Manipuliert. Teri Terry

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Название Manipuliert
Автор произведения Teri Terry
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783649629078



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nicht.

      Kai erklimmt die Leiter und schaut über die Reling. Sein bleiches Gesicht wird noch fahler.

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      Ich kämpfe den Klumpen im Hals zurück und räuspere mich. »Hallo. Darf ich an Bord kommen?«

      Keine Antwort. Einzig das sanfte Schlagen der Wellen und die gedämpften Schreie der Möwen sind zu hören. Und das unmelodiöse Summen des Mannes, der keinerlei Notiz von mir nimmt. Mit geschlossenen Augen wiegt er sich neben Menschen, die wohl seine Familie waren. Unwillkürlich muss ich immer wieder hinschauen.

      Natürlich habe ich schon etliche Tote gesehen. Ich habe Leichen jeden Alters, jeder Größe und Statur zum Scheiterhaufen geschleppt, erst in Newcastle, dann in Killin. In den Augenblicken konnte ich es immer ausblenden, aber die Toten verfolgen mich. Wenn ich zur Ruhe komme, lauern sie schon in meinem Kopf, kriechen aus den hintersten Ecken hervor und erscheinen in meinen Träumen.

      Trotzdem habe ich so etwas noch nie erlebt. Der Mann hat die Leichen vor sich auf dem Deck drapiert und dort liegen sie offenbar schon eine ganze Weile. Verwesung hängt in der Luft, dieser grauenhafte Gestank von verrottetem Fleisch. Er brennt sich in die Nase und in mein Gehirn, und ich weiß, dass auch diese Toten mich heimsuchen werden, und ich kann nichts dagegen tun.

      Das Boot ist ein Mausoleum und ich möchte am liebsten Reißaus nehmen.

      Doch ich kann den Mann nicht allein lassen. Keine Ahnung, wie lange er schon hier ist, aber er hat sich nicht angesteckt, also muss er gegen die Krankheit immun sein. Wenn ich ihn hier allein mit den Geistern der Toten zurücklasse, verhungert er.

      Ich steige an Bord, mache einen Bogen um die Toten und trete zu dem Mann mit den schmalen Schultern und dem dunklen Haar. Er lässt den Kopf hängen.

      »Wie heißen Sie?«, frage ich.

      Er schaut nicht auf, antwortet auch nicht, aber sein Summen gerät kurz ins Stocken.

      »Ich bin Kai.«

      Diesmal bewegt er den Kopf ein wenig. Er sieht mich einen Moment lang an.

      Ich setze mich neben ihn, lehne mich an die Reling. »Ist das Ihre Familie? Das tut mir leid.«

      Keine Reaktion. Er summt ein wenig lauter, als wollte er mich ausblenden.

      »Brauchen Sie etwas zu trinken?« Ich ziehe die Wasserflasche aus meinem Rucksack, halte sie ihm hin, stupse ihn an. Er zuckt zusammen, sieht auf.

      »Bitte.« Ich halte ihm die Flasche an den Mund, benetze seine Lippen. Er leckt sich darüber, legt den Kopf in den Nacken, und ich halte die Flasche so, dass er trinken kann. Er schluckt, hustet, dreht den Kopf weg.

      »Das hat doch alles keinen Sinn«, raunt er. »Ich warte auf den Tod. Das hilft doch nicht.«

      »Fühlen Sie sich denn krank?« Er schüttelt den Kopf. »Sie müssen immun sein wie ich.«

      Keine Antwort. Er schlingt die Arme wieder um die Knie, wiegt sich. Auch ich lehne mich wieder zurück. Es gibt nichts, womit ich ihm helfen könnte. Ich kann mir nicht mal ausmalen, welche Schmerzen er gerade empfindet. Ich bin so hilflos und plötzlich ist da wieder diese Wut. Das Blut schießt mir durch den Körper und ich balle die Fäuste. All dieses Leid! Was dieser Familie widerfahren ist und Callie und so vielen anderen auch – all die Toten, die ich zum Scheiterhaufen getragen habe. In England und dem übrigen Teil von Schottland sieht es wahrscheinlich inzwischen noch schlimmer aus.

      Und jemand ist dafür verantwortlich. Das ist keine Laune der Natur, kein mutierter Grippevirus oder ein neuer Erreger von einer Mücke oder einem Affen aus dem Urwald. Jemand hat ihn erschaffen.

      Ich schlage mit der Faust auf den Boden und schreie meine Wut heraus.

      Der Mann dreht sich erstaunt um, hört auf zu summen.

      Ich kann nicht aufhören, schlage noch mal zu. »Das ist so ungerecht! Was mit Ihrer Familie passiert ist, mit Ihnen. Mit mir. Mit der Welt. Das ist nicht fair!«

      »Alles meine Schuld«, wispert der Mann. »Sally wollte schon vor Ewigkeiten fort.« Seine Stimme ist heiser, und ich fange mich wieder ein wenig, halte ihm die Wasserflasche hin. Diesmal nimmt er sie selbst in die Hand, trinkt einen großen Schluck und reicht sie mir zurück. »Ich wollte bleiben, dachte, das klärt sich schon, die finden ein Gegenmittel. Uns geschieht schon nichts. Als mich meine Frau endlich überredet hatte, war es zu spät. Die Kinder wurden bereits unterwegs krank.«

      »Und was wollen Sie dagegen machen?«

      »Wogegen? Was meinst du?«

      »Hören Sie zu.«

      Er schüttelt den Kopf, schlingt die Arme um die Knie, schaukelt. Summt wieder.

      Aber ich erzähle ihm trotzdem alles. Von Shay, dass sie eine Überlebende ist und was wir auf den Shetlandinseln wollten. Wo die Krankheit ihren Anfang nahm, nämlich hier in einem unterirdischen Labor. Dass jemand diese Krankheit mit Absicht erschaffen hat, dass die Armee irgendwie mit drinsteckt. Dass die Schuld haben und nicht er. Dass Shay sich der Royal Airforce ausgeliefert hat, sobald ihr klar wurde, dass sie Trägerin ist. Dass wir jetzt zurück aufs Festland nach Schottland müssen, damit endlich die, die dafür verantwortlich sind, bezahlen.

      Er schaut mich die ganze Zeit nicht an. Tut so, als gäbe es mich nicht, als gäbe es ihn nicht, als gäbe es gar nichts.

      Als ich fertig bin, herrscht Schweigen. Langes Schweigen.

      Doch dann hält er inne.

      Er schaut nicht auf. Sagt irgendwas, was ich nicht verstehe, weil er mit den Knien vorm Gesicht nuschelt.

      »Was haben Sie gesagt?«

      Er blickt mich an. Noch immer ist er blass, aber in die trüben Augen ist Leben gekommen, ein Funken Wut, Feuer.

      »Bobby. Ich heiße Bobby.« Er hält mir die Hand hin und ich packe sie, halte sie fest.

      Bobby lehnt sich an mich und weint.

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      Es gibt noch ein kleines Rettungsboot und darein legen sie Bobbys Familie. Kai versucht, Bobby zu helfen, doch der will es allein machen, nimmt sich lange Zeit, damit alle richtig liegen – die beiden Mädchen an der Seite der Mutter und der kleine Junge auf ihrem Bauch. Die Kinder bekommen ihr Lieblingsspielzeug dazu. Als er sie dann mit zitternden Händen in eine weiche Decke einschlägt, steht ihm die Liebe und Fürsorge ins Gesicht geschrieben, auch noch, als er sie mit Benzin übergießt. Bobbys Tränen sind getrocknet, als hätte er alle verweint, doch Kai sieht aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen.

      Bei Anbruch der Dämmerung manövriert Bobby das Segelboot mit dem Motor aus der Höhle und aufs offene Meer hinaus, das Rettungsboot im Schlepptau. Die Wellen schlagen höher, der Wind hat aufgefrischt. Sobald sie weit genug von der Küste entfernt sind, zieht Bobby das Rettungsboot heran.

      Nun braucht er doch Kais Hilfe. Er bringt es nicht übers Herz.

      Mit einem Streichholz entzündet Kai die selbst gebastelte Fackel. Er hält sie kurz hoch, bevor er sie ins Rettungsboot wirft. Als sie sicher sind, dass es Feuer gefangen hat, stoßen sie es mit einem Ruder fort. Die Flammen tanzen in den Himmel.

      Später gibt Bobby Kai Kommandos, und gemeinsam – mit Bobbys Wissen und Kais Kraft – schaffen sie es schließlich, die Segel zu setzen. In der sternenklaren Nacht und an dem folgenden Tag trägt uns ein gleichmäßiger Wind nach Schottland.

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      Der Jachthafen von St. Andrews liegt verlassen da, als Bobby sanft am Pier anlegt. Ich klettere über Bord, löse die Taue und schlinge sie um die Poller.

      Wir haben überlegt,