Literatur des 19. Jahrhunderts eignet sich hierzu besser als Kleists Lustspiel. Dies hat seine Ursache in der banalen Tatsache, dass diese Komödie seit vielen Jahrzehnten zum festen Bestand der Spielpläne deutschsprachiger Bühnen gehört und bereits mehrmals verfilmt wurde. Am Beispiel der verfilmten Theaterinszenierungen lässt sich sehr konkret in einen verantwortungsvollen Umgang mit medial transformierterTransformation Literatur und in Fragen der MedienästhetikMedienästhetik einführen. Die ursprüngliche Textarbeit hat sich nun unter diesem Gesichtspunkt zur Theaterarbeit erweitert und beginnt Medienarbeit zu werden. Damit stellt sich ein zeitgemäßer DeutschunterrichtDeutschunterricht auch den Erfordernissen des gesellschaftlich-historischen Wandels der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Und wenn ein Text sich für diese Transformationsarbeit eignet, mag dies nicht zuletzt auch als ein Zeichen von Klassizität gewertet werden in dem Sinne, dass Textverwandlung und Textanverwandlung in der RezeptionRezeption durch Lehrer und Schüler zur Deckung gebracht werden können. Damit eignet sich Kleists Zerbrochner Krug auch zur grundsätzlichen Diskussion von KanonKanon und Klassizität historischer Texte und sollte seinen festen Ort als Schulklassiker beharrlich verteidigen.
6.) Und schließlich erlaubt der Autorname KleistKleist, Heinrich von auch, mit den Schülerinnen und Schülern den namensgleichen und heute vergessenen Vertreter der Poetae minores zu erarbeiten, die Rede ist von Franz Alexander von KleistKleist, Franz Alexander von (1769–1797)3. Dieser Kleist machte sich vor allem als Lyriker einen Namen. Er war ein entfernter Verwandter Heinrichs von Kleist und stammte aus einer Offiziersfamilie. 1785 trat er mit 16 Jahren in den Heeresdienst ein. Im Frühjahr 1790 begann er das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Göttingen, ab Jahresende 1790 war er als Legationsrat im diplomatischen Dienst tätig. Franz Alexander von Kleist heiratete im Dezember 1791 Albertine von Jung, quittierte aus gesundheitlichen Gründen den Staatsdienst und lebte seit 1792 als Privatier. Er veröffentlichte zahlreiche Gedichte mit historischen und mythologischen Themen, die meisten erschienen in Zeitschriften. Nur ein geringer Teil davon wurde in seine Vermischten SchriftenVermischte Schriften (A. v. Kleist) (Berlin 1797) aufgenommen. Das Denkmal Deutscher Dichter und DichterinnenDenkmal Deutscher Dichter und Dichterinnen4 ist eine Art MikroliteraturgeschichteMikroliteraturgeschichte in Form einer ‚historisch-lyrischen Dichtung‘, die der Verbreitung patriotischer Stimmung dienen sollte. In seiner Ode an die Deutschen, bey denen französischen UnruhenOde an die Deutschen, bey denen französischen Unruhen5 rief Franz Alexander von Kleist am 24. Oktober 1789 noch zum bewaffneten Widerstand gegen die Revolutionäre auf, doch änderte sich das nach 1791. Nun sympathisierte er im Rahmen eines aufgeklärten Absolutismus durchaus mit der Französischen RevolutionFranzösische Revolution. Sein Reisetagebuch Fantasien auf einer Reise nach PragFantasien auf einer Reise nach Prag (Dresden, Leipzig 1792. Neudruck Heilbronn 1996) enthält neben elegischen Naturbeschreibungen und einer deutlichen Fürsten- und Priesterkritik auch bestechende sozialkritische Urteile. Im Anhang zu Sappho. Ein dramatisches GedichtSappho. Ein dramatisches Gedicht (Berlin 1793) schreibt Franz Alexander von Kleist und nimmt damit SchillersSchiller, Friedrich Programm einer ästhetischen Erziehung des Menschen vorweg: „Es ist gewiss, je mehr ästhetische Empfänglichkeit ein Volk besitzt, desto weniger wird es sich unterdrücken lassen, weil es die gegenseitigen Pflichten dann schon erkennen gelernt hat und jede Ungerechtigkeit doppelt fühlt“6. Franz Alexander von KleistKleist, Franz Alexander von galt als Hoffnungsträger der deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts.7 An seinem Beispiel können die kulturgeschichtlichenKulturgeschichte Faktoren von ProduktionProduktion, DistributionDistribution, RezeptionRezeption und TransformationTransformation von Literatur diskutiert werden, die darüber entscheiden, ob, wann und wie ein Autor zum Klassiker geadelt wird und Eingang findet in den Olymp der LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte.
Friedrich Hebbel Maria MagdalenaMaria Magdalena (1844)
In seinem Epigramm Selbstkritik meiner DramenSelbstkritik meiner Dramen schreibt Friedrich HebbelHebbel, Friedrich (1813–1863), nicht ohne ironischen Unterton:
„Zu moralisch sind sie! Für ihre sittliche Strenge
Stehn wir dem Paradies leider schon zu lange fern
Und dem jüngsten Gericht mit seinen verzehrenden Flammen
Noch nicht nahe genug. Reuig bekenn ich euch dies.“1
Demzufolge nun Gewalt statt KatharsisKatharsis im Sinne eines Paradigmenwechsels als Grundlage einer Dramenanalyse zu erproben, ist eine provokante Formulierung, auch wenn der Begriff des Paradigmenwechsels gleichwohl interrogativ abgeschwächt ist. Doch der Zusammenhang erhellt sich, wenn man die Nikomachische EthikNikomachische Ethik heranzieht. Darin schreibt AristotelesAristoteles im zehnten Buch, dass die LeidenschaftLeidenschaften nicht dem Wort (λόγος), sondern nur der Gewalt weiche (vgl. Nikomachische Ethik 1179 b 27). Diese Gewalt repräsentiere nicht das Gebot des Vaters, sondern das Gesetz, das ein Ordnungsprinzip darstelle, welches auf sittlicher Einsicht und