Der Ausweg. Gundolf S. Freyermuth

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Название Der Ausweg
Автор произведения Gundolf S. Freyermuth
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870219



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das vorhersehbare Ergebnis der Schnapsidee seines besten Freundes, ihn, den hoffnungslosen Computer-Hobbyisten, im Schnellgang zum Software-Experten umzuschulen.

      Mann schloss das Fenster wieder. Er musste hier raus, weg, weit weg; aber jetzt musste er erstmal zu den Kellings.

      Er ging zurück zu dem Computer und versuchte es noch einmal mit der „Escape“-Taste. Vergeblich. Da er so klug gewesen war, die für Abbrechen vorgesehene Tastenkombination mit einem anderen Befehl zu belegen, gab es keine andere Möglichkeit mehr, aus dem Programm und damit pünktlich zu der Abendeinladung zu kommen, als sich dem widerborstigen Biest zu unterwerfen.

      Gerade wollte er nachgeben, als der Klügere, der er nun einmal war, als er entdeckte, dass das Feld für „Ja“ aus der Dialogbox verschwunden war.

      Die graue Rattenbox war nicht einmal mehr bereit, seine Kapitulation zu akzeptieren!

      Mann lehnte sich zurück und starrte wütend auf den Bildschirm. Dann beugte er sich abrupt vor und langte zu der Rückseite des Geräts. Die Existenzfrage brach mit einem elektrischen Würgen in sich zusammen.

      „Der Herr hat den Saft gegeben“, murmelte er, plötzlich wieder besserer Laune, „der Herr hat ihn genommen.“

      Befriedigt ließ er das lose Netzkabel fallen. Diese Art, seine Probleme zu lösen, war weder gut für die Festplatte des Computers noch übermäßig fair. Aber war die graue Rattenbox vielleicht fair zu ihm?

      War überhaupt jemals irgend jemand fair zu Harry Mann?

      Resigniert blies er die Luft aus dem Mundwinkel. Sicher war nur eins: Alles, was hinterher von den erfolglosen Tagen in einem erfolglosen Leben blieb, war der Abgang. Nur auf einen guten Abgang kam es an.

      Nur auf den.

      Harry Mann stand auf, ging in den Flur und band sich vor dem Spiegel mit ungeübten Fingern seine funkelnagelneue Krawatte. Die gehäkelte überbreite weinrote Hässlichkeit hatte er eigens für diesen Abend erstanden.

      Misstrauisch betrachtete er sich, und was er sah, gefiel ihm nicht. Elegant war wieder anders.

      II. Gallatheas weisse Haut

      1

      Die Adresse, die ihm Kelling auf eins der rotgeränderten Chef-Memos geschrieben hatte, lag ein ganzes Stück außerhalb. Der Weg dorthin war zu weit, um es mit dem Fahrrad zu versuchen, und das Villenviertel zu abgelegen, um mit dem Bus zu fahren. Er musste sich einen Wagen leihen. Dafür kamen nur zwei Menschen in Frage; Anne, die ihm zwar noch ihren Käfer, aber nicht mehr ihren Körper überließ; und Peter, der, aus dem schlechten Gewissen heraus, allzu viel Geld zu verdienen, ihm mehr oder weniger alles geben würde, was er besaß. Leihweise, verstand sich.

      Harry Mann nahm am Nolli den 19er Bus, schaukelte im Oberdeck den Ku’damm hinunter und stieg am Olivaer Platz aus.

      Peter Talmer residierte nahe der Leibnizstraße und nicht weit von Marios Ristorante in einem protzigen Dachdomizil, das sich über die gesamte Grundfläche des Gebäudekomplexes erstreckte und seinen Eigentümer zum einsamen Herrscher über siebenhundertfünfzig Quadratmeter bester Citylage machte. Den dazugehörigen pechschwarzen 500er Mercedes sah Mann schon von weitem vor dem Haus parken, halb auf dem Bürgersteig, die aggressive Blechschnauze einen knappen Meter vor der frisch gestrichenen Altbauflügeltür. Durch sie gelangte Mann, nachdem er seinen Namen in die defekte Gegensprechanlage gebrüllt und Peter den Summer betätigt hatte, in die restaurierte Pracht des marmorverkleideten Aufgangs und zu dem unsichersten aller Berliner Fahrstühle, einem mit gusseisernen Jugendstilgirlanden vergitterten Drei-Personen-Käfig, der seine Fracht mit Hilfe eines absurden Gewindes an öligen alten Seilen ächzend und ätzend langsam hoch in den fünften Stock hievte.

      Im Flur hinter der offenen Stahltür empfing Peter den Besuch halbnackt und tropfnass von den langen schwarzen Haaren, die auf seinen Schultern klebten, bis zu den haarigen weißen Zehen, um die sich kleine Pfützen bildeten. Er kam frisch aus der Heimsauna, hatte ein Handtuch um die kräftiger werdenden Hüften gewickelt und hielt wie immer weiten Abstand. An seiner panischen Berührungsangst hatte sich nichts geändert.

      Mann grinste ihn an. „In Strapsen gefällste mir besser.“

      Peter lächelte säuerlich zurück. „Kannst mir ja welche leihen.“

      „Was denn? Haste keine mehr?“

      „Hatte ich denn mal welche?“

      „Hundertprozent. Als du noch Dichter werden wolltest.“

      Peter sah ihn verständnislos an.

      „Weißte nicht mehr“, sagte Mann, und er hörte, dass seine Stimme fast traurig klang, „wie du uns damals, nackt bis auf Annes Strumpfhosen, deine Gedichte vorgetragen hast?“

      „Ja. Stimmt wohl.“ Ein Anflug von Erinnerung ging über Peters Gesicht, gepaart mit einer gehörigen Portion Misstrauen. „Ist aber schon nicht mehr wahr ...“

      „Vorm Spiegel im großen Zimmer, das volle Programm: Ich, Petronius, der mittelalterliche Barde. Kurz bevor ...“

      „Tja ja, wenn’s auch schön war“, unterbrach ihn Peter in seinem besten Arbeitgebertonfall, „war ist gewesen ...“

      Er drehte sich um und platschte mit seinen nassen Füßen über den Marmorboden in Richtung Arbeitszimmer. Harry Mann folgte ihm stumm ein Stück weit. Durch die offene Tür sah er auf dem schneeweißen Fantoni-Schreibtisch ein neueres Modell des grauen Kastens flimmern, der ihm seit Tagen das Leben zur Hölle machte.

      Peter nahm die Schlüssel zu seinem Zweitwagen, einem silbergrauen Golf Cabrio, aus dem obersten Fach des Büroschranks und warf sie Harry Mann zu.

      „Benimm dich anständig, Alter!“ sagte er und lächelte für einen Augenblick freundlich, „die Chance kommt nie wieder!“

      „Keine Chance kommt je wieder. Dafür kommen andere.“

      „An deiner Stelle hätte ich da mehr Zweifel,“ sagte Peter, viel zu ernst, und platschte durch den langen Flur zurück zu der stählernen Eingangstür.

      „An meiner Stelle! Dass ich nicht lache!“ Jetzt war es Mann, dem das Lächeln verunglückte. „Du hättest dich von mir nie in so ’ne Situation quatschen lassen.“

      „Was is’n an der Sache so fürchterlich?“ Peters Stimme klang wenig verständnisvoll. Die Probleme seines Freundes schienen ihn nicht recht zu berühren. Es war offensichtlich, dass er ihn möglichst schnell loswerden wollte.

      „Mein Gott, stell dir doch nur mal die Gespräche vor!“

      Mann wandte sich zum Gehen. Sicher hatte Peter in der Sauna nicht allein geschwitzt, und sicher wartete auf der Sonnenterrasse davor ein Stück Fleisch, das er seinem Freund ganz bestimmt nicht vorstellen wollte. Irgend so ein halbprofessionelles Dummchen, für das er sich schämte, eine seiner Kellnerinnen wahrscheinlich. Mann öffnete die Tür und trat hinaus in den Hausflur.

      „Dumpfe Scheiße“, sagte er, und was er sagte, hallte durch den Aufgang, „den ganzen Abend lang. Und die Leute erst!“

      „Sind doch vielleicht ganz nett ...“

      „Du kennst die Sorte nicht.“

      „Sei nicht albern.“ Peter lächelte spöttisch. „Außerdem, was die Qualität meines Umgangs betrifft, wär’ ich mir nicht so sicher.“

      Zwanzig Minuten später lenkte Harry Mann den Golf langsam und ein wenig ziellos gen Norden, entlang der sich endlos ziehenden Reihen von Laternen und Jägerzäunchen. Der gewölbte Teerbelag der Vorstadtstraßen schimmerte noch weich von der Hitze der untergegangenen Sonne, und die Reifen des Cabrios summten auf den Geraden und gingen quietschend in jede der sanften Kurven. War der Tag zu schön und zu warm gewesen für einen deutschen Spätsommer, so lag nun über dem Abend ein Hauch von Unwirklichkeit, der gut zu Manns Erwartungen passte.

      Er atmete den Fahrtwind.

      Links und rechts der schmalen Straßen schienen die Einfamilienhäuser festgeklammert wie