Der Konformist. Alberto Moravia

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Название Der Konformist
Автор произведения Alberto Moravia
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783803143280



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Köchin hatte gesagt: »Erst erschlägt man eine Katze und zuletzt einen Menschen …« Der Schrecken vor dieser Schicksalhaftigkeit verblaßte bei Marcello während der Sommerferien am Meer, und die ganze Angelegenheit wurde beinahe bedeutungslos. Er dachte zwar noch an den undurchschaubaren grausamen Mechanismus, in dem sein Leben für ein paar Tage gefangen gewesen war, sagte sich aber: Es hat sich nur um ein Alarmsignal gehandelt, jedoch nicht um eine unannehmbare Verurteilung, wie ich das eine Weile befürchtete.

      Die Tage verstrichen in Heiterkeit, Sonne und im Rausch der salzigen Meerluft. Es gab Zerstreuungen und Entdeckungen. Marcello kam sich mit jedem Tag mehr als ein Sieger vor: im Kampf gegen ein dunkles, bösartiges, tragisches Verhängnis, das ihn gegen seinen Willen erst zu der Zerstörung der Blumen, dann zum Eidechsengemetzel und schließlich bis zum Mordversuch an Roberto getrieben hatte. Allerdings spürte er, daß jene Macht immer noch gegenwärtig war und immer noch drohte, nur hatte sie ihn nicht mehr direkt in ihren Krallen. Er benahm sich wie in Angstträumen: Man versucht, einem Ungetüm zu entgehen, indem man sich schlafend stellt. Wenn man schon eine drohende Gefahr nicht beseitigen kann, überlegte er, ist es weise, sich wie im Traum zu verhalten.

      Der Sommer wurde einer der ausgelassensten, wenn nicht sogar glücklichsten in seinem Leben überhaupt. Es war der letzte Sommer, in dem er noch ein Kind war – ohne einen Widerwillen gegen seine Kindlichkeit zu verspüren.

      Zum Teil hing seine Gelöstheit einfach mit seinem Knabenalter zusammen, zum Teil rührte sie aber auch von dem Willen her, um jeden Preis aus der verdammten schicksalhaften Vorausbestimmung zu entfliehen. Er fragte sich nicht, was ihn dazu trieb, zehnmal an einem Vormittag ins Wasser zu springen, mit den wildesten Spielkameraden zu wetteifern, stundenlang auf dem sonnenüberglühten Meer zu rudern, kurzum, alles, was er tat, mit übersteigertem Eifer zu tun. Es war derselbe Impuls, der ihn veranlaßt hatte, die Spießgesellenschaft Robertos nach dem Eidechsenmord zu suchen, die Bestrafung durch die Eltern nach der Tötung der Katze herbeizusehnen: das Bedürfnis nach Normalität und der Wunsch, sich einer allgemein anerkannten Regel anzupassen, also allen anderen gleich zu sein. Denn Anderssein bedeutete ja soviel wie Schuldigsein. Mitunter freilich verriet sich das Gewollte und Künstliche seines Verhaltens in einer plötzlich aufzuckenden schmerzlichen Erinnerung. Er sah wieder die tote Katze zwischen den weiß-violetten Irisblüten in Robertos Garten liegen. Und er erschrak wie ein Schuldner, der im Geist aufs neue seine Unterschrift auf seinem Schuldschein erblickt. Hatte er vielleicht doch mit jener Katzenleiche eine dunkle, fürchterliche Verpflichtung auf sich genommen, der er sich früher oder später nicht würde entziehen können? Auch dann nicht, wenn er sich tief in der Erde verstecken oder über den Ozean entfliehen würde, um seine Spuren zu verwischen?

      In solchen Augenblicken tröstete er sich mit dem Gedanken, daß ja zwei, drei Monate schon vergangen waren. Bald würden Jahre vorüber sein. Es kam vor allem darauf an, viel Zeit verstreichen zu lassen, ohne das Ungeheuer zu reizen. Solche Anfälle von Gewissensnöten wurden aber immer seltener und hörten gegen Ende des Sommers völlig auf. Als Marcello schließlich nach Rom zurückkehrte, hatte sich die Katzenepisode und alles, was vorher geschehen war, in seiner Erinnerung fast verflüchtigt. Sie war verblichen, beinahe durchscheinend geworden wie eine in einem anderen Leben gemachte Erfahrung. Sie reichte nur noch als ein folgenloses Ereignis in seine jetzige Existenz hinein, an das ihn keine Verantwortung mehr band.

      Nicht wenig trug zu diesem Vergessen auch der Umstand bei, daß er nun in die Schule eintrat. Ein aufregendes Erlebnis! Bisher hatte Marcello zu Hause gelernt. In diesem Jahr begann für ihn die öffentliche Schule. Alles war ihm dort neu: die Mitschüler, die Lehrer, die Klassenzimmer, die Stundenpläne. Unter diesen verschiedenartigsten Eindrücken zog ihn ein Element – nach dem ungeordneten Leben, dem Fehlen jeder festen Regel und seiner Einsamkeit zu Hause – am meisten an, nämlich das der Ordnung und der Disziplin. Auch die Tatsache, daß allen Beschäftigungen gemeinsam nachgegangen wurde, befriedigte ihn. Die Schule glich ein wenig jenem Institut, von dem er einmal geträumt hatte. Doch sie enthielt nur die erfreulichen Seiten seines Traums, sie war kein Gefängnis und ohne jeden demütigenden Zwang. Marcello merkte bald, daß ihm das Schulleben zutiefst zusagte. Es freute ihn, morgens pünktlich aufzustehen, sich rasch zu waschen und anzukleiden, sein Bücherpaket fest zu schnüren und in Wachstuch zu verpacken und dann in Eile der Schule zuzustreben. Es freute ihn, mit der Schar der Kameraden in das alte Gymnasium einzufallen, die schmutzigen Treppen hinaufzulaufen, die düsteren, hallenden Gänge entlangzurasen und dann im Klassenzimmer zu stehen, wo sich die Reihen der Bänke befanden und das Katheder thronte. Vor allem aber gefiel ihm das Ritual der Unterrichtsstunden: der Eintritt des Lehrers, das Aufrufen der Namen, der Wetteifer mit den Kameraden bei der Beantwortung der gestellten Fragen, die Prüfungen, der Erfolg oder Mißerfolg, der ruhige, unpersönliche Ton der Lehrer.

      Dennoch war Marcello ein mittelmäßiger Schüler, in verschiedenen Fächern sogar einer der schlechtesten. Denn was er an der Schule liebte, war ja nicht die Arbeit, sondern die ganz neue und seiner Wesensart besser entsprechende Lebensform – die Normalität. Um so mehr, da sie im Schulbetrieb nicht etwas Zufälliges, von den Vorlieben und natürlichen Neigungen Abhängiges war, sondern eine festgelegte Regel, unparteiisch und getragen von nicht zu bezweifelnden Gesetzen.

      Seine mangelnde Erfahrung und Naivität aber machten ihn ungeschickt und unsicher, wenn er es mit jenen anderen Regeln zu tun bekam, die jenseits der Schuldisziplin das Verhalten der Schüler untereinander bestimmten. Auch diese anderen Regeln waren ein Aspekt der neuen Normalität; jedoch wurde er mit ihnen viel schwerer fertig. Das wurde ihm zum ersten Mal bewußt, als er zum Katheder gerufen wurde, um seine schriftliche Arbeit vorzuweisen: Der Lehrer nahm ihm das Heft aus der Hand, legte es aufs Pult und begann zu lesen. Marcello, an die familiären, formlosen Beziehungen zu den Lehrerinnen gewöhnt, die ihn zu Hause unterrichtet hatten, blieb nicht etwa abseits auf dem Podium stehen, sondern legte einen Arm um die Schulter des Lehrers und – Kopf an Kopf – begann er, mit ihm die Aufgabe durchzusehen. Ohne jede sichtbare Verwunderung beschränkte sich der Lehrer darauf, Marcellos Arm fortzuschieben. Daraufhin brach die ganze Klasse in schallendes Gelächter aus. In diesem Gelächter glaubte Marcello eine Mißbilligung zu erkennen, die anders und viel weniger duldsam und verständnisvoll war als die des Lehrers. Später, als er sich nicht mehr so sehr schämte, sagte er sich, daß er mit jener naiven Geste gleich zwei verschiedenen Regeln zuwidergehandelt hatte: der Regel der Schule, die Disziplin und Respekt vor dem Lehrer forderte, und der Regel der Schüler, die von ihm Verschlagenheit und Verschlossenheit verlangte. Und was das Sonderbare war: Diese beiden Regeln widersprachen einander nicht, sondern ergänzten sich in geheimnisvoller Weise.

      Er begriff, daß es zwar recht leicht war, in kurzer Zeit ein ordentlicher Schüler zu werden, daß es aber viel schwieriger war, sich zu einem gerissenen, unverfrorenen Mitschüler zu entwickeln. Was dieser Umwandlung im Wege stand, war seine mangelnde Erfahrung, seine bisherige Lebensweise und nicht zuletzt auch seine körperliche Erscheinung. Marcello hatte von seiner Mutter regelmäßige und zarte Gesichtszüge von einer fast raffinierten Vollkommenheit geerbt: Er hatte ein rundes Gesicht mit zarten, gebräunten Wangen, eine kleine Nase, einen geschweiften, launischen Mund, ein deutlich gekennzeichnetes Kinn. Unter den in die Stirn hängenden kastanienbraunen Haaren saßen zwei graublaue Augen von etwas dunklem, doch zugleich umschuldigem und zärtlichem Ausdruck. Es war beinahe ein Mädchengesicht. Die derben Jungen in seiner Klasse hätten das wahrscheinlich gar nicht beachtet, wenn Marcellos sanfte Schönheit nicht durch einige ausgesprochen weibliche Kennzeichen unterstrichen worden wäre. So aber konnte man sich wirklich fragen, ob man es hier mit einem Mädchen zu tun hatte, das als Junge verkleidet herumging: Marcello errötete ungewöhnlich leicht, hatte eine nicht zu unterdrückende Neigung, zärtliche Gefühle durch zärtliche Gesten auszudrücken, und sein Wunsch, zu gefallen, war so lebhaft, daß er bis zur Servilität und Koketterie führte. Diese weiblichen Kennzeichen waren Marcello bisher nicht bewußt geworden. Als er schließlich merkte, womit er sich in den Augen seiner Mitschüler lächerlich machte, war es bereits zu spät. Selbst wenn er jetzt imstande gewesen wäre, sich zu beherrschen, hätte er doch seinen Ruf, ein Mädchen in Hosen zu sein, nicht mehr ändern können.

      Seine Mitschüler verspotteten ihn dauernd, geradezu automatisch, als wären seine femininen Züge bereits jenseits aller Diskussion. Bald fragten sie ihn mit geheucheltem Ernst, warum er denn nicht in einer Mädchenklasse sitze und wie er auf