Der letzte Leopard. Lauren St John

Читать онлайн.
Название Der letzte Leopard
Автор произведения Lauren St John
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783772543432



Скачать книгу

warf die Tasse weg und sprang auf die Füße.

      «Autsch!», rief Red, als sich der brühend heiße Tee über seine Hand ergoss. «Hey, was soll das?»

      «Er ist abgestürzt», hörte sich Martine selbst in der Stimme einer Erwachsenen sagen. «Schnell ein Seil, er ist abgestürzt.»

      Sofort stürmte sie den sich steil bergaufwärts windenden felsigen Pfad hoch, schneller als sie je in ihrem Leben gelaufen war, mit kurzen, schmerzvollen Atemstößen. Als sie am Grat oben ankam, war ihr sofort klar, was geschehen war. Ein Zacken eines überhängenden Vorsprungs fehlte – als habe ein Dinosaurier mit Zahnlücke in den Grat gebissen. Martine näherte sich dem Abgrund. Sofort stürzten eine Menge losgelöster Schiefersteine in die Tiefe.

      «Ben!», rief sie, verzweifelt hoffend, dass es vielleicht doch eine harmlose Erklärung für sein Verschwinden gab. Red und Jeff kamen mit ihrer Kletterausrüstung rasch hinterher. Sie legte sich flach auf den Bauch. Wenn noch ein Stück vom Felssims in die Tiefe stürzte, dann wäre sie wenigstens mit einem Teil ihres Körpers auf festem Boden. Langsam kroch sie bis an den Rand des Grates. Das grollende Tosen des Wasserfalls trommelte gegen ihre Ohren, und ihr Gesicht wurde von der aufschäumenden Gischt pitschnass.

      Mit größter Vorsicht wagte sie einen Blick über den Felsrand. Das hinabstürzende Wasser endete mindestens fünfzig Meter weiter unten in einem wild aufschäumenden Strudelbecken. Dieses war von einem Ring spitzer Felsdorne umgeben, die wie ein tödlicher Staketenzaun aus dem tosenden Nass ragten. Die Chance, dass Ben das Wasser oder die Felsspeere überlebt hatte, war gleich null.

      «Ben!», rief Martine hysterisch. «B-E-E-E-E-N!»

      «Martine!» Kaum hörbar drang Bens schwache Stimme durch das Tosen des Wasserfalls. Sie schien aus dem Boden unter ihrem Bauch zu kommen. «Hier … hier unten!»

      Martine robbte vorsichtig vorwärts. Sie konnte sich nirgends festhalten. Die gähnende Leere unter ihr machte sie schwindlig und schien sie über die Kante nach unten zu ziehen.

      «Hier!», rief Ben nochmals. Und jetzt sah sie ihn. Etwa zehn Meter weiter unten klammerte er sich an den kümmerlichen Stamm eines seitwärts aus dem Felsgestein herauswachsenden Bäumchens, das wie ein Bonsai aussah. Er schien unverletzt, aber er war triefend nass und kreidebleich. Einige mickrige Wurzeln des Baums waren von Bens Gewicht aus dem Fels gerissen worden, und der dünne Stamm dehnte sich gefährlich.

      «Ben!», rief Martine. «Ben, halt dich fest. Hilfe ist unterwegs.»

      Ben antwortete und rührte sich nicht – wahrscheinlich aus Angst, dass ein bloßes Wort oder die kleinste Bewegung die letzten schwachen Wurzelfäden des Bäumchens aus dem Fels reißen würden.

      Gerade als Martine dabei war, sich langsam auf sicheren Boden zurückzuschlängeln, erreichten Red und Jeff den Grat.

      «Wo ist er?», fragte Red ohne Umschweife. Als Martine auf den Abgrund deutete, riss er schockiert seine Augen auf.

      Die beiden Bergsteiger schritten sogleich zur Tat. Mit der Fertigkeit von Profis, die wissen, wie man sich in lebensbedrohenden Situationen zu verhalten hat, konstruierte Jeff einen Art Flaschenzug, den er an zwei hervorspringenden Felsdornen befestigte, während Red mit dem anderen Seilende einen Klettergurt improvisierte und diesen zu Ben hinunterließ. Die ganze Zeit über erklärte er Ben in beruhigendem, fast spaßendem Ton, was er zu tun hatte.

      «Ben, du musst dir jetzt vorstellen, dass du ein Spion bist. Du bist von Laserstrahlen umgeben, die einen Alarm auslösen, wenn du sie durchquerst. Du kannst aus deiner Notlage nur entkommen und deinen Gegenspieler nur unschädlich machen, wenn du es schaffst, diesen Tarnmantel über deinen Körper zu streifen. Fang mit dem Kopf an, ganz langsam – mit klitzekleinen Bewegungen. Super! Du machst das echt gut. Und jetzt lass das Seil über deinen Oberkörper gleiten, bis du mit den Armen in der Schlaufe hängst. Und jetzt ziehe die Schlaufe etwas fester zu …»

      Ohne Warnung rissen sich weitere Wurzeln vom Fels los. Ben kippte vornüber und verlor beinahe das Gleichgewicht. Nun hing er, schwer atmend, über dem feuchten, glitschigen Baumstamm.

      Reds Stimme verriet keine Aufregung. «Hoppla. Kein Problem. Wir holen dich da raus. So, und jetzt versuchst du, ganz vorsichtig aufzusitzen. Vergiss aber die Laserstrahlen nicht – nicht dass du einen Alarm auslöst. Gut. Und jetzt halt dich mit beiden Händen am Hauptseil fest und bewege dich so wenig wie möglich. Jeff, bist du bereit? Gut. Also – los geht’s.»

      Im Moment, als Bens Füße vom grauen Baumstrunk abhoben, löste sich der ganze Baum aus seinem Felsbett. Es ertönte ein Krachen, das an das Brechen von Knochen erinnerte. Holzstücke, Steine und Moosfetzen stürzten in die dampfende Schlucht hinab. Alle vier sahen, wie der Baum in der Tiefe zersplitterte, und sagten kein Wort. Der Gedanke, dass Ben mit ihm abgestürzt und von den Wassermassen erschlagen, von einem Felsdorn aufgespießt oder vom Strudel verschluckt worden wäre, war so unerträglich, dass er keine Worte zuließ.

      Red pfiff durch die Zähne, während er Ben mit Jeffs Hilfe über die Kante auf sicheren Boden hievte. «Das war knapp», sagte er, «aber du würdest bestimmt einen klasse Spion abgeben.»

      Martine war so aufgewühlt, dass sie kaum wusste, wie sie auf Bens Rettung reagieren sollte. «Um ein Haar hätte es dich erwischt», sagte sie und drückte ihn an sich. «Du hättest da runterfallen können.»

      «Bin ich aber nicht», sagte Ben, während er sich behutsam aus ihrer Umarmung befreite. Seine Stimme zitterte, doch ansonsten wirkte er erstaunlich ruhig. Abgesehen von ein paar Kratzern und blauen Flecken war er unverletzt. Er streckte den Bergsteigern die Hand entgegen. «Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich weiß nicht, was wir ohne Sie getan hätten. Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Scherereien gemacht und Sie aufgehalten habe.»

      «Kein Problem», beruhigte ihn Red. «Gut, dass wir in der Gegend waren.»

      Mit einem Blick auf Bens klitschnasse Kleider sagte Jeff: «Du musst so schnell wie möglich aus den nassen Klamotten raus. Wir begleiten euch bis zum Feriendorf zurück, um euch dort wieder heil abzuliefern. Der Berg kann warten.»

      «Nicht nötig», antworteten Ben und Martine wie aus einem Mund.

      «Trotzdem vielen Dank», schob Martine rasch nach, um nicht unhöflich zu wirken. «Meine Großmutter erwartet uns in einer der Blockhütten unten im Tal. Keine Sorge, wir gehen auf direktem Weg zu ihr. Sie wollte ein Feuer im Kamin machen und kocht Ben bestimmt einen Rooibostee oder eine Suppe. Dann wird ihm schnell wieder warm.»

      Doch die Bergsteiger ließen nicht locker und begleiteten sie bis an den Rand des Feriendorfs zurück, wo sie sich von ihnen verabschiedeten. «Wir hätten euch schon zugetraut, auch ohne uns sicher zurückzukommen», sagte Jeff. «Aber Ben hatte ein traumatisches Erlebnis, und die Kombination von Schock und Kälte kann ebenso gefährlich sein wie ein Sturz.»

      «Danke für den Tee und dass Sie Ben gerettet haben», sagte Martine, als sich die Bergsteiger wieder auf den Weg machten. «Tut mir leid, dass ich Ihre Hand verbrüht habe, Red.»

      Zu ihr hinablächelnd sagte er: «Kein Thema. Ende gut, alles gut.» Martine konnte es kaum fassen, wie leicht Jeff und Red eine Beinahe-Katastrophe wegstecken konnten.

      Erst als die Bergsteiger außer Sichtweite waren, wurde Martine und Ben richtig bewusst, was passiert war. Oder was hätte passieren können. Ben begann zu schlottern, und Martine, die sich Vorwürfe machte, weil sie an einer Tasse Tee genippt hatte, während sich Ben dem Abgrund genähert hatte, war voller Schuldgefühle.

      «Es ist geschehen, weil wir uns getrennt haben», sagte sie schaudernd. «Ich hätte dich begleiten müssen. Grace hatte mich ja gewarnt. Sie hatte mir gesagt, dass sich Gefahr an unsere Fersen heften würde, sobald wir uns auf dieser Reise einmal trennen.»

      «Ich weiß, dass Grace eine sehr weise Frau ist», sagte Ben, während er seine rote Fleecejacke abstreifte und die Arme rieb, um sich zu wärmen. «Aber ich bin einzig und allein schuld daran. Es war dumm von mir. Wenn du nicht gewesen wärst, würde ich jetzt in tausend Stücken und mausetot unten in der Schlucht liegen.»

      Martine