Dr. Sonntag Box 4 – Arztroman. Peik Volmer

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Название Dr. Sonntag Box 4 – Arztroman
Автор произведения Peik Volmer
Жанр Языкознание
Серия Dr. Sonntag
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740972318



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fahren nach München!«

      »Wann?«

      »Jetzt. Sofort. Wir brauchen die passende Garderobe. Ich werde mich nicht als die Landpomeranze outen, die ich vermutlich bin. Ich will was Schickes fürs Essengehen und was Raffiniertes fürs Theater. Oder umgekehrt. Und du brauchst was Elegantes und was Legeres. Los! Kaufingerstraße, wir kommen!«

      *

      Wenn es die Redewendung ›über seine Verhältnisse leben‹ nicht schon gäbe, für das, was Maria da tat, hätte man sie erfinden müssen. Sorgenvoll betrachtete Tassilo seine Angebetete, die sich wie im Rausch durch die gegenwärtige Mode probierte. Andererseits, dachte er im Stillen, konnte man ihr nicht den Vorwurf machen, das sie mit Geld um sich warf, im Gegenteil. Seit sie zusammen waren, hatte sie sich nicht ein einziges Mal etwas zum Anziehen gekauft. Und der Urlaub war, sozusagen, gratis und franko. Warum sollte sie nicht ihre Freude haben? Außerdem brauchte sie tatsächlich etwas Schickes zum Anziehen. Er hatte nämlich etwas ganz Besonderes vor an Bord. Er grinste breit beim Gedanken an seine Überraschung.

      Gut, dass die meisten Läden, in denen Damen einkauften, ›Männerecken‹ eingerichtet hatten, in denen er neben seinen Leidensgenossen Platz nehmen konnte. Je nach dem Preisniveau des Geschäfts traktierte man die Träger der Einkaufstüten mit Mineralwasser oder sogar einem Gläschen Sekt.

      Sein Einkauf gestaltete sich wesentlich unkomplizierter. Die Jacketts saßen perfekt, die Hosen mussten gekürzt werden. Maria bestand noch auf dem Erwerb von drei schicken Krawatten und einigen eleganten Hemden.

      »Du kannst zu den schicken Anzügen ja wohl kaum deine Polohemden oder diese Flanell-Dinger anziehen, in denen du wie ein kanadischer Holzfäller aussiehst!«

      »Ich hatte keine Ahnung, dass dir meine Hemden so zuwider sind! Warum sagst du denn nichts?«

      »Ich habe ja schon heimlich einige von den Dingern in die Altkleider-Sammlung gegeben!«

      »Maria! Wie konntest du! An jedem Hemd hängen wunderbare, wehmütige Erinnerungen an meine Jugend!«

      »Bist du sicher? Wenn dem so ist, fand deine Jugend vor langer Zeit statt. Vor sehr langer Zeit! Außerdem hast du noch nicht mal gemerkt, dass welche fehlen!«

      »Aber die waren doch noch gut, bei der Qualität! Unverwüstlich!«

      »Unverwüstlich bis auf die Manschetten und die Krägen. Die waren so abgewetzt, dass sie kurz vor der Auflösung standen!«

      Tassilo seufzte. Zugegeben: Die Dinger waren teilweise wirklich ramponiert und ziemlich verwaschen. Aber er trug sie meistens bei der Arbeit, da interessierte sich keiner für seinen Aufzug.

      »Wünscht der Herr noch weitere Accessoires? Halstücher? Oder Einstecktücher?«, erkundigte sich die Verkäuferin mit affektierter Liebenswürdigkeit.

      Tassilo schüttelte energisch den Kopf. Maria packte ihn am Arm.

      »Ja, der Herr wünscht!«, behauptete sie.

      *

      »Kennen wir uns nicht?«, fragte Severin Pastötter den aufgeregten Oberarzt. Seine Begleiterin sah den Kommissar überrascht an.

      »Ich … äh … meine Tochter! Unsere Tochter! Sie ist verschwunden!«

      »Sie haben eine Tochter, Herr Doktor Cortinarius?«

      »Felicitas. Sie ist acht Jahre alt und heute nicht beim Foto-Kursus gewesen!«

      »Dass sie längst zu Hause vor dem Fernseher sitzt, halten Sie für ausgeschlossen?«

      »Da haben wir bereits nachgesehen, Herr Kommissar. Wir haben alle abtelefoniert, bei denen sie sein könnte. Und an allen Orten nachgesehen, an denen sie sich bevorzugt aufhält. Sie ist nirgendwo!«

      »Sie sind die Mutter des Mädchens, Frau …?«

      »Ja, bin ich. Kühn. Ricarda Kühn!«

      »Nun, Frau Kühn, Herr Doktor Cortinarius … Gut, dass Sie sich entschlossen haben, Anzeige zu erstatten. Bei Erwachsenen sind wir etwas langsamer, denn die dürfen sich aufhalten, wo sie mögen. Aber Kinder unterstehen der Aufsichtspflicht. Gab es irgendeine Kontaktaufnahme? Eine Lösegeldforderung oder so? Nein? Bitte, regen Sie sich nicht auf. Die meisten Kinder sind innerhalb von 24 Stunden wieder zu Hause. Sagen Sie mir nur, seit wann Ihre Tochter – Felicitas, richtig? – vermisst wird und wann und wo sie zuletzt Kontakt mit ihr hatten! Ach ja … Ein Foto des Mädchens haben Sie nicht zufällig …?«

      »Selbstverständlich!«, rief der Oberarzt aus und zog aus seiner Brieftasche ein Passbild seiner Tochter.

      Mit den Angaben der Eltern zog er sich kurz in sein Zimmer zurück und kehrte zufrieden zurück.

      »So. Eine Funkstreife ist bereits unterwegs zur Schule, und in den Landkreisen Miesbach, Rosenheim und Bad Tölz sind die Kollegen angewiesen, die Augen offen zu halten. Das Foto habe ich der Suchmeldung beigefügt, Ihr Einverständnis vorausgesetzt.«

      »Entschuldigung, wo ist ihre Toilette?«, fragte Ricarda Kühn.

      »Einmal durch die Glastür hindurch, zweite Tür auf der linken Seite, meine Dame!«, deklamierte Kommissar Pastötter.

      Die Dame zog sich zurück.

      Severin Pastötter senkte die Stimme.

      »Ihnen geht es gut, Herr Doktor? Alles wieder im Lot?«

      »Ja. Ich bin drogenfrei, und ich habe – dank der Großzügigkeit meines Chefs – meine Stelle wieder!«

      »Und, wie ich höre, sind Sie außerordentlich tüchtig und außerordentlich beliebt, Herr Cortinarius!«

      »Woher wissen Sie das?«

      »Ach, ich habe da so meine Informanten«, lachte der Kommissar und dachte dankbar an Frau Fürstenrieder, die niemals Klatsch verbreitete, es sei denn, es handelte sich um etwas Freundliches.

      *

      »Komisch, wie sich die Dinge entwickeln, oder, Kilian?«, fragte Ricarda. »Noch bis vor kurzer Zeit hätte ich angenommen, dass du schuld bist am Verschwinden unserer Tochter. Jetzt weiß ich, dass du genauso viel Angst um sie hast wie ich.«

      Ihre Stimme klang dankbar, als sie fortfuhr: »Es ist schön, in dieser Situation nicht allein zu sein.«

      Er legte seinen Arm um ihre Schultern.

      »Das geht mir auch so, Ricarda. Fast wie damals, als wir uns kennenlernten, oder?«

      Er lächelte. Dann wurde er ernst.

      »Du hast dir damals nicht viel aus mir gemacht, oder? Das Ganze war ja wohl nur eine Scharade.«

      Sie trat vor ihn hin.

      »Bitte, Kilian, das darfst du nicht glauben! Ja, gewiss, zu Beginn war das alles nicht ernst gemeint. Aber ich habe etwas für dich empfunden. Liebe war es nicht wirklich. Du warst so unsicher, so ängstlich – und du hast so darum gekämpft, als starker Mann dazustehen. Man musste dich gern haben. Vielleicht war es eher Mitleid oder eine Art Mutterinstinkt. Aber stell’ dir vor: Ich war dir immer treu! Warum, glaubst du, lebe ich mit Fee allein?«

      »Sie hasst es, wenn du sie ›Fee‹ nennst!«

      »Ich weiß!«

      Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. Er spürte am Zittern ihres Körpers, wie sehr sie bemüht war, ihre Tränen zu unterdrücken.

      »Sie wird bestimmt wieder auftauchen, Ricarda. Sie ist doch ein verständiges, kluges Mädchen! Es ist bestimmt nichts Schlimmes passiert!«

      »Wenn sie wieder zurückkommt, schicke ich sie in einen Kursus für Selbstverteidigung! Und zum Judo! Und Karate!«

      »Das machen wir so«, stimmte der Oberarzt zu.

      Sie blickte an ihm hoch.

      »Inzwischen bist du ein starker Mann«, bemerkte sie. »Früher warst du ein verunsicherter Junge. Aber jetzt bist du ein starker, richtiger Mann.«