Der letzte Leopard. Lauren St John

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Название Der letzte Leopard
Автор произведения Lauren St John
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783772543432



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sehen, was ist passiert. Und jetzt sehe ich dich, mein liebes Kind, mit schelmischem Blick und ein Lächeln auf den Lippen. Was ist denn bloß los mit dir, Kind?»

      Das plötzliche Auftauchen der Sangoma, gerade in dem Augenblick, als sie an sie gedacht hatte, war für Martine wie ein Sonnenstrahl, der durch dunkle Gewitterwolken bricht. «Grace!», rief sie, schoss auf und lief auf sie zu, um sie zu umarmen. «Ich habe gerade an dich gedacht.»

      Grace ließ sich neben ihr auf die Bank sinken. Normalerweise war sie traditionell gekleidet, heute jedoch trug sie einen Rock mit Oberteil in grellem Rosa, ein Halstuch und dazu passende Schuhe in Lila. Grace, die wegen ihrer Vorliebe für ihre selbstgemachten Pfannkuchen an sich schon eine beeindruckende Gestalt war, wirkte in diesem Aufzug noch auffälliger. Sie blickte Martine erwartungsvoll an.

      Martine erzählte Grace von der geplanten Simbabwe-Reise ihrer Großmutter. Zum Schluss nahm sie sich ein Herz und fragte sie: «Grace, darf ich dich um einen Gefallen bitten? Meinst du, ich könnte einen Monat lang bei dir wohnen?»

      Zuerst sagte Grace gar nichts, was die Schmetterlinge in Martines Bauch zum Flattern brachte. Grace würde ihr diesen Wunsch doch nicht etwa ausschlagen? Schließlich sagte die Sangoma: «Du kannst immer wohnen bei mir, Kind, aber nicht dieses Mal.»

      Martine war völlig baff und auch ein wenig verletzt, doch nachdem sie sich diesen perfekten Plan ausgedacht hatte, war sie nicht bereit, unverrichteter Dinge aufzugeben. «Ich weiß, vier Wochen sind eine lange Zeit, aber ich werde mich vorbildlich benehmen», versprach sie. «Du wirst gar nicht merken, dass ich da bin. Ich brauche nicht einmal ein Bett. Ich kann auf dem Sofa oder der Grasmatte schlafen.»

      Doch die nächsten Worte von Grace zerschlugen all ihre Pläne auf einmal. «Und was ist mit der Botschaft von den Ahnen? Die willst du einfach schlagen in den Wind?»

      «Welche Botschaft», sagte Martine, doch dann erinnerte sie sich mit einem Mal. Als sie im letzten Juni mit ihrer Großmutter, Ben und dessen Eltern am Strand spazieren gegangen war, hatte sie im Sand die Zeichnung eines Leoparden entdeckt. Seine Darstellung war so greifbar und genau gewesen, dass selbst die Schnurrhaare und Flecken des Raubtiers in allen Einzelheiten zu erkennen waren. Die Zeichnung war bestimmt erst vor wenigen Minuten in den Sand geworfen worden. Doch abgesehen von ein paar Fischern, die in einiger Entfernung ihren Fang ausluden, und Martines Begleitern weiter vorne war der Strand menschenleer gewesen. Sie rief Ben herbei, um ihm den Leoparden zu zeigen, doch im Sekundenbruchteil, in dem sie der Sandzeichnung den Rücken gekehrt hatte, war diese von einer Welle für immer weggewischt worden.

      Martine erinnerte sich an den Schauder, der ihr damals über den Rücken lief, als die Zeichnung weg war – als wäre sie für sie allein bestimmt gewesen.

      Auch jetzt lief ihr ein Schauder über den Rücken. «Woher weißt du vom Leoparden? Ich war doch die Einzige, die ihn gesehen hat.»

      «Du musst nach Simbabwe fahren», fuhr Grace fort, als hätte Martine kein Wort gesagt. «Was wird geschehen, steht schon geschrieben. Es ist dein Schicksal.»

      Der Telefonanruf, Sadies Unfall, der plötzliche Auftritt von Grace und vielleicht auch der Zwischenfall mit dem Warzenschwein – all diese Ereignisse des heutigen Morgens waren vielleicht kein Zufall gewesen, sondern standen irgendwie miteinander in Zusammenhang. Martine wusste nicht so recht, ob sie diesen Gedanken tröstlich oder nur unheimlich finden sollte.

      Ein Windstoß blies zwei Federn aus dem Eulenkäfig. Sie wirbelten durch die Luft, bis sie neben der Bank quer übereinander auf den Boden fielen und ein X bildeten. Seltsamerweise waren sie weder gefleckt noch gelbbraun wie die Eule selbst, sondern glänzten pechschwarz. Fast – so dachte sich Martine später – wie die Federn eines Adlers.

      Als Grace die Federn sah, wurde sie plötzlich sehr aufgeregt. Sie packte Martines Arm. «Dieser Junge», sagte sie eindringlich. «Dieser ruhige Junge, der Buddhist.»

      Verblüfft fragte Martine: «Ben?»

      «Ja, genau der. Weißt du, jetzt gehört er zu deiner Geschichte. Ihr beide seid verbunden miteinander. Auf eurer Reise nach Simbabwe müsst ihr beiden immer bleiben zusammen. Wenn ihr seid getrennt, kommt Gefahr.»

      Martine konnte mit den Weissagungen und Vorahnungen von Grace nicht immer viel anfangen, aber diese Warnung erschien ihr jetzt durch und durch unvernünftig und unrealistisch. «Wir können nicht immer zusammenstecken», sagte sie Grace. «Ben ist gerne allein, und er begibt sich immer wieder auf Fährtensuche. Überhaupt: Vielleicht erlauben seine Eltern ja gar nicht, dass er mit nach Simbabwe mitkommt.»

      Aber Grace blieb hart. «Ihr müsst bleiben zusammen», sagte sie unerbittlich. «Ihr müsst.»

      Martine lehnte sich auf der Bank zurück und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie, wie Grace die Federn in den Lederbeutel steckte, den sie um den Hals trug.

      «Was bedeutet das alles, Grace? Werde ich je wieder ein normales Leben führen können. Also, ich bin ja froh über meine Gabe, auch wenn ich nicht genau weiß, wozu sie taugt, und ich will so viele Tiere heilen wie möglich, aber es wäre auch schön, einmal ganz normale Schulferien zu verbringen, um auszuruhen, Bücher zu lesen, auf Jemmy zu reiten und all die Dinge zu tun, die andere Kinder tun können.»

      Grace legte ihren Arm fürsorglich um Martines Schulter. «Wie viele Kinder hast du schon gesehen, die haben geritten auf weißen Giraffen? Hm? Wir können den Weg unseres Lebens nicht immer wählen selbst, Kind. Und der Weg, der wurde gewählt für dich, ist kein leichter Weg. Vertraue auf deine Gabe. Deine Gabe wird dich beschützen.»

      Die Wüstenluchse begannen, um ihr Futter zu kämpfen, und Martine musste in ihr Gehege, um sie voneinander zu trennen. Als sie sich umdrehte, war Grace nur noch ein rosa Punkt, der sich über den staubigen Weg entfernte. Sie hatte sich nicht einmal verabschiedet. Jetzt, als Martine ihr hinterherblickte, hob sie eine Hand und winkte, ohne sich umzudrehen.

      Martine setzte sich wieder auf die Bank und starrte mit leerem Blick auf die Tiere im Asyl: die Wüstenluchse mit ihren spitzen Fellöhrchen, die Eule, Shaka, der kleine Elefant, und sein neuer Gefährte, ein Zebrafohlen, das von seiner Mutter verstoßen worden war und jetzt von Tendai mit der Flasche aufgepäppelt wurde. Sie dachte an den Leoparden im Sand. Es war ein außergewöhnlich großer Leopard gewesen. Kauernd, wie zum Angriff bereit. Sie erinnerte sich immer noch an seine Klauen und wie er die Zähne gefletscht hatte.

      Die Wüstenluchse begannen, in ihrem Käfig hin und her zu laufen. Sie mussten etwas gehört haben. Martine blickte auf. Vielleicht war Grace zurückgekommen. Doch es war Ben. Ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht.

      «Ich habe mit meinen Eltern gesprochen», sagte er. «Ich darf mitkommen. Ich fahr mit nach Simbabwe.»

      So leise, dass höchstens die Wüstenluchswelpen sie hören konnten, antwortete Martine: «Ich auch.»

      • 3 •

      Martine legte das Buch nieder, das sie während der letzten hundert Kilometer zu lesen versucht hatte, und rappelte sich genervt in eine einigermaßen bequeme Sitzposition auf. Sie war verkrampft und müde, außerdem war ihr vom Autofahren leicht übel. Ihre Ohren schmerzten vom endlosen Brummen des Landrovers. Sie waren jetzt schon anderthalb Tage unterwegs, und bald würden sie in Rainbow Ridge ankommen und dort übernachten. Martine konnte es kaum erwarten. Autoreisen machten Spaß, solange man durch Felder mit bunter Blumenpracht oder malerische Städtchen fuhr, doch wenn nichts zu sehen war als ein endloses, sich in der Ferne verlierendes Asphaltband, waren Autofahrten das Langweiligste, was man sich vorstellen konnte.

      «Ist es noch weit? Wie lange dauert es noch, bis wir ankommen?», hatte sie ihre Großmutter am ersten Tag immer wieder gefragt, bis diese damit drohte, bis nach Matopos nur noch laute Opernmusik zu spielen, wenn sie nochmals fragen würde.

      Die erste Nacht hatten sie auf halbem Weg zwischen Kapstadt und