Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Читать онлайн.
Название Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen
Автор произведения Emile Zola
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788075835802



Скачать книгу

wurde. Logre kam aus dem Zorn nicht mehr heraus; Florent erkannte in ihm den guten Ausrufer aus dem Pavillon für Seefische wieder, der mit vorgestreckter Kinnlade, fest auf die Hacken gestützt wie ein bellender Hund, mit fuchtelnden Armen die Ziffern unter die Menge schleuderte. Gewöhnlich sprach er über Politik mit derselben wütenden Miene, mit der er einen Korb Seezungen zur Versteigerung brachte. Charvet seinerseits ward immer kühler in dem Rauch der Pfeifen und des Gaslichtes, mit dem das enge Kabinett sich füllte; seine Stimme ward trocken und schneidig, wie ein Hackmesser, während Robine sanft mit dem Kopfe wackelte, ohne das Kinn von dem Knopfe seines Stockes zu entfernen. Schließlich kam man infolge einer Bemerkung Gavards auf die Frauen zu sprechen.

      Die Frau, erklärte Charvet rundheraus, ist dem Manne gleich und darf darum im Leben ihm keine Last sein. Die Ehe ist einfach eine Gesellschaftsverbindung ... Alles zu gleichen Hälften; ist's nicht so, Clémence?

      Gewiß, erwiderte die junge Frau, den Kopf an die Glaswand gelehnt und in die Leere starrend.

       Doch Florent sah jetzt den Marktkrämer eintreten, und den starken Alexander, den Freund des Claude Lantier. Diese beiden Männer hatten lange an dem anderen Tische des Wirtshauses gesessen; sie gehörten nicht derselben Gesellschaftsklasse an, wie die Herren im Extrazimmer. Aber die Politik führte sie zusammen. Charvet, in dessen Augen sie das Volk darstellten, belehrte sie sehr energisch, während Gavard als vorurteilsfreier Geschäftsmann mit ihnen anstieß. Alexander war ein froh gesinnter Riese, mit der Miene eines zufriedenen, großen Kindes. Der alternde und verbitterte Lacaille, erschöpft von seinen allabendlichen Wanderungen durch die Straßen von Paris, betrachtete zuweilen mit argwöhnischen Augen die spießbürgerliche Ruhe, die guten Schuhe und den dicken Überrock des Herrn Robine. Lacaille und Alexander ließen sich noch ein frisches Gläschen einschenken, und jetzt, da die Gesellschaft vollständig war, wurde das Gespräch lebhafter als bisher fortgesetzt.

      Durch die halb angelehnte Türe des Kabinetts sah Florent wieder Fräulein Saget, die vor dem Schankpulte stand. Sie hatte eine Flasche unter der Schürze hervorgezogen und sah Rose zu, die die Flasche mit einem großen Maß Johannisbeersaft und einem kleinen Maß Branntwein füllte. Dann verschwand die Flasche abermals unter der Schürze; die Hände versteckt haltend plauderte Fräulein Saget eine Weile in dem breiten, hellen Widerschein des Schankpultes gegenüber dem Spiegel, in dem die Likörflaschen und die Becher aussahen wie eine Reihe venezianischer Lampions. Des Abends schimmerte das überheizte Lokal im vollen Glanze all seiner Einrichtungsgegenstände von Metall und Glas. Das alte Mädchen in seinen schwarzen Kleidern bildete einen dunklen Fleck – gleich einem Käfer – in allem grellen Lichte. Als Florent sah, daß sie versuchte, Rose ins Gespräch zu ziehen, vermutete er, daß sie durch die halb offene Tür ihn bemerkt habe. Seitdem er in den Dienst der Hallen eingetreten war, begegnete er ihr auf Schritt und Tritt in den bedeckten Gängen zumeist in Gesellschaft der Frau Lecoeur und der Sarriette; alle drei beobachteten ihn dann verstohlen und schienen sehr erstaunt, ihn in seiner neuen Stellung als Aufseher zu sehen. Rose war ohne Zweifel wortkarg, denn Fräulein Saget kehrte sich einen Augenblick um und schien sich Herrn Lebigre nähern zu wollen, der an einem der Tische mit einem Gaste Karten spielte. Schließlich war es ihr gelungen, sich ganz sachte an die Glaswand des Kabinetts zu stellen; doch da ward sie von Gavard erkannt, der sie verabscheute.

      Schließen Sie doch die Türe, Florent, rief er laut. Man kann nicht mehr unter sich sein.

      Als Lacaille um Mitternacht sich entfernte, wechselte er mit Herrn Lebigre einige Worte im Flüstertone. Dieser reichte ihm mit einem Händedruck verstohlen vier Fünffrankenstücke und raunte ihm ins Ohr:

      Dafür haben Sie morgen zweiundzwanzig Franken zurückzuzahlen; die Person, die das Geld leiht, will es nicht billiger machen ... Vergessen Sie auch nicht, daß Sie drei Tage Karrenmiete schuldig sind. Es muß alles bezahlt werden.

      Herr Lebigre wünschte jetzt den Herren gute Nacht; er gehe nun schlafen, sagte er; und er gähnte leicht, wobei er seine großen Zähne zeigte, während Rose ihn mit der Miene einer unterwürfigen Magd betrachtete. Er trieb sie zur Eile an und gebot ihr, das Gaslicht im Kabinett auszulöschen.

      Auf dem Fußweg strauchelte Gavard, daß er schier hinfiel. Da er heute seinen witzigen Tag hatte, sagte er:

      Alle Wetter! ich bin auch nicht auf Weisheit gestützt.

      Man fand dies sehr spaßig und trennte sich. Florent kam öfter in diese Kneipe; er gewöhnte sich an den Glasverschlag, an den schweigsamen Robine, den geräuschvollen Logre, den kühlen Haß Charvets. Wenn er des Nachts heimkehrte, ging er nicht sogleich zu Bette. Er liebte diese Dachstube, diese Jungfernkammer, wo Augustine allerlei mädchenhaften Tand zurückgelassen hatte. Auf dem Kaminsims lagen noch Haarnadeln, Schachteln von vergoldetem Papier, voll mit Knöpfen und Pastillen, aus Büchern ausgeschnittene Bilder, leere Pomadentöpfe, die noch immer nach Jasmin rochen. In dem Schubfache des Tisches – eines schlechten Tisches von weichem Holze – fand er Zwirn, Nähnadeln, ein Gebetbuch neben einem stark abgegriffenen »Traumdeuter«; ein weißes Sommerkleid mit gelben Punkten hing vergessen an einem Nagel, während auf dem Brett, das ihr als Toilettentisch gedient, ein umgestürztes Ölfläschchen einen breiten Fleck zurückgelassen hatte. In dem Schlafzimmer einer Frau zu hausen wäre für Florent peinlich gewesen; allein von dem ganzen Raume, von dem schmalen Eisenbett, von den zwei Strohsesseln, selbst von der grauen Papiertapete stieg ein Geruch von treuherziger Dummheit, der Geruch eines dicken, kindischen Mädchens auf. Er war glücklich ob der Reinlichkeit der Vorhänge, ob der kindischen Spielerei mit den vergoldeten Schachteln und dem Traumbuche, ob der linkischen Koketterie, mit der die Wände bekleckst worden. Dies erfrischte ihn; es führte ihn in die Traumwelt seiner Jugend zurück. Er hätte gewünscht, Augustine mit ihrem kastanienbraunen Haar nicht zu kennen; er hätte glauben mögen, daß er bei einer Schwester sei, einem braven Mädchen, das in den geringsten Dingen die Anmut des erwachenden Weibes um sich her verbreitet.

      Des Abends bot es ihm eine große Zerstreuung, sich an das Fenster des Mansardenstübchens zu lehnen. Dieses Fenster war eigentlich ein schmaler Balkon im Hausdache, ein Balkon mit hohem eisernen Geländer, wo Augustine einen Granatenbaum in einem Kübel hegte. Seitdem die Nächte kalt waren, nahm Florent den Granatenbaum des Abends in seine Stube und ließ ihn über Nacht am Fuße des Bettes stehen. Er pflegte einige Minuten am Fenster zu bleiben, sog kräftig die frische Luft ein, die von der Seine kam, über die Häuser der Rivoli-Straße hinweg. Unten konnte er undeutlich die Dächer der Hallen ihre grauen Felder ausdehnen sehen. Sie glichen stillen Seen, in deren Mitte der flüchtige Widerschein irgendeiner Fensterscheibe den Silberschimmer einer Welle tanzen ließ. Weiterhin lagen die Dächer des Fleischpavillons und des Geflügelpavillons in einem noch tieferen Dunkel; sie glichen nur mehr einer Anhäufung von Schatten, die den Horizont zurückdrängten. Er freute sich des großen Stück Himmels, das er vor sich hatte, dieser ungeheuren Ausdehnung der Hallen, die ihn inmitten der engen Gassen von Paris unbestimmt an einen Meeresstrand erinnerten mit dem stillen, schieferfarbenen Wasser einer Bucht, das kaum von dem fernen Rollen der Wogen gekräuselt wird. Hier stand er selbstvergessen und träumte jeden Abend von einer anderen Meeresküste. Es stimmte ihn sehr traurig und sehr froh zugleich, wenn er sich in die Erinnerungen an jene trostlosen acht Jahre versenkte, die er außerhalb Frankreichs verbracht hatte. Dann schloß er fröstelnd das Fenster. Oft, wenn er vor dem Kamin seinen falschen Kragen abknöpfte, beunruhigte ihn die Photographie von August und Augustine; Hand in Hand, mit ihrem matten Lächeln, sahen sie ihm zu, wie er sich entkleidete.

      Die ersten Wochen, die Florent im Pavillon für Seefische zubrachte, waren sehr peinlich. Bei der Familie Méhudin war er auf eine offene Feindschaft gestoßen, die ihn mit dem ganzen Markt in Fehde brachte. Die schöne Normännin wollte sich an Lisa rächen, und der Vetter war ein gefundenes Opfer.

      Die Méhudine stammten aus Rouen. Die Mutter Louisens erzählte noch, wie sie mit einem Korb voll Aale nach Paris gekommen war. Sie war dann beim Fischhandel geblieben. Sie heiratete daselbst einen Steuerbeamten, der bald starb, ihr zwei kleine Töchter zurücklassend. Ehemals hatte sie dank ihrer frischen Farbe und ihrer breiten Hüften den Zunamen »die schöne Normännin« geführt. Später hatte ihre ältere Tochter diesen Titel geerbt. Heute war sie gesetzt und schlapp und trug ihre fünfundsechzig Jahre als Matrone, der die ewige Feuchtigkeit in der Fischabteilung die Stimme heiser gemacht und die Haut blau gefärbt hatte;