Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller. Inger Frimansson

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Название Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445022



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die ihre Mutter gewesen war. Das fremde Gesicht ließ sie eigenartig kalt. Dichtes, nach hinten gekämmtes Haar, an den Seiten gelockt, Justine war ihr nicht einmal ähnlich.

      Es lag eine Distanz in den Augen dieser Frau, die schlecht mit ihren eigenen Vorstellungen von ihr in Einklang zu bringen war.

      Eine steile und enge Treppe führte in die obere Etage. Hier oben hatte die Mutter gestanden und Fenster geputzt. Links lagen die Schlafzimmer, rechts öffnete sich der Flur zu einem Wohnzimmer mit Aussicht auf die Lambarinsel und über den Mälarsee. Bücherregale bedeckten die Wände, nur wenige Möbelstücke: eine Musikanlage, ein länglicher Glastisch und zwei Sessel.

      Sie gehörten Papa und Flora.

      Justine waren mehrmals große Summen für das Haus geboten worden. Die Makler ließen nicht locker, stopften Prospekte in ihren Briefkasten, riefen sogar von Zeit zu Zeit an. Einer von ihnen war besonders aufdringlich. Er hieß Jakob Hellstrand.

      »Sie könnten ein paar Millionen für den Kasten bekommen, Justine«, schwadronierte er und benutzte ihren Namen, als wären sie eng befreundet. »Ich habe einen Kunden, der das Haus umbauen will, er hat immer schon von dieser Lage geträumt.«

      »Es tut mir Leid, aber ich glaube, daraus wird nichts.«

      »Warum denn nicht? Denken Sie einmal darüber nach, was Sie für das Geld alles bekommen könnten. Eine allein stehende Frau wie Sie, Justine, Sie sollten nicht hier draußen in Hässelby hocken und verstauben, kaufen Sie sich stattdessen eine Wohnung in der Stadt und fangen Sie endlich an, richtig zu leben.«

      »Sie wissen wohl kaum, ob ich richtig lebe oder nicht. Vielleicht tue ich das ja schon längst?«

      Er lachte in den Hörer hinein.

      »Ja, da haben Sie natürlich Recht. Aber geben Sie zu, Justine, geben Sie zu, dass ein bisschen was dran ist an dem, was ich sage.«

      Eigentlich hätte sie wütend werden sollen, wurde es aber nicht. Es kam nur selten vor, dass jemand ihren Namen aussprach.

      »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben, Justine. Sie haben doch meine Handynummer, oder?«

      »Ja.«

      »Es ist schwer für eine allein stehende Frau, sich um ein ganzes Haus zu kümmern, so ganz allein.«

      »Ich rufe Sie an, wenn es so weit ist«, sagte sie. »Falls ich mich dazu entschließen sollte zu verkaufen.«

      Sie hatte nicht die geringste Absicht zu verkaufen. Geld brauchte sie auch nicht. Ihr Vater hatte ihr bei seinem Tod genug vermacht. Sie konnte problemlos davon leben, bis ans Ende ihrer Tage.

      Und Flora würde niemals mehr etwas für sich selbst fordern.

      4. KAPITEL

      Zu den Dingen, die am schwersten zu ertragen waren, gehörte der Geruch. Flora kannte ihn noch aus jenem weit zurückliegenden Sommer, als sie einen Nebenjob in einem Krankenhaus für psychisch kranke Frauen hatte. Es war ein ranziger Geruch aus Bohnerwachs, ungewaschenem Haar und Blumenwasser.

      Diesen Geruch gab es nun in ihr selbst.

      Im Gegensatz zu dem, was sie sich vorgestellt hatte, waren die Nächte allerdings gar nicht so schlimm. Nein, die Nächte gehörten ihr, nachts konnte sie damit rechnen, ihre Ruhe zu haben, niemand versuchte, sich mit ihr zu verständigen, es gab keine Aktivitäten, bei denen von ihr erwartet wurde, dass sie dabei war und mitmachte.

      Meine Gedanken werde ich für mich behalten, meine Gedanken werdet ihr nie anrühren. Das bin ich, da drin, Flora Dalvik, ja, ich habe einen richtigen Namen, ich bin ein Individuum, den Menschen Flora Dalvik schütze ich mit meinem menschlichen Körper, wie gebrechlich und verkümmert er auch erscheinen mag. Er besteht jedenfalls immer noch aus einem Gehirn und aus Gedanken, aus Dingen, die Menschen haben, es ist der Leib eines lebendigen Menschen.

      Die jungen Frauen, alle waren jung im Vergleich zu Flora, legten in ihren Bewegungen eine Ungeduld an den Tag, als könnten sie auf diese Weise den Arbeitstag beschleunigen und schneller vorbeigehen lassen. Damit sie zu ihren Spinden in den Umkleideräumen eilen konnten, ihre Arbeitskittel und Hosen ablegen, wieder Privatpersonen werden und nach Hause zu ihrem eigenen Leben fahren konnten. Auch nachts gab es natürlich Pflegepersonal, aber sie störten selten, kamen manchmal herein, wie Schatten eher, und drehten sie um. Sie wusste in etwa, wann sie die Tür öffnen würden, sie war bereit.

      Sie waren dazu übergegangen, etwas öfter zu kommen, seit ein junges Mädchen im Polhemsgård in Solna die Vernachlässigung alter Menschen angeprangert hatte. ABC hatte Großaufnahmen von wund gelegenen Stellen und schwarz gewordenen Zehen gezeigt, und das Mädchen, das Angestellte im Polhemsgård gewesen war, hatte eine Art Tapferkeitsmedaille bekommen. Es war viel über Zivilcourage geredet worden.

      Für Flora hatte die Geschichte zur Folge, dass die Weißhosen sie jetzt täglich aus dem Bett hoben, sogar an den Wochenenden – ja, vor allem an ihnen, weil an den Wochenenden die meisten Besucher auftauchten –, sie aufrichteten und in einem Rollstuhl festschnallten. Sie kämmten ihr schütteres Haar und flochten es zu zwei Zöpfen. Sie hatte sich nie die Haare geflochten. Das war nicht ihr Stil.

      Was war ihr Stil gewesen?

      Sie begann mehr und mehr, es zu vergessen.

      Sie war dreiunddreißig, als sie bei Sven Dalvik und seiner fast fünfjährigen Tochter einzog. Flora war eine seiner Arbeitskolleginnen, besser gesagt, sie war angestellt als Sekretärin, um Herrn Direktor Dalvik in allen Angelegenheiten zu assistieren, bei denen er Hilfe benötigte.

      Chefsekretärin. Existierte dieser Beruf heutzutage überhaupt noch? Sie war stolz darauf gewesen, hatte zunächst einen kaufmännischen Realschulabschluss erworben und dann die Berlitz School besucht. Solche Ambitionen waren ungewöhnlich in ihrem Bekanntenkreis. Die meisten in ihrem Alter hatten relativ bald nach der Schule geheiratet und Kinder bekommen.

      Und sie? Warum hatte sie keinen netten, jungen Mann abbekommen und im passenden Alter geheiratet? Darauf wusste sie keine rechte Antwort. Die Jahre waren vergangen, ohne dass »der Richtige« sich gezeigt hatte. Natürlich hatte sie Anträge bekommen, mehrere übrigens, besonders in der Zeit, in der sie regelmäßig die Tanzlokale der Stadt und von Hässelby Strand besuchte. Dorthin kamen junge Männer aus ganz Stockholm, und sie kannte natürlich die Büsche und Verstecke, sie hätte also sehr wohl jemand zu einem lauschigen Plätzchen locken können, wenn sie nur gewollt hätte, und wie ihre Freundinnen es taten.

      Nein. Sie fand das banal. Außerdem machte sie sich Sorgen, die Kerle aus der Stadt könnten sich hinter ihrem Rücken viel sagende Blicke zuwerfen. Denken, sie wäre ein Landei wie jede andere auch. Das war sie nicht. Sie war anders.

      Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Die Frau im Nachbarbett lag im Sterben. Die Weißhosen hatten einen Schirm zwischen die Betten gestellt, aber das Geräusch des Todes ließ sich nicht abschirmen. Sie glaubten wohl, dass sie es nicht verstand.

      Flora lauschte den mühsamen Atemzügen, sie kamen in immer größeren Abständen. Die Sterbende war eine alte Frau, und es war ihr schlecht gegangen, seit sie vor vierzehn Tagen aufgenommen worden war. Für sie war die Zeit gekommen, alles Irdische hinter sich zu lassen, sie war weit über neunzig.

      Ihr Sohn befand sich irgendwo im Zimmer und wanderte umher, es fiel ihm schwer, still zu sitzen. Auch er war alt. Als er ins Zimmer kam, nickte er Flora zu, unsicher, ob sie sich seiner bewusst war oder nicht. Sie schaffte es auf ihrem Kissen zurückzunicken.

      Er hatte mit den Weißkitteln wegen eines Einzelzimmers getuschelt und sie hatten erklärt und bedauert: Platzmangel und Überbelegung. Dann senkten sie ihre Stimmen, und Flora begriff, dass sie von ihr sprachen.

      Der Sohn schien Schmerzen zu haben, sie hörte, wie er hinter dem Schirm jammerte. Jedes Mal, wenn er dies tat, wurden die Atemzüge seiner Mutter schneller, gleichsam zitternder, so als sehne sie sich nach jener Zeit zurück, als sie noch trösten konnte.

      Sie hatten Flora heute Abend früh fertig gemacht.