Splitter einer vergangenen Zukunft. Eckhard Bausch

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Название Splitter einer vergangenen Zukunft
Автор произведения Eckhard Bausch
Жанр Языкознание
Серия Die Dunstein-Chroniken
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947721214



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      Wortlos schüttelte Korvinag den Kopf. Vor ziemlich genau fünfzig Jahren hatte er mit dem verschollenen Lehrer des Hochkönigs an derselben Stelle gestanden und sich „Die Kämpfenden“ angeschaut, eine täuschend lebensechte Darstellung zweier vorgeschichtlicher Krieger. Sie befanden sich in einem runden, aus grauem Basalt errichteten Pavillon hinter der Gruft von Kostondio in der Hauptstadt Zitaxon. Lange vor der Geburt des ersten Hochkönigs von Sindra waren sie schon hier gewesen. Damals gab es auch noch nicht die Gebäude über der Gruft. Niemand konnte das Alter der Skulptur bestimmen. Es betrug jedenfalls viele tausend Jahre.

      „Die Kämpfenden“ galt als das bekannteste Kunstwerk auf dem gesamten Kontinent, obwohl nur wenige Menschen es je gesehen hatten. Der schmale Wandelgang, der zur rückwärtigen Seite der Gruft von Kostondio führte, war den höchsten Würdenträgern Sindras und auserlesenen Gästen vorbehalten.

      Selazidang hatte gegenüber dem Einsiedler aus Borthul seinerzeit die Vermutung geäußert, die Kämpfer stünden als Sinnbild für die Kämpfe, die jeder Einzelne sein ganzes Leben lang unentwegt ausfechten müsse. Korvinag erinnerte sich noch ganz genau. Einer der beiden Krieger hatte mit seinem archaischen Breitschwert zu einem wuchtigen Schlag bis hinter den Kopf ausgeholt. Der andere trug seinen Schild viel zu tief.

      Nun lag eine geringfügige, aber dennoch unübersehbare Veränderung vor. Der Angreifer hatte zur Ausführung des Schlages angesetzt. Seine Hand mit dem Schwert befand sich bereits vor dem Kopf. Sein Gegner hatte den Schild merklich angehoben, um den Schlag abzufangen Für Korvinag hatte es den Anschein als sei die Zeit innerhalb des Pavillons geronnen, während die beiden vorzeitlichen Krieger ihren Kampf austrugen. Hatten sie sich tatsächlich bewegt? Oder waren sie bewegt worden?

      „Darf ich hineingehen?“, fragte der ehemalige Einsiedler den Hochkönig.

      „Nein“, bedauerte Yxistradojn. „Das ist der einzige Ort in Sindra, den nicht einmal die Hochkönige betreten dürfen.“ Dann fügte er hinzu: „Aber ich glaube auch nicht, dass wir hier Antworten auf unsere Fragen finden werden.“ Nach langem Zögern hatte sich Yxistradojn entschlossen, Einblick in die persönlichen Aufzeichnungen seines geliebten Lehrers Selazidang zu nehmen. Er hoffte, auf Anhaltspunkte zu stoßen, die ihm Aufschluss über dessen Schicksal geben konnten. Seine diesbezüglichen Erwartungen erfüllten sich nicht. Stattdessen war er aber zufällig an zwei Stellen auf ungewöhnlich bewundernde Äußerungen über den ehemaligen Einsiedler von Borthul gestoßen. Das wirkte wie eine Offenbarung. Sogleich wurde dem Hochkönig klar, dass Korvinag der richtige Mann für die Suche nach dem verschollenen Selazidang sein würde. Noch am gleichen Tag schickte er Boten aus, weil er in Erfahrung gebracht hatte, dass der sagenumwobene Eremit wieder fernab jeglicher Zivilisation in einer kleinen Hütte am Tephral lebte. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass Korvinag seinem Ruf folgen würde. Aber nun war er hier und hatte dem Hochkönig versprochen, ihn bei seinen Nachforschungen nach dem berühmtesten Gelehrten Sindras zu unterstützen. Selazidang hatte sich vor zwei Jahren nach Kerdaris begeben, um das Eidgewand von Yacudac heimzuholen. Die Pylax waren ihm jedoch zuvorgekommen, hatten das Gewand erbeutet und den Gelehrten dabei verletzt. Danach musste er unverrichteter Dinge nach Sindra zurückkehren. Hier verlor sich seine Spur.

      Mit Sicherheit gab es einen wichtigen Grund, warum Selazidang nach seiner Rückkehr nicht sogleich seinen Schüler aufgesucht hatte, den er wie einen eigenen Sohn liebte. Der Hochkönig ahnte, dass sein Lehrer nicht mehr am Leben war. Aber er wollte unbedingt das Geheimnis lüften, das sich um dessen Verschwinden rankte. Er ahnte nämlich auch, dass dies etwas mit ihm selbst zu tun hatte.

      Yxistradojn, Baron Schaddoch und Korvinag, drei Männer, die zuletzt schon die Geschicke des Kontinents entscheidend mitgeprägt hatten, schickten sich an, eine ganze Welt aus dem Schlaf zu reißen. Nichts würde mehr so sein, wie es einmal war.

      *

      Während er seine fettverschmierten Hände an der speckigen Schürze abstreifte warf der dicke Wirt den beiden tuschelnden und kichernden Mädchen einen missbilligenden Blick zu. Gerade hatte eine von ihnen den vier seltsamen Gästen Wein und Wasser gebracht und dabei versucht, Gesprächsfetzen aufzuschnappen, die ihr eine bessere Zuordnung dieser seltsamen Gruppe ermöglichen würden. Dabei ging es ihr jedoch nicht um irgendwelche Geheimnisse. Sie hätte nur allzu gern gewusst, in welchen persönlichen Beziehungen die beiden uralten Kerle mit den dunkelroten Augen zu den beiden ausnehmend attraktiven, jungen Priesterinnen des Wissens standen, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Aber leider flüsterten die Tattergreise, so dass die neugierige junge Bedienung nichts verstehen konnte. Und diese Geheimniskrämerei hatte auch einen guten Grund.

      „In der Akademie haben die Wände Ohren, aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen“, meinte der Mann, der den Ornat des Höchsten Priesters trug, ein blütenweißes Gewand mit einem roten Kreis und einem stilisierten, blauen Würfel.

      Die drei anderen waren in blaue Gewänder mit roten Kreisen gekleidet. Dies zeigte, dass es sich auch bei ihnen um Mitglieder des Inneren Zirkels der Priester des Wissens handelte. In Wahrheit übten sie aber längst keine Tätigkeit mehr für den Priesterorden aus, sondern hatten eine uralte Kultstätte wiederbelebt. Obgleich ihre Mitgliedschaft im Inneren Zirkel, der Führungselite des Ordens, auf Lebenszeit fortbestand, trugen sie die Gewänder mittlerweile eher zur Tarnung als zum Nachweis ihrer Zugehörigkeit.

      „Ich werde mir anhören, warum du uns hierhergebeten hast, Ulban“, versprach der Mann mit dem eingefallenen Gesicht, das vage an einen Totenschädel erinnerte. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die vereinzelten, weißen Haarsträhnen, die rundum von seinem Kopf wirr herabhingen. „Aber du musst mir auch einen Gefallen tun“, fügte er hinzu.

      „Worum handelt es sich?“, fragte Ulban.

      Der Mann mit den weißen Haarsträhnen senkte erneut seine Stimme: „Jemand hat versucht, mich mit einer gefälschten Nachricht aus der Vergangenheit zu betrügen. Weißt du, worum es sich bei dem Geheimen Bund von Dunculbur handelte?“ Ulban nickte.

      Daraufhin fuhr der andere fort: „Murbolt, einer der Gründer dieses Geheimbundes, hatte Aufzeichnungen über Experimente mit dem Dunstein gefertigt. Der einzige noch lebende Mitbegründer, Virkagon, der sich jetzt Korvinag nennt, holte die Originalschrift bei Murbolts Gemahlin auf Rukumor ab und übergab sie Qaromar, dem eigentlichen Kopf des Geheimbundes. Da dieser sie später zur Zinnburg zurückbrachte, bin ich in den Besitz dieser Aufzeichnungen gelangt, die zweifellos echt sind. Zuvor fand ich jedoch Murbolts Leiche in der alten Mühle von Siimart, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Dort war er von Siridindar, einer Mitbegründerin des Ordens, getötet worden. In der Mühle befand sich ein zweites Exemplar der Aufzeichnungen, das überwiegend mit dem echten völlig identisch ist. In einigen entscheidenden Punkten weist es aber sinnentstellende Abweichungen auf. Ich bin sicher, dass die Fälschung hergestellt wurde, um mich in die Irre zu führen. Und ich glaube, das gilt nicht nur hinsichtlich des Dunsteins, sondern auch noch in Bezug auf andere Dinge.“

      „Aber vielleicht hat Murbolt in Siimart einfach nur versucht, seine Aufzeichnungen aus der Erinnerung nochmals niederzuschreiben“, wandte Ulban ein.

      „Das hat er sogar ganz bestimmt getan“, stimmte der alte Mann mit dem blauen Gewand zu. „Nur handelt es sich eben bei den Aufzeichnungen, die in meinen Besitz gelangt sind, eindeutig nicht um eine von Murbolt gefertigte Zweitschrift.“

      Ulban sah ihn zweifelnd an.

      „Roxolay, alter Freund, kann es sein, dass du Gespenster siehst?“

      Roxolay legte die Stirn in Falten.

      „Ich bin ein Spiritant“, stellte er klar. „Ich würde Gespenster nur sehen, wenn es sie wirklich gäbe. Und jetzt verrate ich dir ein Geheimnis: Ich glaube, es gibt Gespenster! Die Zweitschrift von Murbolts Aufzeichnungen war auf neuem Pergament geschrieben. Die sinnentstellenden Abweichungen des ansonsten wortwörtlich übereinstimmenden Textes wirken äußerst gezielt. Beides lässt sich auch durch eine verblasste Erinnerung nicht erklären. Es ist völlig unmöglich, dass jemand in der Lage ist, über viele Seiten hinweg jedes einzelne Wort genau wieder an die gleiche Stelle zu setzen, dann aber ausgerechnet in den entscheidenden Punkten exakt das Gegenteil der ursprünglichen