Der Konformist. Alberto Moravia

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Название Der Konformist
Автор произведения Alberto Moravia
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783803143280



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von der abschüssigen Bahn zurückgehalten zu werden, solange dazu noch Zeit war. Von dieser abschüssigen Bahn, an deren Ende unabwendbar der Mord stand. Soweit er sich erinnern konnte, hatten seine Eltern ihn sehr selten bestraft. Sie folgten allerdings nicht irgendwelchen Erziehungsgrundsätzen, die eine Strafe ausschlossen, sondern waren, wie er dunkel begriff, nur gleichgültig. Deshalb litt er jetzt nicht nur unter dem Bewußtsein, ein Verbrechen begangen zu haben und überdies noch zu weit Schlimmerem fähig zu sein, sondern auch darunter, daß er niemanden hatte, der ihn bestrafen würde. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, worin diese Strafe bestehen müsse. Derselbe Mechanismus, der ihn dazu getrieben hatte, sich Roberto anzuvertrauen, drängte ihn jetzt dazu, seinen Eltern ein Geständnis abzulegen – darüber war sich Marcello halbwegs im klaren. Von Roberto hatte er hören wollen, daß seine vermeintliche Schuld gar keine Schuld, sondern etwas ganz Alltägliches sei. Von seinen Eltern hoffte er, daß sie in Entrüstungsrufe ausbrechen und erklären würden, diese unerhörte Tat verdiene eine angemessene Strafe. Im ersten Fall wäre die Absolution Robertos für ihn ein Ansporn zu neuen ähnlichen Taten gewesen. Von seinen Eltern erhoffte er eine strenge Verurteilung. Dieser Unterschied machte ihm allerdings wenig aus. In Wirklichkeit ging es ihm, wie er sehr wohl begriff, nur darum, aus der erschreckenden Isolierung, in der er sich befand, wieder auszubrechen – mit jedem Mittel und um jeden Preis.

      Vielleicht hätte er sich schon am selben Abend während des Essens dazu entschlossen, seinen Eltern die Tötung der Katze zu gestehen. Aber er hatte plötzlich den Eindruck, daß seine Eltern bereits alles wußten. Sobald er nämlich am Tisch Platz genommen hatte, stellte er mit einer Mischung aus Angst und kaum verhehlter Erleichterung fest, daß Vater und Mutter feindselig und übellaunig wirkten. Die Mutter hatte ihrem kindischen Gesicht einen Ausdruck übertriebener Würde verliehen, saß mit niedergeschlagenen Blicken steif und schweigend da. Der Vater, ihr gegenüber, legte durch verschiedene deutliche Zeichen seine ebenso üble Laune an den Tag. Der Vater war um viele Jahre älter als die Mutter. Oft gab er in bedrückender Weise Marcello das Gefühl, er sei mit seiner Mutter in ein und dieselbe kindische Welt verbannt und seine Mutter sei gar nicht seine Mutter, sondern seine Schwester. Der Vater war hager, hatte ein trockenes und faltiges Gesicht, auf dem nur selten ein kurzes freudloses Lachen sichtbar wurde. Seine hervortretenden Augen funkelten ausdruckslos, wie Minerale; auf seiner Wange erschien häufig ein nervöses Zucken .– beides Dinge, die sicher zusammenhingen. Er liebte die kontrollierten, knappen Bewegungen, wahrscheinlich deshalb, weil er lange Jahre im Militärdienst verbracht hatte. Marcello wußte jedoch, daß er Selbstbeherrschung und Präzision immer übertrieb, wenn er zornig war. Sie verwandelten sich dann in eine seltsame Heftigkeit, die jede noch so einfache Geste mit Bedeutsamkeit erfüllte. An diesem Abend bei Tisch bemerkte Marcello sofort, daß der Vater jede gewohnte und belanglose Handlung unterstrich, als wolle er die Aufmerksamkeit der anderen darauf lenken. Zum Beispiel griff er nach dem Glas, trank einen Schluck, stellte es klirrend wieder hin. Oder er suchte nach dem Salzfaß, nahm etwas Salz heraus, knallte es auf den Tisch zurück. Nicht minder lärmend brach er das Brot in Stücke und legte sie auf den Tisch. Dann schien ihn eine plötzliche Leidenschaft für Symmetrie erfaßt zu haben: Er schob Teller und Bestecke so lange hin und her, bis Messer, Gabel und Löffel genau rechtwinkelig um den Suppenteller gruppiert waren.

      Wäre Marcello weniger um sich selbst besorgt gewesen, hätte ihm schnell klarwerden können, daß alle diese mit bedeutsamer, pathetischer Energie geladenen Bewegungen seines Vaters nicht ihm, sondern der Mutter galten. Die tauchte bei jedem neuen Lärm immer tiefer in ihre Würde ein, seufzte nachsichtig und hob mit dem Ausdruck einer Dulderin die Augenbrauen. Aber Marcello war überzeugt, seine Eltern wüßten alles. Sicher hatte Roberto, dieser Hase, den Zuträger gemacht. Zwar sehnte Marcello eine Bestrafung herbei, als er aber die üble Laune seiner Eltern sah, befiel ihn plötzlich ein Ekel vor der Heftigkeit, derer sein Vater, wie er wußte, fähig war.

      Seine Mutter bezeigte ihm nur gelegentlich und sozusagen zufällig ihre Zärtlichkeit – mehr aus Reue als aus Liebe. Der Vater wiederum war nur hin und wieder streng, dann aber unmäßig und ohne wirklichen Grund. Offenbar wollte er nach langen Pausen der Zerstreutheit dann und wann seiner Rolle als Erzieher irgendwie gerecht werden. Erst wenn sich die Mutter oder die Köchin über Marcello beschwert hatten, erinnerte sich der Vater plötzlich, daß er einen Sohn hatte: Er brüllte und tobte und verprügelte den Jungen. Besonders vor den Schlägen hatte Marcello Angst: Der Vater trug am kleinen Finger einen Ring mit einem massiven Stein, der während solcher Szenen stets nach innen gedreht war und zu der erniedrigenden Härte der Ohrfeigen noch einen durchdringenden Schmerz fügte. Marcello vermutete, daß der Vater den Ring absichtlich nach innen drehte, war dessen aber nicht sicher.

      Verschüchtert und verschreckt baute er jetzt in aller Eile ein glaubhaftes Lügengebäude auf: Nicht er hatte die Katze getötet, sondern Roberto. Die Katze befand sich ja in Robertos Garten. Wie hätte er sie über die Mauer hinweg, durch den Efeu hindurch, töten können? Dann aber fiel ihm plötzlich ein, daß er ja am Abend zuvor selbst seiner Mutter die Tötung einer Katze gestanden hatte. Er erkannte, daß ihm der Ausweg der Lüge verschlossen war. Wahrscheinlich hatte die Mutter trotz ihrer Zerstreutheit dem Vater sein Geständnis wiedererzählt. Und dann hatte dieser zwischen dem Geständnis und den Anschuldigungen Robertos einen Zusammenhang hergestellt. Da gab es nun keinerlei Ausrede.

      An diesem Punkt schlugen Marcellos Gedanken wieder um.

      Heftig wünschte er aufs neue eine rasche und entscheidende Strafe herbei. Doch was für eine Strafe? Er erinnerte sich: Roberto hatte eines Tages von Instituten gesprochen, wohin Eltern ihre mißratenen Söhne zur Strafe schickten. Zu seiner eigenen Überraschung wünschte er jetzt, zur Strafe in ein solches Institut geschickt zu werden. In diesem Wunsch kam unbewußt der Widerwille gegen das ungeordnete Familienleben zum Ausdruck. Er ließ ihn das herbeiwünschen, was die Eltern für eine Strafe hielten. Er betrog sich selbst mit der schlauen Berechnung, in so einem Institut seine Reue beschwichtigen und vielleicht sogar sein Schicksal ändern zu können.

      Diese Gedankenkette führte ihn zu einigen Phantasiebildern, die zwar beängstigend wirkten, aber zugleich auch angenehm waren: ein strenges, kaltes, graues Gebäude mit vergitterten Fenstern. Eisige, schmucklose Schlafsäle mit Reihen von Betten und hohen, weißgekalkten Wänden. Freudlose Klassenzimmer voller Bänke, vorn ein Katheder. Nackte Korridore, finstere Treppen, massive Türen, unpassierbare Gitter. Alles – mit einem Wort – wie im Gefängnis! Und doch zog Marcello so ein Institut der haltlosen, beängstigenden, unerträglichen Freiheit des Elternhauses vor. Sogar der Gedanke, in einer gestreiften Uniform zu stecken und mit rasiertem Kopf umherzugehen, wie das jene Internatszöglinge taten, die er bisweilen auf der Straße vorbeimarschieren gesehen hatte, sogar diese demütigende und beinahe ekelerregende Vorstellung war ihm jetzt willkommen. Denn er sehnte sich verzweifelt nach irgendeiner Norm und Ordnung.

      Während er solchen Phantasien nachging, sah er nicht seinen Vater an, sondern hielt den Blick auf das blendendweiße Tischtuch geheftet. Dann und wann fielen Insekten darauf, die am Lampenschirm abgeprallt waren. Einmal hob er die Augen. Da sah er hinter seinem Vater auf dem Fensterbrett das Profil einer Katze auftauchen. Ehe er jedoch ihre Farbe ausmachen konnte, war sie bereits heruntergesprungen. Sie durchquerte das Speisezimmer und verschwand in Richtung Küche. Obzwar Marcello seiner Sache keineswegs sicher war, weitete sich sein Herz doch bei dem freudigen Gedanken, dies sei die Katze, die er wenige Stunden vorher im Garten Robertos liegen gesehen hatte. Allein die Hoffnung, sie könne es sein, befriedigte ihn. War es nicht ein Beweis dafür, daß ihm das Schicksal dieser Katze näherstand als sein eigenes?

      »Die Katze!« rief er laut. Dann warf er die Serviette auf den Tisch, schob ein Bein vor und fragte: »Ich bin fertig, Papa. Darf ich aufstehen?«

      »Du bleibst sitzen«, sagte der Vater mit drohender Stimme.

      Verschüchtert meinte Marcello: »Aber die Katze lebt doch …«

      »Ich habe dir gesagt – bleib sitzen!« befahl der Vater nochmals. Dann, als seien Marcellos Worte für ihn das Signal gewesen, das lange Schweigen zu durchbrechen, wandte er sich an seine Frau: »Also – sag etwas! Sprich!«

      »Ich habe nichts zu sagen«, erwiderte sie mit betonter Würde, die Augen niedergeschlagen, einen verächtlichen Zug um den Mund. Sie trug ein schwarzes, ausgeschnittenes