Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller. Inger Frimansson

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Название Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445022



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      Dort, im Dschungel. Dort existierte keine Stille. Überall lebte, kroch, pfiff und rieselte es, das Rascheln aus Laubschichten, in denen der Prozess endlos weiterging, ein knabberndes, dampfendes Vermodern, Millionen kleiner, schlemmender Kiefer, die niemals satt zu bekommen waren, die Schreie und das Rauschen des Regens, das Heulen einer Säge.

      Sie hatte Nathan gefragt.

      »Stehen die hier draußen im Dschungel mit einer Kreissäge. Ist es das, was man die Bedrohung der Regenwälder nennt?«

      Er antwortete nicht, zwang sie, sich zu wiederholen. Erst dann drehte er sich um, und seine Augen waren so verändert, wie sie es seit Kuala Lumpur waren, wo Martina zu ihrer Gruppe gestoßen war.

      Es war ein Insekt. Ein Insekt, das dieses ziehende Geräusch auslösen konnte, das ihr durch Mark und Bein ging und sie frieren ließ, obwohl es heiß war.

      Martina ... Sie war im Grunde auch nicht viel mehr als ein Insekt gewesen. So musste sie das sehen. Auf Insekten setzt man seinen Absatz und zermatscht sie. Insekten wie sie, Martina, haben es nicht besser verdient. So musste sie es sehen, genau so.

      Sie selbst war wie das Haus, aus Stille gemacht und gemauert.

      So als bräuchten die Worte Zeit, um Form anzunehmen, um ihren Weg in ihr und aus ihr heraus zu finden.

      Es hatte dazu geführt, dass die Menschen die Geduld verloren.

      Niemand hatte Lust, auf Worte zu warten.

      Einige sahen es als ein Zeichen von Schüchternheit, andere als ein Zeichen von Überheblichkeit. Genau dieses Wort, überheblich, hatte ihre Lehrerin für sie gebraucht, schon nach wenigen Wochen Unterricht. An diesem Morgen, als sie daran dachte, wurde sie von Schwindel erfasst, sank in die Hocke, den Kopf zwischen die Knie gesenkt:

      Flora stand auf dem Flickenteppich, mitten im beigen Feld, na ja, eher isabellfarben, dort stand jetzt Flora, und die schweren, braun geschminkten Augenlider wurden wie kleine Luken hochgezogen.

      »Steh auf, Justine!«

      Nein. Sie sank immer tiefer, in den Teppich hinab, hinein. Flora hatte Stiefel an, die feinen Stiefel mit den Pfennigabsätzen. Von hier aus sah sie deutlich diese Absätze, sah, wie ein kleines Blatt an einem von ihnen klebte, aufgespießt worden war. Floras Hand auf ihrem Scheitel, anfangs noch leicht wie zur Versöhnung. Dann die Finger, die sich krümmten, die Nägel, das Haar, wie ein Eisbrand in seinen Wurzeln, als sie hochgezogen wurde, aaaah ...

      »Du kannst ja doch noch den Mund aufmachen!«

      Wie ein Pendel, hin und her, die kurzen, zerbrechlichen Haare, wie sie rissen.

      Flora stellte sie auf dem Fußboden ab, es war kalt, sie hatte in ihrem Bett gelegen, aber gehört, wie Flora zur Haustür hereinkam. Nur im Nachthemd war sie dann die Treppe hinuntergegangen.

      »Weißt du, was deine Lehrerin mir heute Abend erzählt hat? Weißt du das? Deine Lehrerin sagt, du bist aufsässig. Aufsässig und überheblich hat sie dich genannt. Ich war gezwungen, ihr leider Recht zu geben, ihr zu sagen, Fräulein Messer, leider: Es stimmt.«

      »Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, sie hasst mich.«

      »Nimm nicht solche Worte in den Mund, Justine, niemand hasst dich. Man nennt es Erziehung, und es ist ihre Pflicht gemäß dem Schulgesetz, ihren Schülern Manieren beizubringen.«

      Verzeih mir, verzeih, aber sag, wie ich sein soll, wie ich sie dazu bringen kann, mich zu mögen ...

      »Wenn mir noch einmal Klagen von deiner Lehrerin zu Ohren kommen, werde ich Dinge mit dir machen, dass nicht einmal dein Vater dich noch wiedererkennt.«

      Justine hielt sich die Ohren zu, die Augen traten ihr aus dem Kopf, ihr wurde hässlich und kalt am ganzen Körper, hässlich und siedend heiß. Sie senkte ihr Gesicht. Der gleiche Teppich, dieser?

      Floras kleiner Stiefelfuß, ja, er war klein, sie hatte es Papa sagen hören, als sie nachts im Flur stand und die beiden dachten, sie würde schlafen. Drinnen konnte sie Flora erkennen, nackt und dünn wie ein Mädchen, mit ihren Stiefeln auf dem sauberen Laken.

      Jetzt drückten die gewebten Ketten des Teppichs gegen ihre Schläfe, jede Erhöhung und Unebenheit, der Geruch von kalt gewordenem Essen. Sie presste leicht mit der Sohle, rieb mit dem Fuß über Justines Wange.

      »Ich will, dass du es sagst, laut, dass du ein ekelhaftes und abstoßendes Kind bist, das niemand gern hat!«

      Sie konnte es nicht.

      »Dass du ein verwöhntes und böses und dreckiges Kind bist, das niemand in der ganzen Welt lieben kann, sag es!«

      An mehr konnte sie sich nicht erinnern.

      Es war weg.

      Der Vogel kam, seine pfeifenden Schwingen. Sie kochte zwei Eier, gab dem Vogel das eine und nahm sich selbst das andere. Es war ein großes und gut gewachsenes Tier. Der Vogel schälte sein Ei mit dem Schnabel, verteilte Schale und Eikrümel in der ganzen Küche.

      »Fritz?«, überlegte sie geistesabwesend. »Heißt du vielleicht so?«

      Der Vogel schrie auf, schlug mit den Flügeln und flog ihr auf die Schulter. Sie steckte die Finger in seinen grau gefiederten Bauch und fühlte den Körper darunter wie einen warmen und lebendigen Broiler ganz tief unter den Federn.

      »Ich sollte vielleicht einen Freund für dich anschaffen«, sagte sie leise. »Wir sind wohl beide etwas zu einsam, du und ich.«

      Er schnappte nach ihrem Zeigefinger, nur ganz leicht, hob ihn hoch und stubste ihn wieder weg. Er war einen Tag, nachdem Flora es verlassen hatte, ins Haus gekommen. Justine hatte eine Anzeige in Dagens Nyheter gelesen: »Vogel zu verkaufen aufgrund veränderter Familienverhältnisse, lieb und handzahm.«

      Veränderte Familienverhältnisse. Das galt auch für sie.

      Ohne lange zu überlegen, griff sie zum Telefon. Der Vogel befand sich draußen in Saltsjöbad, und zuerst wollte das Auto nicht anspringen, aber nachdem sie eine Zeit lang mit »Startpilot« unter die Motorhaube gesprüht hatte, sprang er doch noch an. Es war ein alter Opel Rekord, und sie war immer ein wenig nervös, wenn sie ihn fahren sollte, er war ein wenig unzuverlässig.

      An der Kreuzung bei Slussen verfuhr sie sich und kutschierte geraume Zeit planlos durch die Gegend, bis sie die Abfahrt Richtung Nacka entdeckte. Mit großen Bleistiftstrichen hatte sie sich eine Karte gezeichnet. Sie lag neben ihr auf dem Vordersitz, und ihr war es zu verdanken, dass sie schließlich den richtigen Weg fand.

      Das Haus sah gepflegt und freundlich aus wie alle Häuser hier. Sie parkte am Zaun und klingelte. Einen Augenblick später kam ein Mann zur Tür und öffnete ihr. Am Telefon hatte sie mit einer Frau gesprochen. Der Mann war in ihrem Alter, das Gesicht streng und verschlossen.

      Scheidung, dachte sie.

      Er wusste sofort, wer sie war, und bat sie, einzutreten. Im Haus herrschte Chaos. Halb gepackte Kartons standen im Flur verteilt, etwas entfernt sah sie den Boden des Wohnzimmers. Er war mit verstreuten Büchern übersät, so als habe jemand in einem Wutanfall alles aus den Regalen gerissen, was sich in ihnen befand. Aus der Küche drang der Geruch von etwas Angebranntem.

      Dort in der Küche saß auch der Vogel, in einem hohen und verschnörkelten Bauer. Er döste, ignorierte sie völlig.

      »Oh«, sagte sie. »Ich hatte gedacht, es wäre ein Papagei.«

      »Wie sind Sie denn darauf gekommen?«

      »Papageien sind als Haustiere in der Regel etwas weiter verbreitet.«

      »Ja, mag sein. Und jetzt haben Sie kein Interesse mehr?«

      »Doch, doch. Die Art spielt eigentlich keine Rolle.«

      Der Mann zog eine Glaskanne mit tiefschwarzem Kaffee vom Herd.

      »Verdammter Mist, den habe ich in der Eile völlig vergessen.«

      »O je ...«

      Er