Der Ausweg. Gundolf S. Freyermuth

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Название Der Ausweg
Автор произведения Gundolf S. Freyermuth
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870219



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glücklich begonnen hatte, war plötzlich verflucht. Das zweite Abenteuer um meinen bundesdeutschen Helden Harry Mann brach ich lieber ab. Sieben Jahre sollten vergehen, bis ich meinen nächsten Roman schrieb – der dann zur Sicherheit nicht mehr in der Gegenwart, sondern in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen spielte, und auch nicht mehr in Deutschland, sondern komplett in Los Angeles.

      So historisch allerdings, wie dieser zweite Roman Bogarts Bruder 1996 bei seinem Erscheinen war, ist inzwischen Der Ausweg fast auch geworden: Die Bonner Republik, in der er vor 21 Jahren erschien, ist nicht nur von der Landkarte verschwunden. Ihr Alltag, ihre Lebens- und Denkweisen, ihre Kultur, die Mentalität ihrer Bewohner sind heute, zu Beginn des dritten Jahrzehnts der Berliner Republik, nicht nur den Nachgeborenen kaum weniger fern und fremd als die Lebensweisen, sagen wir, der Weimarer Republik.

      Was also um 1990 die Thriller-Handlung des Ausweg so hoffnungslos veraltet erscheinen ließ – dass er eine untergegangene Kultur und historisch obsolete Mentalitäten dokumentierte –, genau das mag heute mit zwei Jahrzehnten Abstand neuen wie alten Lesern heute einen zusätzlichen, vielleicht sogar entscheidenden Anreiz bieten, sich von Harry Manns mörderischen Abenteuern zwischen Westberlin, Bonn und Los Angeles fesseln zu lassen.

      I. Transatlantische Mausefalle

      In diesem Fall, seinem ersten Mord, verhielt er sich noch sehr stümperhaft, und dass er damit Erfolg haben sollte, jedenfalls für den Anfang, schien allen, die davon erfuhren, ein wahres Wunder.

      Die Geschichte begann damit, dass Harry Mann ...

      Nein, halt! Zu behaupten, diese Geschichte habe mit Harry Manns Taten oder Untaten begonnen, scheint mir beim besten Willen nicht richtig. Die letzten dramatischen Szenen in einer jahrelangen Kette von ebenso ungesetzlichen wie friedlichen Ereignissen waren es, in die er hineinstolperte und in denen er für kurze Zeit die gewalttätige Hauptrolle spielte: als Irrläufer zwischen den Fronten; viel zu zornig, um nicht gierig zu sein, und viel zu klug, um sich kaufen zu lassen.

      Einzig aus seiner Sicht also – aber auf die sind wir angewiesen, solange alle anderen Überlebenden sich verstecken, schweigen oder lügen – begann die Geschichte an einem Freitagabend, dem letzten Freitag im August. Und sie begann in seinem abgedunkelten Berliner Zimmer mit einem leisen elektronischen Piepen.

      Das Geräusch der Alarmuhr des Computers ließ Harry Mann zusammenzucken. Er hatte es nicht geschafft, mal wieder nicht geschafft, und heute würde es ihm auch nicht mehr gelingen. Soweit er wusste, ging draußen ein ungewöhnlich freundlicher Tag zu Ende. Mann hatte ihn hinter geschlossenen Jalousien verbracht. Die Sonne störte die flimmrigen Kreise, in denen sich seine Programmierkünste drehten. Er brauchte kein Licht; was er brauchte, war eine gute Idee. Vielleicht auch nur etwas mehr Grips oder etwas mehr Ahnung von dem, was er tat.

      Jetzt allerdings hätte ihm selbst eine göttliche Eingebung nicht mehr helfen können. Es war bereits sieben Uhr. Vier, fünf Stunden noch und ein bisschen Glück, vielleicht dann ...

      Dank Kellings verfluchter Einladung blieb ihm diese Zeit nicht mehr. In spätestens dreißig Minuten musste er los; frischrasiert und schweradrett.

      Harry Mann starrte auf den Bildschirm. Der Alarm, der dort blinkte, faszinierte ihn. Er hatte die Anzeige selbst programmiert; sie war zugleich Stoppuhr, Wecker und Weltzeituhr. Im Halbkreis um die Mitte des Bildschirms leuchteten die Ortszeiten rund um den Erdball: 3 Uhr mittags war es jetzt in Rio de Janeiro, 10 Uhr abends in Teheran, 3 Uhr bereits am nächsten Morgen in Tokio.

      Harry Mann trank den letzten Schluck des Campari Soda, den er sich vor Stunden aus der Küche geholt hatte; das Glas enthielt nur noch lauwarmes, geschmolzenes Eiswasser und, wie er zu spät sah, eine tote Eintagsfliege. Er spuckte, was er getrunken hatte, zurück ins Glas und schob es weit von sich.

      Natürlich wusste er, aus welch kindischem Grund ihn diese Anzeige, überhaupt die geordneten Pingeligkeiten des kleinen grauen Kastens faszinierten: Weil der vom Computer geforderte Wille zur Präzision und die garantierte Sicherheit, dass nichts in seinem künstlichen Kosmos, aber auch nichts als das Eingegebene geschah, einen wohltuenden Schleier über das Durcheinander, das herrschende Chaos, das Tohuwabohu der wirklichen Welt deckte.

      Und weil diese Präzision ein Hort des Widerstands war. Denn dass nichts im Leben lief wie geplant, war eine gewaltige Untertreibung der simplen Wahrheit, dass alles Leben ungeplant verlief.

      Versandete; sich erschöpfte in sinnlosen Anstrengungen.

      6 Uhr am Samstagmorgen in Neuseeland, 10 Uhr heute, Freitagmorgen in Los Angeles. Dort schien jetzt die Sonne, deren Strahlen hier verblassten. In den achtunddreißig Jahren seines hektisch leerlaufenden Lebens hatte er Europa nie verlassen. Der Gedanke an die ungleichzeitige Gleichzeitigkeit der Welt verwirrte ihn immer wieder aufs Neue. Gerade noch vorstellen konnte er sich, was die Menschen ein paar Straßen weiter, außerhalb seines Hinterhofghettos, in diesem Augenblick tun mochten.

      Er schloss die Augen und sah, wie Rudolf Kelling in einem bescheidenen Reihenhaus draußen in Konradshöhe die Füße auf den Couchtisch gestreckt hatte, ein Glas Bier trank, die Sieben-Uhr-Nachrichten schaute, während seine Frau, wahrscheinlich ein verhuschtes Mäuschen, das sein graues Versandhaus-Kleidchen mit einer verwaschenen Schürze vor Flecken schützte, eifrig um den halb gedeckten eichenen Esstisch wuselte.

      Wie sterbenslangweilig, wie bedeutungslos im Vergleich zu all dem, was in diesen selben Minuten überall auf diesem Planeten geschah, zur selben Zeit an einem anderen Ort, in einer Welt, in der die Uhren anders gingen ...

      *

      Die Luft hier oben in den Bergen war noch frisch wie der Morgen, sauber und klar, und sie roch nach Eukalyptus und Tannenharz, nach tausend Blüten und nach dem kühlen Wasser, mit dem die Beete und die exakt geschnittenen Büsche gerade besprengt worden waren. Der Himmel über dem geweißten Anwesen strahlte knallig blau, und die Sicht von der Terrasse zwischen Haupthaus und Canyon reichte weit hinaus über die Steilwand und die kahlen Täler dahinter bis zu der silbern glänzenden Spiegelfläche des Pazifischen Ozeans, der in zwanzig Meilen Entfernung an die Küste stieß. Es würde ein sonniger Tag werden, ein Tag wie die meisten in diesem Land des ewigen Frühlings.

      Der rüstige alte Mann, der an diesem Morgen freiwillig die Aufgaben des Gärtners erledigte, stellte die Sprinkleranlage ab, hob nicht ohne Mühe die volle Gießkanne an und begann, die Blumen vor der dichten Hecke zu gießen, von der die Terrasse gegen die tief abfallende Steilwand des Canyon hin begrenzt wurde.

      Mehr Mühe als die ungewohnte Arbeit kostete es ihn, so wenig wie möglich zu dem tiefbraun gebrannten Körper zu starren, der sich auf der Liege bei dem großen Pool sonnte. Das nackte Fleisch war nicht mehr ganz jung, aber soviel jünger als all die Körper, die der Alte seit Jahren berührt hatte. Die langen schlanken Beine, die schmalen Hüften, die kleinen, festen Brüste, all das war unerreichbar für ihn. Nicht die Spur einer Chance hatte er; und auch vor dreißig, vierzig Jahren hätte er nicht die Spur einer Chance gehabt. Nicht er.

      Trotzdem beneidete er keinen der Männer, die diesen Körper besitzen durften; keinen der vielen Gockel, die hier in den zehn Jahren, die er das kalifornische Anwesen und seine Eigentümerin bewachte, für ein paar Monate stolz herumgekräht hatten. Wenn er überhaupt jemanden beneidete, dann diese noch halbwegs junge und halbwegs schöne Frau.

      „Morgen, Paps“, sagte der Körper, ohne dass der dazugehörige Kopf die Augen geöffnet hätte.

      „Guten Morgen, Frau Block.“

      Paps wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit seiner Arbeitgeberin vor dem Frühstück und bevor sie ihren Kater überwunden hatte, ein Gespräch zu beginnen. Wenn es anginge, von einer Millionenerbin und erfolgreichen Geschäftsfrau, deren diverser Besitz ihr jeden Tag mehr als eine Million Reingewinn einbrachte, zu behaupten, dass sie faul und nichtsnutzig sei, verkommen und vergnügungssüchtig, undiszipliniert und schlecht erzogen ... Aber so etwas ging eben nicht an; obwohl Paps jede Wette gehalten hätte, dass Friedrich Block, des Teufels Schwiegersohn, Judenfresser-Fritz, der fleißigste Kriegsgewinnler aller Zeiten und Begründer des Blockschen Imperiums, Gott habe ihn selig, genau das von seiner jüngsten Tochter heute denken würde.

      Paps