Der Konformist. Alberto Moravia

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Название Der Konformist
Автор произведения Alberto Moravia
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783803143280



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Kopf schlug er wütend um sich, aber die fünf zusammen waren natürlich stärker als er. Zwar gelang es ihm, einem das Gesicht zu zerkratzen, einem anderen einen Fausthieb in den Magen zu versetzen; aber er spürte doch, wie seine Bewegungsfreiheit immer weiter eingeengt wurde. »Laßt mich … ihr Idioten! Laßt … mich …!« stöhnte er. Daraufhin stießen seine Peiniger ein Triumphgeschrei aus, denn das Röckchen glitt über Marcellos Kopf. Seine Proteste verloren sich wie in einer Art Sack. Er strampelte ohne Erfolg. Geschickt schoben die Jungen den Rock immer weiter herunter, bis er auf den Hüften saß. Dann spürte Marcello, wie sie in seinem Rücken die Bänder knoteten.

      Auf einmal hörte er eine ruhige Männerstimme, die mehr neugierig als vorwurfsvoll fragte: »Darf man wissen, was ihr da treibt?« Sogleich ließen die fünf von Marcello ab und liefen davon. Er fand sich plötzlich allein – noch keuchend und blutrot im Gesicht, den Rock fest um die Hüften gebunden. Er hob den Blick und sah vor sich den Mann stehen, der die Kameraden vertrieben hatte. Der Unbekannte trug eine dunkelgraue Uniform mit hochgeschlossenem Kragen, war bleich und hager, hatte tiefliegende Augen, eine große traurige Nase, einen verächtlichen Ausdruck um den Mund und Haare im Bürstenschnitt. Auf den ersten Blick wirkte er beinahe übertrieben streng, dann aber entdeckte Marcello einige Züge an diesem Fremden, die alles andere als streng waren: etwas Weiches, Verlebtes in den Mundwinkeln, eine Unsicherheit der ganzen Haltung.

      Jetzt bückte sich der Unbekannte, hob die Bücher auf, die Marcello während des Kampfes hatte zu Boden fallen lassen, reichte sie ihm und fragte:

      »Was wollten sie dir denn antun?«

      Seine Stimme schien zwar genauso streng zu sein wie sein Gesicht, doch hörte Marcello aus dem Ton des Fremden eine mühsam zurückgedrängte Weichheit heraus. Gereizt antwortete er: »Sie treiben immer ihren Unfug mit mir, diese Idioten!« Zugleich bemühte er sich, den Knoten des Röckchens auf seinem Rücken zu lösen.

      »Warte«, sagte der Mann, bückte sich und knöpfte den Knoten auf. Der Rock fiel zu Boden, Marcello stieg heraus und beförderte ihn mit einem Fußtritt auf den nächsten Blätterhaufen.

      Irgendwie schüchtern erkundigte sich der Mann: »Du wolltest wohl gerade nach Hause gehen?« Marcello sah zu ihm auf und antwortete: »Ja.«

      »Schön«, sagte der Mann, »ich bring dich heim. Im Auto.« Er deutete nach einem großen Wagen, der in einiger Entfernung am Rand des Gehsteigs geparkt war. Marcello besah sich den Wagen. Es war eine Marke, die er nicht kannte, vielleicht eine ausländische. Das Auto war lang, schwarz und sah altmodisch aus. Marcello überlegte, ob der Mann nicht vor der Annäherung mit Absicht den Wagen dort drüben geparkt habe. Der Knabe zögerte mit der Antwort. »Komm«, drängte der Mann, »los! Ich mache mit dir eine schöne Spazierfahrt. Und dann bring ich dich heim. Ist dir das recht?«

      Marcello wollte ablehnen, denn er spürte, daß er eigentlich ablehnen müsse. Doch er kam nicht mehr dazu, den Mund aufzumachen. Der Mann nahm ihm das Bücherpaket einfach aus der Hand und sagte: »Das trag ich dir.« Darauf ging er auf das Auto zu. Marcello folgte ihm, etwas betroffen von der eigenen Fügsamkeit, doch nicht lustlos. Der Mann öffnete den Schlag, warf die Bücher auf den Rücksitz, setzte sich ans Lenkrad, bedeutete Marcello, neben ihm Platz zu nehmen. Dann schloß er den Schlag, streifte Handschuhe über und ließ den Motor an.

      Majestätisch, ohne Hast, glitt der Wagen leise surrend die baumbestandene Allee entlang. Es ist wirklich ein Wagen alten Typs, dachte Marcello, doch vorzüglich gehalten, mit Liebe blank geputzt. Die Metallteile blitzten. Der Mann hielt das Lenkrad mit der einen Hand und griff mit der anderen nach einer Schirmmütze, die er aufsetzte. Die Mütze verstärkte sein strenges Aussehen noch, gab ihm nahezu einen militärischen Anstrich.

      Verlegen fragte Marcello: »Gehört der Wagen Ihnen?«

      »Kannst ruhig ›du‹ zu mir sagen«, erwiderte der Mann, ohne Marcello anzublicken. Er hupte, und das Signal klang ebenso ernst und altmodisch, wie der Wagen aussah. »Nein, der gehört nicht mir. Er gehört meinem Brotgeber. Ich bin der Chauffeur.«

      Marcello antwortete nicht. Der Mann, dessen Gesicht nur im Profil zu sehen war, lenkte den Wagen mit gelöster, eleganter Präzision und fragte: »Bist du enttäuscht, daß ich nicht der Besitzer bin? Schämst du dich?«

      Marcello protestierte lebhaft: »Aber nein. Warum sollte ich?«

      Der Mann lächelte befriedigt und beschleunigte das Tempo. »Jetzt fahren wir ein wenig auf den Berg«, sagte er. »Auf den Monte Mario. Ist’s recht?«

      »Dort bin ich noch nie gewesen«, erwiderte Marcello.

      Der Mann sagte: »Dort ist es schön. Man hat einen Blick über die ganze Stadt.« Nach einem Augenblick des Schweigens fragte er sanft: »Wie heißt du?«

      »Marcello.«

      »Ja«, sagte der Mann zu sich selbst. »Stimmt. Deine Kameraden riefen dich Marcellina. Ich heiße Pasquale.«

      Als Marcello gerade dachte, daß Pasquale ein lächerlicher Name sei, sagte er Mann: »Das ist aber ein lächerlicher Name. Nenne mich Lino.« Es schien, als habe der andere seine Gedanken erraten.

      Jetzt durchquerte das Auto die breiten schmutzigen Straßen eines Vorstadtviertels mit häßlichen Mietskasernen. Gruppen von Gassenjungen, die mitten auf der Fahrbahn spielten, stoben zur Seite. Vom Gehsteig aus schauten zerraufte Frauen und Männer in zerfetzter Kleidung dem ungewohnten Wagen nach. Beschämt durch das Verhalten dieser Menschen schlug Marcello die Augen nieder. »Das ist der Testaccio«, sagte der Mann. »Aber gleich kommen wir auf den Monte Mario.« Der Wagen verließ das armselige Viertel und fuhr nun auf einer breiten Straße hinter einer Straßenbahn her. Die Häuserreihen zu beiden Seiten stiegen, wie die Straße mit ihren dauernden Kurven, empor.

      »Um wieviel Uhr mußt du daheim sein?«

      »Ich habe Zeit«, antwortete Marcello, »Vor zwei Uhr essen wir nie.«

      »Wer erwartet dich daheim? Vater und Mutter?«

      »Ja.«

      »Hast du auch Geschwister?«

      »Nein.«

      »Und was tut dein Papa?«

      »Er tut nichts«, erwiderte Marcello ein wenig unsicher.

      In einer Kurve überholte der Wagen die Straßenbahn. Um die Kurve möglichst eng zu nehmen, griff der Mann mit beiden Armen ins Lenkrad, ohne dabei den Oberkörper zu bewegen, was eine elegante Geschicklichkeit verriet. Dann fuhr der Wagen, noch immer in der Steigung, an hohen grasbewachsenen Mauern, an Holundersträuchern und Villentoren vorbei. Da und dort verriet ein mit venezianischen Lämpchen verzierter Eingang oder ein Bogen mit ochsenblutroter Aufschrift das Vorhandensein eines Restaurants oder einer ländlichen Osteria.

      Lino fragte plötzlich: »Machen dir dein Papa und deine Mama manchmal Geschenke?«

      »Ja, manchmal …« erwiderte Marcello etwas unbestimmt.

      »Viele oder wenige?«

      Marcello wollte nicht eingestehen, daß er zu Haus mit Geschenken nur spärlich bedacht wurde. Bisweilen liefen sogar die Feiertage ganz ohne Geschenke ab.

      Also beschränkte er sich darauf zu antworten: »Na ja, es geht …«

      »Macht es dir Freude, Geschenke zu bekommen?« fragte Lino, öffnete eine Klappe am Armaturenbrett, zog einen gelben Lappen hervor und putzte damit die Windschutzscheibe.

      Marcello sah ihn an. Der Mann hatte ihm noch immer das Profil zugewandt, saß aufrecht da, den Mützenschirm fast über die Augen gezogen.

      »Ja«, sagte Marcello obenhin. »Es macht mir Freude …«

      »Und was für ein Geschenk hättest du jetzt gern – zum Beispiel …?«

      Diesmal war der Sinn der Frage eindeutig: Marcello begriff, daß dieser geheimnisvolle Lino ihm aus irgendwelchen Gründen ein Geschenk machen wollte. Mit einemmal fiel ihm die Anziehung ein, die alle Waffen auf ihn ausübten. Gleichzeitig wurde ihm blitzartig