Der Ausweg. Gundolf S. Freyermuth

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Название Der Ausweg
Автор произведения Gundolf S. Freyermuth
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870219



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die den Canyon wie ein Adlerhorst überragte. Karin Block, für die er jede Art von Drecksarbeit erledigte, zählte zu den zehn reichsten Privatpersonen Deutschlands; das konnte man mit schöner Regelmäßigkeit in den Klatschspalten der Regenbogenpresse nachlesen; und seit kurzem auch in den Leitartikeln gewichtiger Blätter. Millionen hatte sie unter Politiker aller Couleur verteilen lassen. Ihm, dem pensionierten Hauptkommissar, zahlte sie für seine verschwiegenen Dienste achttausend pro Monat. Brutto. Lausige achttausend Dollar. Paps fühlte sich Karin Block nicht zu Dank verpflichtet.

      Der alte Mann stellte die Kanne ab, bückte sich leicht stöhnend und pflückte eine der Blumen, wobei er einen dunklen metallenen Gegenstand von der Größe einer Tonbandkassette so in die feuchte Erde drückte, dass er nur noch einen knappen unauffälligen Zentimeter herausragte.

      Als er sich wieder aufgerichtet hatte, blickte er Karin Block direkt in die großen dunkelbraunen Augen. Sie hatte sich halb aufgesetzt, so dass ihre langen schwarzen Haare die rechte Brust fast verdeckten, und sah ihn neugierig an. Ihr flacher Bauch warf dazu tiefe Falten, die das Alter der strapazierten Haut verrieten.

      „Für Mamma!“ sagte Paps, hielt die Rose linkisch hoch und versuchte, jungenhaft zu lächeln.

      „Soviel du willst, Paps“, sagte Karin Block. Sie legte sich wieder zurück und spreizte wohlig die Beine.

      Paps nahm die Gießkanne und trug sie zu dem Verschlag hinter den dichten mannshohen Fliederbüschen, die die erhöhte Terrasse von dem tiefer liegenden Park trennt. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, wagte er einen letzten langen Blick zurück auf Karin Blocks nackten Körper und schlurfte dann hinüber zu dem Dienstbotengebäude.

      *

      Vor Harry Manns Augen blinkten die Zahlen der Dutzend verschiedenen Zeitanzeigen auf dem Computerschirm. Wieder waren zehn Minuten vergangen. 600 Sekunden. Den erstaunlichen Umstand, dass soviel passierte und nichts davon in seinem Leben, konnte er mit Hilfe dieses kleinen grauen Kastens immerhin auf einen simplen Nenner bringen: „DateItem“.

      Jedes Zeitbruchstück berechnete das System des Computers sekundenweise und übersetzte es in grobe, unzulängliche Begriffe, wie sie im menschlichen Alltag geläufig waren; beginnend mit Januar 1904, 00:00:00 Uhr, bis irgendwann im Jahre 2040, 00:00:00 Uhr. The Date. Immer nur das, was gerade war. Soeben verging Sekunde 2642440203; wertlos wie die zuvor und die, die ihr folgten, wie alle anderen, heute, gestern, morgen.

      Wer würde sich noch um die Münzen in seiner Tasche scheren, wenn es nur Pfennige wären? Ein billiges Überleben in Sekunden.

      Harry Mann schüttelte den Kopf. Der Hobbyphilosoph in ihm brach mal wieder durch, einen Haufen wertloser Wahrheiten produzierte er, wie immer, wenn er keine Lust hatte, das zu tun, was er tun sollte.

      Doch unbestreitbar gab es diese andere Welt, sie war immer da, zugleich mit ihm und seiner banalen Berliner Langeweile. Eine ungeheure Menge bedeutender Aktionen in jedem Augenblick seiner Untätigkeit: Wie viele Menschen spürten gerade jetzt ein Stück wirkliches Leben kommen, nackte Paare, die das vierbeinige Tier machten, Ungeborene auf dem Weg ins Licht, Sterbende mit einem letzten verzweifelten Atemzug, Glückliche und Unglückliche, sie alle spürten es kommen, irgend etwas; und er spürte nichts; wusste von nichts; kannte nur Fernsehbilder vom Leben und Sterben draußen jenseits des sicheren Käfigs, sinnlose Fetzen von Hunger und Krieg, von Erdbeben und Unfällen, von Epidemien und Amokläufen.

      Mehr geschah, als seine Phantasie sich vorstellen konnte, und mehr auch könnte ihm eines Tages geschehen; er musste nur warten, geduldig abwarten. Weil er das fest glaubte, faszinierte ihn der kleine graue Kasten, der alle Phasen dieser Gleichzeitigkeit, selbst die Stunden, die ihm heute fehlten, die Lebenszeit, die er seit Jahren verbummelte, gleichgültig verrechnete. Die Neutralisierung seiner inneren Uhr, die Reduzierung jedes Verlustes auf winzige Teilchen erlaubte ihm, nichts zu ändern, ohne allzu große Zweifel weiterzumachen wie bisher und all die Gefahren und Verlockungen zu missachten, die aus der Ferne anderer Orte und Zeiten dem eigenen Wohlergehen und der bequemen Unzufriedenheit drohen mochten.

      Aber wirklich vergessen, was alles irgendwo da draußen war, das konnte er nicht; die Abenteuer, die Morde, das Leiden; das Glück. Und so hätte es ihn nicht übermäßig verwundert, wenn er erfahren hätte, dass in wenigen Augenblicken drei Menschen, von denen keiner auch nur Harry Manns Namen kannte, über den erklecklichen Rest seiner „DateItems“ entscheiden würden.

      *

      Paps saß in einer orangefarbenen, unablässig leise quietschenden Hollywoodschaukel auf einem Hügel knapp hundert Meter vom Haupthaus des Anwesens entfernt. Neben ihm stand ein Klapptisch. Auf ihm waren, wie in Reih und Glied, eine Thermosflasche, ein Becher mit Kaffee, ein tragbares Telefon, ein Radio-Walkman mit Kopfhörer und ein olivgrüner Feldstecher aufgebaut. Zwischen dem Klapptisch und der Hollywoodschaukel eingeklemmt, den Kolben am Bein des Tisches und den Lauf an einer Querstrebe der Schaukel, lehnte griffbereit eine schwarz glänzende Maschinenpistole.

      Von diesem erhöhten Standort aus, seinem Stammplatz, besaß Paps einen hervorragenden Überblick in alle vier Himmelsrichtungen. Vor ihm und zu seiner linken Hand führte der Feldweg von dem einsamen Anwesen in vielen Windungen durch die kahlen, von der Sonne verbrannten Berge hinab zu der gepflasterten Hauptstraße, die selbst wiederum in den Pacific Coast Highway mündete. In seinem Rücken befand sich das einstöckige Dienstbotengebäude, in dem Mamma, die in der vergangen Nacht für ihn die Wache übernommen hatte, noch tief und fest schlief. Und zu seiner rechten Hand stieg die kiesbelegte Auffahrt sanft zu der schneeweißen und schlossgroßen Villa an, vorbei an dem abseits gelegenen Tennisplatz und der Gym und in einem halben Kreis um den künstlichen Fischteich bis zu dem Wendeplatz bei dem überdachten Eingang, vor dem der zitronengelbe Porsche Targa und die schwarze Jaguar-Limousine parkten.

      Paps griff zu dem Feldstecher. Auf dem Feldweg näherte sich in einiger Entfernung eine Staubwolke. Verursacht wurde sie von einem hellblauen Personenwagen. Einem Pontiac Bonneville. Der alte Mann verzog den Mund zu einem mitleidigen Grinsen. Die Mietwagengesellschaften klassifizierten derlei Schleudern als „Fullsize Car“. Mehr stand dem Schatzmeister eines Landesverbandes vermutlich nicht zu. Paps schaltete das Funktelefon ein, drückte „Intercom“ und tippte eine Zahl.

      „Lupina, dice la Señora que Professor von Brauchangen viene“, meldete er ins Haus.

      Durch den Feldstecher sah er, dass der blaue Wagen sich einige Windungen weiter hochgearbeitet hatte. In vier, fünf Minuten würde er bei der Schranke angelangt sein, die die Zufahrt zu dem Anwesen sicherte.

      Der alte Mann schwenkte den Sucher hinüber zu dem Teil der Terrasse, den er von seinem Platz aus einsehen konnte. Lupina, eine muttchenhafte Mexikanerin mittleren Alters, trug ein Tablett zu dem Tisch in der Essecke, stellte es ab und sprach ein paar Worte in Richtung der Sonnenliege.

      Karin Block stand auf, und für einen Augenblick tanzte vor Paps' Augen die Großaufnahme ihrer Scham: ein dichter Wald schwarzer Haare, der alles, was dahinter lag, kaum ahnen ließ. Paps bevorzugte blonde Varianten, deren helles, meist dünnes Haar das blutrote Ziel seiner Wünsche weniger verbarg.

      Mamma war blond, dort unten jedenfalls noch. Aber sie war nicht mehr das Ziel seiner Wünsche; nicht, wenn sie, wie sie es manchmal tat, nackt auf den Balkon trat, um ihre quadratische durchtrainierte Gestalt der Sonne und seinen Blicken preiszugeben.

      Karin Block hatte sich in ihren Morgenmantel aus aschgrauer Seide gehüllt und ging ins Haus. Dolores, die zweite Hausangestellte, eine große füllige Samoanerin von Anfang Zwanzig, deren einziger Schmuck ihre Fettringe waren, kam ihr mit einem verchromten Rollwagen entgegen. Die beiden Dienstboten deckten den Tisch in der Essecke zu einem opulenten Frühstück.

      Der Bonneville hatte, fast grau vor Staub, die Schranke erreicht und hielt neben dem Pfeiler mit der Gegensprechanlage. Durch das Fernglas war in dem offenen Seitenfenster Brauchangens Gesicht deutlich zu erkennen. Er kam allein.

      Das Telefon neben Paps stieß sein widerliches elektronisches Gewimmer aus. Er schob den Schalter auf „On“ und sagte artig:

      „Willkommen, Herr Professor.“

      Dann drückte er die „#“-Taste und eine