Der Konformist. Alberto Moravia

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Название Der Konformist
Автор произведения Alberto Moravia
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783803143280



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und zwar mit den Fingerspitzen und den Nägeln, wie ein Vogel, der Krumen aufpickt.

      »Sag schon, was du zu sagen hast! Sprich! Zum Donnerwetter!«

      »Dir habe ich nichts zu sagen …«

      Marcello begriff erst jetzt, daß nicht sein Katzenmord den Ärger der Eltern verursacht hatte. Dann, plötzlich überstürzte sich alles. Der Vater sagte nochmals: »Sprich! Zum Donnerwetter!« Als einzige Antwort zuckte die Mutter mit den Schultern. Da ergriff der Vater das vor ihm stehende Kelchglas und schrie: »Willst du sprechen? Ja oder nein?« Er schmetterte das Glas auf den Tisch, es zerbrach und der Vater führte mit einem Fluch die verletzte Hand zum Mund. Erschrocken erhob sich die Mutter und eilte zur Tür. Beinahe wollüstig sog der Vater das Blut aus seiner Wunde, die Brauen hatte er zu einem dichten Bogen zusammengezogen. Als er sah, daß seine Frau davonlief, unterbrach er sich in seiner Beschäftigung und schrie: »Ich verbiete dir, zu gehen! Verstanden?« Darauf warf die Mutter heftig die Tür ins Schloß. Der Vater sprang auf und lief nun ebenfalls zur Tür. Erregt durch die Heftigkeit der Szene, rannte Marcello hinterher.

      Der Vater befand sich auf der Treppe, hatte eine Hand auf dem Geländer, schien sich aber merkwürdigerweise gar nicht zu beeilen, obwohl er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Es schien, als schwebe er schweigend zum Erdgeschoß hinab. Marcello mußte an den gestiefelten Kater denken. Er zweifelte gar nicht daran, daß der Vater auf seine Art schneller sein würde als die Mutter, die mit ihren kleinen, unordentlichen Schritten vor ihm die Treppe hinunterlief und dabei von ihrem engen Rock behindert wurde.

      Jetzt bringt er sie um! dachte Marcello, der dem Vater folgte.

      Im Erdgeschoß angelangt, eilte die Mutter zu ihrem Zimmer. Es gelang ihrem Mann, sich hinter ihr durch den Türspalt zu zwängen. Das alles sah Marcello, während er mit seinen kurzen Knabenbeinen die Treppe hinunterlief, der weder wie sein Vater zwei Stufen auf einmal nahm, noch wie seine Mutter hüpfen konnte. Schließlich unten angelangt, stellte er fest, daß plötzlich auf den Lärm der Verfolgung eine seltsame Stille eingetreten war. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter war angelehnt geblieben. Marcello trat zögernd auf die Schwelle.

      Zunächst sah er in dem halbdunklen Zimmer nur die beiden großen duftigen Vorhänge an den Fenstern, rechts und links von den Betten. Ein Luftzug wehte sie gerade in die Höhe, sie berührten fast den Deckenlüster. Diese weißen, schweigenden Vorhänge gaben dem halbdunklen Zimmer einen Anstrich von Verlassenheit – als wären die Eltern auf ihrer Verfolgung durch die geöffneten Fenster in die Sommernacht hinausgeflogen. Dann entdeckte Marcello in dem aus dem Korridor hereindringenden Lichtstreifen endlich seine Eltern, das heißt, er sah nur den Rücken des Vaters, unter dem die Mutter fast völlig verschwand. Ihre Haare lagen auf dem Kissen, mit einem Arm tastete sie nach dem Kopfende des Bettes. Krampfhaft suchte sich dieser Arm irgendwo festzuklammern, ohne daß ihm dies gelang. Der Vater, der die Mutter unter sich zu erdrücken schien, vollführte mit Schultern und Händen Bewegungen, als wolle er sie erdrosseln.

      Er bringt sie um! dachte Marcello. Er stand immer noch auf der Schwelle und empfand eine seltsame kämpferische und grausame Erregung und den Wunsch, in diesen Kampf einzugreifen. Ob er dem Vater helfen oder die Mutter verteidigen wollte, das wußte er eigentlich nicht. Auf einmal hoffte er, daß durch dieses sich hier anbahnende, viel schlimmere Verbrechen sein eigenes ausgelöscht werde. Was bedeutete schon die Tötung einer Katze, gemessen an der Tötung einer Frau?

      Als Marcello gerade sein letztes Zögern überwunden hatte und sich fasziniert und voller Kampfeslust ins Zimmer hineinbewegte, ertönte die Stimme seiner Mutter – nicht wie die eines Menschen, der erdrosselt wird, sondern fast zärtlich. Sie murmelte: »Laß mich …« Doch ihr erhobener Arm, der bis jetzt immer noch das Kopfende des Bettes gesucht hatte, senkte sich und umschlang den Nacken des Mannes. Verwundert und beinahe enttäuscht tat Marcello ein paar Schritte zurück und trat auf den Korridor hinaus.

      Langsam und vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, wandte er sich dem Untergeschoß und der Küche zu. Schon quälte ihn wieder die Neugier: War die Katze, die vom Fenster gesprungen war, mit der identisch, die er im Garten hatte liegen sehen? Als er die Küchentür aufstieß, bot sich ihm ein Bild häuslichen Friedens: In der weißen Küche saßen zwischen dem elektrischen Herd und dem Eisschrank die ältliche Köchin und das junge Stubenmädchen beim Essen an ihrem Marmortisch. Und auf dem Fußboden, unter dem Fenster, hockte die Katze und leckte mit rosafarbener Zunge Milch aus einer Schüssel. Doch es war, wie Marcello sofort enttäuscht feststellte, keineswegs die bewußte graue Katze, sondern ein ganz anderes, gestreiftes Tier.

      Da er nicht wußte, wie er sein Auftauchen in der Küche rechtfertigen sollte, ging er zu der Katze, beugte sich hinab und streichelte ihren Rücken. Das ließ sie sich, ohne ihre Mahlzeit zu unterbrechen, schnurrend gefallen. Die Köchin erhob sich und schloß die Tür. Dann öffnete sie den Eisschrank, nahm einen Teller mit einem Tortenstück heraus, stellte ihn auf den Tisch, schob einen Stuhl heran und sagte zu Marcello: »Willst du ein Stück Torte? Von gestern abend? Ich hab es eigens für dich aufgehoben.« Marcello gab keine Antwort, ließ die Katze, setzte sich und begann zu essen.

      Das Stubenmädchen sagte: »Gewisse Dinge verstehe ich einfach nicht. Da haben sie den ganzen Tag Zeit und soviel Platz im Haus – warum müssen sie gerade bei Tisch in Gegenwart des Jungen streiten?«

      Die Köchin erwiderte belehrend: »Wenn man sich um seine Kinder nicht kümmern will, soll man sie nicht in die Welt setzen.«

      Nach einem kurzen Schweigen bemerkte das Stubenmädchen: »Er könnte seinem Alter nach ihr Vater sein … Natürlich kann das nicht gut gehen.«

      »Wenn’s sich nur darum drehte …« meinte die Köchin und warf einen bedeutsamen Blick auf Marcello.

      »Außerdem«, fuhr das Stubenmädchen fort, »ist dieser Mann meiner Meinung nach nicht normal.«

      Marcello aß zwar weiter, spitzte aber bei dieser Bemerkung die Ohren. »Auch sie ist der gleichen Ansicht«, schwatzte das Mädchen. »Wissen Sie, was sie mir vor kurzem gesagt hat, als ich sie am Abend auskleidete? ›Giacomina‹, hat sie gesagt, ›früher oder später wird mich mein Mann umbringen.‹ Da hab ich gefragt, warum gehen Sie denn dann nicht von ihm fort? Und sie …«

      »Psssttt …« unterbrach die Köchin und deutete auf Marcello. Das Stubenmädchen verstand und fragte den Jungen: »Wo sind denn Papa und Mama?«

      »Oben im Zimmer«, erwiderte Marcello. Und dann, wie von einem unwiderstehlichen Impuls getrieben, fügte er hinzu: »Papa ist wirklich nicht normal. Wißt ihr, was er getan hat?«

      »Nein, was denn?«

      »Er hat eine Katze getötet.«

      »Eine Katze? Wie denn?«

      »Mit meiner Schleuder. Ich hab gesehen, wie er im Garten eine graue Katze verfolgte, die auf der Mauer entlangging. Dann nahm er einen Stein, schoß ihn nach der Katze und traf sie. Die Katze fiel hinunter in den Garten Robertos. Ich habe später nachgeschaut und festgestellt, daß sie wirklich tot war.« Während des Sprechens ereiferte sich Marcello, behielt aber den Ton eines unschuldigen Jungen bei, der ahnungslos und naiv von einer Missetat erzählt, deren Zeuge er gewesen ist.

      »Nein so was!« rief das Stubenmädchen und schlug die Hände zusammen. »Eine Katze! Ein Mann dieses Alters, ein Herr, nimmt die Schleuder seines Sohnes und bringt damit eine Katze um! Wenn das nicht verrückt ist!«

      »Wer schlecht zu den Tieren ist, der ist auch schlecht zu den Menschen«, sagte die Köchin. »Erst erschlägt man eine Katze und zuletzt einen Menschen.«

      »Warum?« fragte Marcello und hob plötzlich die Augen von seinem Teller.

      »So sagt man«, erwiderte die Köchin und streichelte ihn. »Obwohl es nicht immer wahr ist …« fuhr sie zu dem Stubenmädchen gewandt fort. »Der Mörder aus Pistoja, der die vielen Leute umgebracht hat … Das hab ich in der Zeitung gelesen, wissen Sie … Haben Sie eine Ahnung, was er jetzt im Gefängnis tut? Er hält sich einen Kanarienvogel!«

      Die Torte war zu Ende. Marcello stand auf und verließ die Küche.