Paaf!. Rich Schwab

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Название Paaf!
Автор произведения Rich Schwab
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862871902



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auf dem Lehm tapsen. Sie hatten nur ein Paar Pantoffeln – wann standen sie schon beide gleichzeitig mitten in der Nacht auf?

      »Was ist los?«, fragte sie, in ihrem Flanellnachthemd vor Kälte schaudernd.

      »Die verdammte Fabrik«, sagte Gregori und deutete nach Osten.

      »Mein Gott«, keuchte Lioba und schlug die Hand vor den Mund. Keine fünf Kilometer vor ihnen war der Ursprung des hellen Scheins zu sehen. Flammen, Funkenregen und Rauch. Eine Feuersäule, die höher zu sein schien als der Reaktor des Kraftwerks von Tschernobyl; und der war dreimal so hoch wie der Kirchturm von Zamuschnija. »Gori, was ist das?«

      »Die verdammte Fabrik«, sagte Gregori wieder. Er hatte sie von Anfang an gehasst und nie anders genannt, die Fabrik und das hässliche Monstrum von Stadt, das sie für die Arbeiter dort und ihre Familien in die Landschaft geklotzt hatten. Er hatte schon zu Beginn der Bauarbeiten vor bald dreißig Jahren den Kopf geschüttelt und dem Ungeheuer – und seinen Nachbarn – Unheil prophezeit. Gregori hatte nie verstanden, was dort geschah, wozu die verdammte Fabrik überhaupt gut war, egal wie oft Simyon versuchte, es ihm zu erklären. Er begriff nicht, was Radionukleide sein sollten und wieso die nichts mit Simyons Radio zu tun hatten. Er hatte nur immer schon gespürt, dass was immer dort stattfand, was immer dort produziert wurde, nicht gut für sie alle war. Da konnten ein paar Nachbarn, die regelmäßig im Pripjat angelten, ihm noch so begeistert erzählen, dass die Fische immer größer wurden, seit das Kühlwasser aus dem Kraftwerk in den Fluss geleitet wurde.

      »Mein Gott«, sagte Lioba wieder. Sie zitterte am ganzen Leib. Obwohl Gregori wusste, dass es nicht nur die Kälte war, zog er seinen Morgenrock aus und hängte ihn ihr über die knochigen Schultern. Dankbar und ängstlich drückte sie seine Hand.

      Dann hörten sie die Sirenen, sahen Dutzende von blauen und gelben Lichtern die Landstraße von Pripjat nach Teschernobyl entlang blitzen.

      »Geh ins Haus, Lili«, sagte Gregori sanft. »Sie wissen schon Bescheid.« Aber Lioba konnte sich von dem Anblick nicht lösen.

      »Du hast es immer gesagt«, flüsterte sie.

      »Ich hab’ es immer gesagt«, bestätigte Gregori. »Aber glaub nicht, dass ich froh bin, recht gehabt zu haben.«

      »Nein«, sagte sie und drückte wieder seine Hand. »Das weiß ich.« Dann schrie sie auf, und Gregori zuckte zusammen. Soro kniff den Schwanz ein, verschwand jaulend wieder im Hof und drückte sich an die Hauswand. Das Grollen einer Explosion war über die Felder gefegt wie ein Schneesturm. Über dem Kraftwerk schoss eine blau glühende Stichflamme in den Nachthimmel, ihr Widerschein legte sich über die Landschaft wie das überirdische Licht auf den Bildern von Bethlehem in Simyons Adventskalendern. Für einen Augenblick wurde die Nacht so hell, war das Licht so nah, dass Lioba und Gregori die Hitze der Flammen auf ihren Gesichtern zu spüren meinten.

      »Komm«, sagte er geblendet. »Komm ins Haus. Wir können nichts tun.«

      »Ja«, sagte Lioba und rieb über das raue Unterhemd an seinem Rücken. »Du erkältest dich noch.«

      Sie gingen zurück zum Haus, begleitet vom fernen Jaulen der Sirenen, dem pfeifenden Winseln des Hundes, dem ratlosen, aufgeregten Gegacker aus dem Hühnerstall; ein altes Ehepaar, seit zweiundsechzig Jahren verheiratet, in all der Zeit nur getrennt die paar Wochen, als der junge Gregori sich in den Wäldern von Zamuschnija verborgen hatte, um nicht in einen Krieg ziehen zu müssen, der ihn nichts anging. Was er oft genug in seinem Leben bereut hatte – war nicht der Verlust seiner beiden Söhne in dem Krieg danach der Preis dafür gewesen, ein bei Gott viel zu hoher Preis?

      »Gut, dass der Junge in Sicherheit ist«, sagte Gregori.

      »Ja«, sagte seine Frau. »Und der kleine Mischa. Vielleicht sollten sie besser doch nicht zur Maifeier herkommen?«

      »Ach«, sagte er. »Bis dahin …«

      Als Gregori Balakow hinter seiner Frau die Tür der Kate schloss, sie noch einmal mit der Hüfte kräftig ins Schloss drückte, wusste er nicht, dass sie beide soeben schon gestorben waren.

      Sie würden ihren Sohn nie wieder sehen, auch ihren Enkel nicht, und ihren Urenkel überhaupt nie.

      Sie konnten auch nicht wissen, zum Glück würden sie es nie erfahren, dass Simyon einer der ersten von insgesamt achthunderttausend so genannten Liquidatoren sein würde, die ohne Schutzkleidung und Gasmasken, ohne auch nur einen Schimmer einer Ahnung, wozu sie da verdammt waren, mit Schaufeln und Spitzhacken tonnenweise radioaktiven Schutt zusammenräumen würden. Dass ihr dritter Sohn sie um gerade mal drei Monate überleben würde. Und dass er es aber in diesen drei Monaten geschafft haben würde, ihnen eine Enkeltochter zu schenken – Lioba Anna, die, gerade einmal vier Jahre alt, an Leukämie sterben würde.

      1 - Martina

       Bonn, Dienstag, 15. Juli 1986

      »Wir sind drin, Kinners! Wir sind dri-hin!«, quietschte Martina Esser-Steinecke und wirbelte mit wippenden Pippi-Langstrumpf-Zöpfen durch die Tür des verqualmten Büros. Zum ersten Mal seit vier Wochen betrat sie den Raum, ohne gleich wild mit den Händen durch die Luft zu wedeln und mindestens ein weiteres Fenster zu öffnen. »Der Alte hat’s geschafft!«

      »Welcher Alte?«, brummte Rainer Kolbe und zündete sich an einem elf Millimeter langen Zigarettenstummel eine neue an. Wahrscheinlich die achtzigste heute. Um sechs Uhr nachmittags. »Und wo drin?«

      »›Welcher Alte!‹«, grunzte Sabine Illenberger. »Kann doch nur der olle Kriegel sein. Oder?«, wandte sie sich an Martina.

      »Na klar«, jauchzte die.

      »Und wo drin?«, wiederholte Sabine.

      »Na, in der Taaaagesschau!«

      »In der Tagesschau?«, echoten ihre beiden grünen Parteigenossen. Ähem, GenossInnen.

      »Ja, Kinners!«

      »Scheiße!«, hustete Kolbe und pustete Zigarettenasche von seinem Faxgerät. »Da reißen wir uns wochenlang den Arsch auf und kommen keinen Millimeter weiter …! Und dann kommt der alte Sack …«

      »He, he«, senkte Esser-Steinecke ihre Stimme und schloss rasch die Tür. »Du redest von unserem Außenminister!«

      »Kommt der alte Sack«, fuhr Kolbe ungerührt fort, »und reißt die ganze Chose an sich …«

      »Und plötzlich geht alles«, ergänzte Illenberger. »Landrat kusch, Festival genehmigt, und Kriegel als Retter von Demokratie, Kultur und Demonstrationsfreiheit in der Tagesschau.«

      »Und kein Sekt mehr im Haus«, tönte Esser-Steinecke dumpf, den Kopf halb in dem Kühlschrank in der Ecke, den man aber dank ihres ausladenden Hinterteils in dem gelb-braun gefleckten Wickelrock nicht sehen konnte.

      »Ja-huuu!«, schrillte Illenberger plötzlich, als es ihr gedämmert hatte, sprang auf und küsste Kolbe auf die rötlichen Afro-Locken. Dann wirbelte sie herum, fasste Esser-Steinecke an beiden Händen und tanzte mit ihr einen Rock’n’Roll durch das Büro. Was für Ärsche! dachte Kolbe wieder einmal und grinste in sich hinein. Die eine versucht ihre Kiste mit mehreren Quadratmetern Zuwickeln zu verstecken, und die andere presst ihre kess in eine reichlich unförmige lila Latzhose. Aber dann gestattete auch er dem Grinsen, sich in seinem Gesicht breit zu machen, öffnete seine unterste Schreibtischschublade und knallte eine dunkelgrüne Flasche ohne Etikett auf den Tisch.

      »Wennscht koi Sekt im Haus net hoscht, na hilf d’r mit’m Traubemoscht«, dichtete er, kippte einen Kaffeerest in einen Papierkorb und füllte die Tasse bis zum Rand mit der klaren Flüssigkeit aus der Flasche.

      »Puh!«, machte Esser-Steinecke, als ihr der strenge Geruch des Tresters in die Nase stieg. »Von dem Zeug werd’ ich doch gleich wieder betrunken!« Aber ihre Augen glänzten gierig, und auf ihren Wangen breiteten sich rote Flecken der Vorfreude aus.

      »Auf