Название | Lebendig! |
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Автор произведения | Michael Herbst |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783775158800 |
Ähnlich geht es mir mit dem englischen »discipleship«, welches das Leben des »disciples« mit allen seinen »disciplines« fein zusammenbringt und oft mit »Jüngerschaft« wiedergegeben wird. Dieses Wort gibt es tatsächlich im Duden, aber wirklich schön ist es nicht. Das liegt an der Silbe »schaft«3, die im Deutschen eine Personengruppe bezeichnet (z.B. Zuhörerschaft, Mannschaft), einen Zustand (z.B. Mitgliedschaft) oder das Ergebnis eines Geschehens (z.B. Erbschaft). Diese Begriffe sind alle eher statisch als dynamisch und für mich daher nicht passend. Unser Christsein sollte nämlich durch zwei Attribute näher bestimmt sein: Es sollte lebendig sein und mündig, eine dynamische Beziehung eines Ich zu einem Du. Das Christsein drückt sich auch in Glaubenswahrheiten aus, aber in seinem Kern ist es die Beziehung zum dreieinigen Gott, zu diesem spezifischen göttlichen Haushalt aus Vater, Sohn und Heiligem Geist. Es ist ein Hören und Reden, ein Empfangen und Weitergeben, ein Begnadetwerden und Anbeten, ein Vertrauen und Gesandtwerden. Wie bleibt unser Glaube, den wir irgendwann geschenkt bekommen haben, lebendig und vital? Wie kann er unser Leben prägen und nicht nur eine religiöse Auffassung sein? Wie kann ein Ich wirklich ein Ich sein (also mündig) und in einer intensiven Gemeinschaft mit Gott leben (nämlich lebendig)?
Lebendig
Im »Tagebuch eines Landpfarrers« beschreibt Georges Bernanos das Leiden eines Priesters, der mit Schrecken wahrnimmt, dass sein Glaube seinem Leben nicht mehr Gestalt und Richtung gibt. »Nein, ich habe den Glauben nicht verloren. Der Ausdruck ›den Glauben verlieren‹, so wie man seinen Geldbeutel verliert oder einen Schlüsselbund, ist mir übrigens immer ein wenig albern vorgekommen … Man verliert nicht den Glauben, aber er hört auf, dem Leben Form zu geben. Das ist alles.«4 Was kann geschehen, um das zu verhindern?
Wir haben viele getaufte Mitglieder in unseren Gemeinden, die nie etwas anderes erlebt haben als eine Zugehörigkeit zur Kirche, die dem Leben höchst marginal Form gibt: an Weihnachten und Erntedank, bei Geburten, Hochzeiten und Todesfällen oder durch eine gewisse ethische Verpflichtung, Nächstenliebe zu zeigen und sich um Integrität zu bemühen. Für sie liegt so etwas wie »Nachfolge«, »Gemeinsames Leben« oder das Leitbild eines Lebens als Jüngerin bzw. Jünger ganz fern. Sie sind immer noch in der Kirche, aber auf Distanz. Die Zugehörigkeit wird »bei Gelegenheit« aktiviert.
Der Verlust, der damit einhergeht, besteht aus meiner Sicht darin, dass Menschen die spezifische Gnade nicht erleben, mit Gott im Alltag verbunden zu sein: sein Ohr zu haben, seine Weisungen zu hören, seine Ermutigung zu erleben, jeden Morgen neu mit ihm anzufangen, allmählich zum Guten verwandelt zu werden, im Scheitern Trost zu erleben. Es geht bei einem lebendigen Christsein um dieses alltägliche Leben mit Gott.
Um diese Frage tobt in der evangelischen Kirche und in der evangelischen Theologie ein Streit. Ist die distanzierte Mitgliedschaft eine moderne Variante der christlichen Existenz, die wir einfach als legitime Variante des Christseins zu respektieren haben? Oder entgeht Menschen etwas, wenn sie nur »bei Gelegenheit« eine kirchliche Dienstleistung in Anspruch nehmen? Urteilen wir über den Glauben anderer, wenn wir mit einer gewissen Sorge auf Menschen schauen, die zwar zur Kirche gehören, aber nach eigener Auskunft nur ein loses Verhältnis zur Gemeinde oder zu Gebet, Abendmahl usw. haben?
Fast könnte man denken, man mute den Menschen etwas Ungehöriges, eine unnötige Last extremer Frömmigkeit zu, wenn man sagt, das sei nicht das, was Christsein ausmache. Aber hier soll keine Last auferlegt werden. Das lebendige Christsein ist nicht das »Sonderpfündlein« extrem frommer Menschen. Es geht um eine offene Tür: Das Leben mit Gott im Alltag des Lebens steht uns offen. Wir verpassen so viel, wenn wir daran vorübergehen.
Das gilt im Übrigen für alle Menschen: Dass unser Glaube lebendig ist und lebendig bleibt, ist ja nicht einfach ausgemacht oder durch einen Entschluss, den wir irgendwann einmal gefasst haben, für immer entschieden. Es braucht etwas, das Martin Luther in der ersten der 95 Thesen als »tägliche Buße« bezeichnet hat. Es braucht ein tägliches Neuanfangen, ein Heimkehren nach längerer Abwesenheit oder ein erstauntes Beginnen, wenn jemand schon lange der Form nach dazugehört hat und nun entdeckt, dass es im Glaubensleben mehr gibt als die Mitgliedschaft in einer ehrwürdigen religiösen Institution.
Vielleicht geht es vor allem um die Sehnsucht: die Sehnsucht nach der lebendigen Beziehung des Jüngers oder der Jüngerin zum Meister, des Sohnes oder der Tochter zum Vater, des Geschöpfes zum Schöpfer.
Mündig
Das Christsein soll nicht nur lebendig sein, sondern auch mündig werden. Mündig wird man in unseren Breiten mit 18 Jahren. Das schließt Rechte und Pflichten ein, die man erwirbt, weil einem nun Selbstständigkeit zugetraut wird und die Fähigkeit, eigenständige Urteile zu fällen. Ein mündiger Mensch spricht für sich selbst. Er ist aber auch haftbar, verantwortlich für sein Tun.
Immanuel Kant schrieb im Jahr 1784: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ›Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‹ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«5
Nun könnte man zusammenzucken: Geht es in diesem Buch um Aufklärung? Oder man könnte zweifelnd fragen: Seit wann sollte solche Mündigkeit ausgerechnet mit dem Glauben zusammenhängen? Ist nicht der Glaube das beste Mittel, um Menschen auch weiterhin in Unmündigkeit verharren zu lassen?
In der Tat ist das, worum es hier geht, nicht dasselbe, was Kant vorschwebte, denn beim Christsein geht es darum, sich »mit Leitung eines anderen« seines Verstandes zu bedienen. Aber es geht auch darum, sich seines Verstandes zu bedienen und zu eigenständigem Urteilen, Entscheiden und Wollen aus Glauben zu finden. Das verbinde ich mit der Behauptung, dass der Glaube mündig macht, frei und nicht ängstlich, entscheidungsstark und nicht zögerlich, urteilsfähig und nicht fremdgesteuert. Mündig wäre ein Glaube, dessen erkennbare Frucht innerlich erwachsene Menschen sind, die in der Lage sind, ihr Leben zu gestalten, Probleme zu bewältigen, Grenzen auszuhalten und ihr Potenzial abzurufen, wie es auf Fußballerisch immer so schön heißt. Es darf in unseren Gemeinden nicht nur um die Frage gehen, wie Erwachsene zum Glauben finden, sondern es muss auch um die Frage gehen, wie Glaubende erwachsen werden.
Mich leitet an dieser Stelle seit Langem ein Abschnitt aus dem Epheserbrief, der diese Zielvorgabe vitaler Gemeinden präzise beschreibt:
Derselbe [Christus] war es auch, der jedem seine Gaben geschenkt hat: Die einen hat er zu Aposteln gemacht. Andere zu Propheten oder zu Verkündern der Guten Nachricht. Und wieder andere zu Hirten oder Lehrern. Deren Aufgabe ist es, die Heiligen für ihren Dienst zu schulen. So soll der Leib von Christus aufgebaut werden. Am Ende sollen wir alle vereint sein im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes. Wir sollen zu vollendeten Menschen werden und reif genug, Christus in seiner ganzen Fülle zu erfassen. Denn wir sollen nicht mehr wie unmündige Kinder sein – ein Spielball von Wind und Wellen im Meer zahlreicher Lehren. Sie sind dem falschen Spiel von Menschen ausgeliefert, die sie betrügen und in die Irre führen. Dagegen sollen wir an der Wahrheit festhalten und uns von der Liebe leiten lassen. So wachsen wir in jeder Hinsicht dem entgegen, der das Haupt ist: Christus.
Epheser 4, 11-15
Der Apostel markiert hier sozusagen die Bildungsziele einer vitalen christlichen Gemeinde. Da gibt es begabte und beauftragte Menschen, die vielleicht sogar ein Amt bekleiden. Deren vornehmste Aufgabe besteht darin, »die Heiligen für ihren Dienst zu schulen« oder nach Luther »zuzurüsten«. Und dann wird beschrieben, wie der Glaube mündig wird. Der Glaubende kann das Geheimnis Christi tiefer und umfassender erfassen. Erkenntnis wächst – das hat mit Wissen und Nachdenken zu tun. Der Glaube verlässt ein Stadium, in dem er unmündig war, nur an andere angelehnt, abhängig von Stimmungen, auf »Milch« angewiesen statt auf »feste Speise« (vgl. Hebräer 5, 11-14). Der Glaube wird urteilsfähig, er kann die Geister unterscheiden (z.B. 1. Johannes