Lebendig!. Michael Herbst

Читать онлайн.
Название Lebendig!
Автор произведения Michael Herbst
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783775158800



Скачать книгу

»Okay, jetzt sind wir an der Reihe. Jetzt sollen wir auch so lieben, wenigstens ansatzweise, wie wir es bei Gott sehen. Es geht jetzt um unsere Liebestaten.« Das ist nicht ganz falsch, aber voreilig. C.S. Lewis unterscheidet zwei Arten der Liebe: die schenkende und die empfangende Liebe.15 Die schenkende Liebe ist die starke Liebe, die sich für andere hingibt und einsetzt. Die empfangende Liebe ist eine Tochter der Armut. Sie ist bedürftig und angewiesen auf das Schenken des anderen. Beide sind nötig. Die schenkende Liebe verhält sich zur empfangenden wie das Negativ zum Positiv. Damit ist nicht gemeint wie das Gute zum Bösen, sondern vielmehr wie die Kuchenform zum Kuchen selbst. Unsere Liebe ist zunächst und auf Dauer empfangende Liebe. Wir sind der Liebe Gottes bedürftig. Wir bleiben dieser Liebe bedürftig. Wir wachsen niemals darüber hinaus. Und das ist gut und genug. Käme nicht mehr aus unserem Leben heraus als dieses, dass wir der Liebe Gottes bedürftig gewesen wären und uns ihr in empfangender Liebe entgegengestreckt hätten, so wäre es schon gut, schon genug, schon ausreichend. Gottes bedürftig zu sein und zu bleiben, ehrt Gott und gibt ihm Raum, zu sein, was er ist: schenkende Liebe ohne Maßen. Darum geht es: Kommen Sie zum Gnadenstuhl. Lassen Sie sich beschenken. Lassen Sie es sich sagen. Sie können es schmecken im Abendmahl. Sie können es fühlen durch den Zuspruch des Segens, durch das Kreuzzeichen auf Ihrer Stirn oder durch all das Gute, das Sie empfangen. »Für dich, nichts als Liebe.«

      Zurück zum Gnadenthron

      Erst dann wird spannend, was Johannes noch sagt: Diese Liebe hat eine innere und eine äußere Folge (vgl. 1. Johannes 4,17-21). Die innere Folge ist Zuversicht. Die äußere Folge ist Liebe untereinander zu den Schwestern und Brüdern, denn Gottes Wesen färbt auf uns ab. Wer sich in Gottes Nähe aufhält, verändert sich: Da wachsen innere Stärke, Gewissheit und Zuversicht. Da wächst die Fähigkeit, andere zu lieben, hingebungsvoll und auch zum Opfer bereit. Johannes spricht nicht nur von dem, was sich tut, sondern auch von dem, was sich nicht tun soll: Der Zuversicht widerspräche die Furcht, der Liebe der Hass. Das soll nicht sein: Furcht statt Zuversicht, Hass statt Liebe. Und das kann Johannes auch begründen: Wenn Gott uns so liebt und alles Nötige tat, warum sollten wir uns vor dem letzten Urteil dann noch fürchten? Das wäre doch wieder nur unser altes Misstrauen, das Gott nicht über den Weg traut. Wenn Gott uns so liebt, wie könnten wir dann den anderen hassen? Wer behauptet, Gott zu lieben, den er nicht sieht, aber seinen Bruder hasst, den er sieht, der ist ein Lügner (vgl. 1. Johannes 4,20). Das passt nicht zusammen.

      Im Grunde wissen wir das auch. Und wenn wir ein bisschen länger im Glauben unterwegs waren, leiden wir daran: Warum nur spielt mein Herz, mein Gewissen, mein Gefühl mir immer wieder Streiche und traut der Liebe Gottes nicht über den Weg? Und wie kommt es, dass Gottes zuvorkommende und mitfühlende Liebe so wenig auf mich abfärbt? Wir wissen doch: Das sollte eigentlich ganz anders sein. Wenn wir dann solche Worte hören, wird es gefährlich, denn dann könnte es passieren, dass wir uns immer mehr in uns selbst verdrehen, immer mehr mit uns selbst befassen und um uns selbst bemühen.

      Zum Beispiel: Wir sollen uns doch nicht fürchten! Wer sich fürchtet, beweist nur, dass die Liebe in ihm noch nicht ganz angekommen ist. Also denke ich: Fürchten soll ich mich nicht, fürchte ich mich doch, ist etwas mit mir grundverkehrt, darum muss ich mich vor meiner Furcht fürchten und fürchte mich umso mehr. Und was ist das Ergebnis? Ich bin völlig mit mir selbst beschäftigt.

      Oder: Wir sollen doch den anderen lieben. Mit den Netten geht das ja noch einigermaßen, aber warum gibt es hier so viele Nervige? Doch ich soll sie lieben, sonst bin ich am Ende ein Lügner. Also quetsche ich so viel angestrengtes Lieben aus mir heraus wie nur möglich. Aber dann erwische ich mich dabei, dass ich schlecht von anderen denke, hinter ihrem Rücken rede, spitze Kommentare abschieße und mich keinen Deut um die Not der anderen schere. Am Ende bin ich wieder völlig mit mir beschäftigt.

      So geht es also nicht. Es geht nur eines: zurück zum Gnadenthron. Weg von mir selbst. Weg von dem Versuch, Gott gute Gründe zu liefern, warum er mich doch lieben müsste. Schluss damit! Weg von dem Versuch, in mir warme und gewisse Gefühle zu erzeugen oder aus eigener Kraft alle zu lieben. »Gott ist Liebe«, ich bin es nicht! Gott ist Gewissheit, ich nicht. Gott ist Kraft zum Lieben, Erbarmen, Mitfühlen, ich nicht. C.S. Lewis lässt in seinen »Dienstanweisungen für einen Unterteufel« einen Teufel dem anderen Folgendes erklären: Wenn die Aufmerksamkeit der Menschen dem Feind selbst gilt (er meint damit Gott), dann sind die Teufel besiegt. Deshalb müssen sie dies verhindern. Er erläutert auch, wie das geht: »Der einfachste Weg ist der, ihr Augenmerk von Ihm weg auf ihr eigenes Ich zu richten. Halte sie dazu an, nur auf ihren Seelenzustand zu achten und in sich durch eigene Anstrengung gewisse Gefühle zu erregen. Wenn sie vorhaben, Ihn um Nächstenliebe zu bitten, dann lasse sie stattdessen versuchen, nachsichtige Gefühle gegen sich selbst zu schaffen, ohne zu merken, was sie eigentlich tun. […] Wenn sie sagen, sie bitten um Vergebung, dann lasse sie sich anstrengen, das Gefühl der Vergebung zu erlangen. Lehre sie den Wert jedes Gebetes nach der Befriedigung einschätzen, die das von ihnen erregte Gefühl ihnen bringt.«16

      Wie also kommen wir weg aus dieser Drehung um uns selbst? Durch Umkehr, genauer gesagt, durch Buße! Das bedeutet: Ich bekenne meine Lieblosigkeit dem Bruder gegenüber, ich räume mein notorisches Misstrauen Gott gegenüber ein – und wende mich ab von mir, hin zum Gnadenstuhl. Gottes Wesen ist immer noch Liebe. Erstaunlich genug! Es war gestern so, ist heute so und wird morgen so sein. Darum kann es im Blick auf mein Gestern, Heute und Morgen nur heißen: Umkehr, Freude der Buße. Ich darf mich abkehren von meinem Versagen. Ich darf mich wegwenden von meinem Misstrauen. Ich muss meinen Gefühlen nicht trauen. Hin zum Gnadenstuhl!!

      Ich drehe es noch einmal um: Was ist das Problem von uns alten Sündern? Der Theologe Oswald Bayer sagt: Der Sünder ist in erster Linie ein Kostverächter.17 Er verweigert die Liebe, die ihm gilt. Er ist ein geistlicher Suppen-Kaspar, der sich gnadenlos selbst abstrampelt. »Meine Suppe ess’ ich nicht!«18 Das muss nicht sein, sagt Johannes, denn »Gott ist Liebe.«

      Dann erst kann zum Schluss auch wirklich davon geredet werden, dass Zuversicht und Liebe gedeihen. Sie gedeihen nicht, indem wir an unseren Gefühlen herumschrauben und uns ein bisschen mehr Mühe geben. Sie gedeihen, sobald wir uns selbst vergessen und ganz auf den Gnadenstuhl ausgerichtet sind. Wer liebt, sieht und sieht nicht. Er sieht den anderen, er sieht die unausgesprochene Bitte und die ausgestreckte Hand des anderen. Er sieht die bittende Seele derer, die am Wegesrand sind. Und er sieht sich selbst nicht. Es ist wie mit einem gesunden Auge: Es sieht sich selbst nicht, aber es sieht den anderen.

      Die Liebe sieht den armen Lazarus, der vor der eigenen Haustür liegt. Sie geht nicht kalt an der Not des anderen vorüber. Sie lässt sich berühren. Sie empfindet die Not des anderen wie eine eigene. Sie packt zu und tut, was nötig ist. Sie opfert die eigene Bequemlichkeit. Sie ehrt den Armen. Sie gehorcht dem Gebot. Denn auch und gerade für den Lazarus gilt ja: »Gott ist Liebe.« Die Liebe sieht die Frau, deren Leben ein einziges Chaos ist. Sie nimmt wahr, wonach diese sich sehnt. Sie ehrt die Ehrlose. Sie trinkt aus einer Dose mit der Verachteten. Sie spricht an, was gesagt werden muss, auch wenn es wehtut. Sie öffnet den Blick auf ein anderes Leben, das möglich wäre. Denn auch für sie gilt ja unverdientermaßen: »Gott ist Liebe.«

      Je mehr wir wachsen, umso wichtiger wird es, dass wir sehen lernen und nicht übersehen. John Ortberg erzählt von einer 70-jährigen Frau, korpulent, mit Haarausfall und Arthritis, die eine Liebesaffäre hat.19 Wie es begann? Sie hatte einen Bekannten im Altersheim, auch über 70. Die beiden telefonierten miteinander und trafen sich hin und wieder. Als sie wieder einmal telefonierten, erzählte sie von einer Einladung bei Freunden, und er hörte interessiert zu. Dann fragte er: »Und was hattest du an?« Da fing sie an zu weinen und sagte: »Weißt du, wie viele Jahre es her ist, dass mich jemand gefragt hat, was ich anhatte?« Das ist das Kleingeld der Liebe: Sie hört zu. Sie schaut hin. Sie sieht die Trauer. Sie erkennt den müden, erschöpften Blick. Sie weiß um den Geburtstag. Sie erinnert sich an den Todestag des Mannes einer Witwe. Sie denkt an die Examensprüfung und fragt nach. Sie repariert die Lampe. Sie streicht die Wohnung mit. Sie übernimmt den kleinen Fahrdienst. Sie geht dem nach, der länger nicht mehr da war. Sie ist verlässlich. Sie nimmt sich ein Herz und spricht an, was ihr auffällt, wenn jemand vom Weg abkommt. Sie spricht jemanden auf seine Gabe an. Sie versucht, zu verbinden, was sich trennen will. Sie tut