Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller. Inger Frimansson

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Название Gute Nacht, mein Geliebter - Psychothriller
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445022



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ein paar Tiere mit langen Beinen, ihre Mäuler wanderten wie Staubsauger über die Erde. Sie konnte keinen einzigen Grashalm entdecken.

      Justine verspürte unwillkürlich den Impuls, in die Hände zu klatschen, um eine unmittelbare Reaktion auszulösen, um zu erleben, dass eines, vielleicht das Leittier, sie entsetzt anstarrte und durchging, ohne zu begreifen, dass es an allen Seiten von Zäunen umgeben war. Voller Panik würde es an nichts anderes mehr denken können als an Flucht, und die anderen würden ihm folgen. Außer sich vor Angst würden sie durch den Morast donnern und völlig die Orientierung verlieren.

      Natürlich tat sie es nicht.

      Links von der Eisbahn begann eine beleuchtete Loipe. Sie folgte ihr nur ein kurzes Stück, bog dann ab auf das matschige Terrain unterhalb der Mietshäuser, ließ den Parkplatz am Maltesholmsbad hinter sich, wo sie im Vorbeigehen registrierte, dass die kaputte Fensterscheibe in einem der Wohnwagen, die dort standen, immer noch nicht repariert worden war, und setzte ihren Weg Richtung Wasser fort, wo sie eine Weile am Ufer entlanglief.

      Vier Enten watschelten lautlos davon. Es war Januar, einige Grad über Null, über eine Woche hatte es ununterbrochen geregnet, aber an diesem Nachmittag war der Himmel bleich und weiß.

      Sie atmete durch die Nase.

      An den Hängen lagen Berge von Laub, der Verrottungsprozess schien beendet zu sein, sie waren braun und glitschig, erinnerten in nichts an Leder.

      Wie dort.

      Kein Laut, keine Vögel oder Tropfen, nur ihre eigenen rhythmischen Schritte, das dumpfe Stampfen, als sie sich den Hügel hochkämpfte, schließlich wurde es hallender, sie hatte die Holzbrücke erreicht und wäre beinahe hingefallen. Die vom Wasser aufsteigende Feuchtigkeit hatte einen tückischen Belag gebildet, der die Avia-Sohlen ins Rutschen brachte.

      Nein! Nicht stehen bleiben, jetzt keine Schwäche zeigen, ihre Lungen brannten, ein stechendes und leises Röcheln, sie zwang sich weiter, als wäre sie er. Nathan.

      Du wärst stolz auf mich. Liebe mich.

      Zu Hause angekommen blieb sie gleich hinter der Tür stehen, lehnte sich gegen die Wand und schnürte sich die Schuhe auf. Riss sich die restlichen Kleider vom Leib, den roten, winddurchlässigen Overall, das Zeug darunter, den Sport-BH und die Unterhose. Breitbeinig stand sie da, streckte ihre Arme aus, ließ den Schweiß langsam verdunsten.

      Der Vogel flatterte von oben auf sie herab. Das Rauschen seiner Schwingen, er kollerte, knurrte ohne Unterlass. Er setzte sich in ihr Haar, klammerte sich mit seinen groben, glänzenden Krallen fest. Sie bewegte den Kopf, spürte ihn als warmes Gewicht mitten auf ihrem Schädel.

      »Hast du auf mich gewartet?«, fragte sie. »Du weißt doch, dass ich immer wiederkomme.«

      Sie strich ihm über den Rücken und scheuchte ihn dann weg. Mit griesgrämigem Gurren verschwand er in der Küche.

      Auf dem dicken Teppich im Esszimmer machte sie ein paar Stretchingübungen, die sie sich aus einem Gymnastikprogramm im Fernsehen abgeguckt hatte. Sie war nie besonders wild darauf gewesen, etwas gemeinsam mit anderen zu unternehmen. Scheu, hatte Nathan sie genannt. Anfangs war es das gewesen, was ihn am meisten angezogen hatte.

      Sie war nach wie vor nicht gerade schlank, aber die Zeit dort in der Ferne hatte ihrem Körper eine neue Form gegeben, sie sah schmaler aus, auch wenn die Waage weiterhin achtundsiebzig Kilo anzeigte. Sie stand lange unter der Dusche, glitt mit dem Schwamm über ihren Bauch, die Schenkel, in die Kniekehlen.

      Dort in der Ferne war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht nach sauberen europäischen Duschen gesehnt hätte, nach einem Fußboden unter ihren Füßen, gekachelten Wänden.

      Martina und sie hatten in dem gelben Flusswasser gebadet, aber der Geruch von Staub und Schlamm fraß sich in die Poren und war nicht wegzubekommen. Anfangs widerstrebte es ihr, in den Fluss zu steigen. Sie dachte daran, was sich unter der Oberfläche alles bewegen mochte: Schlangen, Piranhas, Blutegel. Doch eines Morgens war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als in voller Montur die Stromschnellen zu durchqueren. Es gab keinen anderen Weg. Danach hatte sie keine Angst mehr gehabt.

      Sie trocknete sich sorgfältig ab und cremte sich ein. Die Roma-Flasche war inzwischen fast leer und hatte die gleiche Form wie der Schiefe Turm von Pisa. Sie schnitt sie mit einer Schere auf und kratzte den Rest mit dem Zeigefinger heraus. Betrachtete für einen Moment ihr Gesicht im Spiegel, rotfleckig von der Hitze, nicht mehr jung. Zog Striche um die Augen, wie sie es immer getan hatte, schon seit den Sechzigern. Niemand war es gelungen, ihr das abzugewöhnen.

      Nicht einmal Flora.

      In ihrem grünen Hauskleid ging sie anschließend in die Küche und holte sich eine Schüssel Naturjoghurt. Der Vogel hatte sich auf dem Fensterbrett niedergelassen. Er glotzte aus einem Auge und grummelte, als wäre er unzufrieden. Draußen auf dem Weg hüpfte eine Amsel, winterfett und aufgeplustert. Im Winter veränderte sich ihr Gesang, wurde eintönig und schrill, als schlage jemand eine hart gespannte Gitarrensaite. Der andere Gesang, der gleichzeitig wehmütig und jubilierend war, verschwand irgendwann im Spätsommer, um Ende Februar wieder zu neuem Leben zu erwachen. In der Krone eines sehr hohen Baumes.

      Ihr ganzes Leben hatte Justine im gleichen Haus verbracht, in Hässelby Villastad, nahe am Wasser. Es war ein schmales, hohes und kleines Steinhaus, passend für zwei oder drei Personen. Mehr hatten hier auch nie gewohnt, von der kurzen Zeit mit dem Kind einmal abgesehen.

      Justine war als Einzige noch da, sie konnte es so einrichten, wie sie wollte. Bisher hatte sie allerdings das meiste so belassen, wie es war. Sie schlief in ihrem Mädchenzimmer mit den ausgebleichten Tapeten, konnte sich nicht dazu überwinden, in Papas und Floras Schlafzimmer zu ziehen. Dort war das Bett gemacht wie immer, als könnten beide jeden Moment zurückkommen, und ein paar Mal im Jahr nahm Justine die Tagesdecke herunter und wechselte die Laken.

      In der Kleiderkammer hingen ihre Kleider, Papas Anzüge und Hemden links und all die zierlichen Kostüme Floras auf der anderen Seite der Stange. Die Schuhe waren von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Manchmal dachte Justine daran, die Staubschicht zu entfernen, brachte es aber nicht einmal über sich, sich zu bücken und die Schuhe zu berühren.

      Die Kommode wischte sie ab, wenn sie Lust bekam, etwas zu pflegen. Sie ging mit Fensterputzmittel über das Glas des Spiegels und rückte die Haarbürste und die kleinen Parfümflaschen ein wenig hin und her. Einmal hatte sie Floras Bürste in Richtung Fenster gehalten und die langen grauen Haare angestarrt. Sie hatte sich fest in die Backe gebissen und eines der Haare mit einer schnellen Handbewegung losgerissen. Dann ging sie auf den Balkon und zündete es an. Es brannte, begleitet von einem beißenden Geruch, kräuselte sich und verschwand.

      Es wurde bereits dunkel. Sie war jetzt im oberen Flur, zog einen Stuhl zum Fenster, schenkte sich ein Glas Wein ein. Das Wasser des Mälarsees glitzerte, schaukelnde Lichter von der Außenbeleuchtung des Nachbarhauses. Sie war programmiert, ein Timer schaltete sie in der Abenddämmerung ein. Nur selten war jemand zu Hause, und sie kannte die Leute auch nicht, die dort jetzt wohnten.

      Das machte nichts.

      Sie war allein. Es stand ihr frei, all das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte, was getan werden musste, damit sie wirklich eins mit sich selbst werden konnte. Ein starker und lebendiger Mensch wie alle anderen.

      Darauf hatte sie ein Recht.

      2. KAPITEL

      Er hatte die Weihnachtstage bei seinen Eltern verbracht, ruhige Tage, ereignislos. Heiligabend war es schön gewesen, die Bäume mit Raureif überzogen. Seine Mutter hatte eine Laterne in die alte Birke gehängt, so wie sie es immer getan hatte, als sie noch klein waren, und er erinnerte sich seiner und Margaretas überdrehter Aufregung, wenn sie am Morgen des Heiligabends erwachten.

      Seine Mutter bestand darauf, dass er Weihnachten nach Hause kam. Was sollte er auch sonst tun? Trotzdem ließ er sich bitten, ließ sie betteln und flehen, als müsste er sich ständig vergewissern, wie viel er ihr immer noch bedeutete.

      Wie das bei seinem Vater war, wusste er nicht so genau. Kjell Bergman war