Abschied von Askalon. Eva Rechlin

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Название Abschied von Askalon
Автор произведения Eva Rechlin
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711754245



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sich Tobija zur Straße um und murmelte etwas, das Thomas, der sich neben die fest schlafende Debora im spärlichen Schatten auf den Boden legte, nicht verstand. Er reckte die Arme hoch, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und schloß die Augen. Still lauschte er Deboras tiefen Atemzügen.

      Nördlich von Ashdod querten die Römerstraße zwei Wadis, zu denen die drei jungen Leute wenig später aufbrachen. Statt zu schlafen, hatte Thomas nachgedacht und den Geschwistern erklärt:

      »Wenn Samuel Hirten oder Nomaden aufsuchen wollte, müssen wir ab hier in sämtlichen Wadis Bescheid geben, daß wir ihn suchen. Ach, statt zu schwatzen, hätten wir längst einige nordwärts Reitende darauf hinweisen sollen! Kommt, laßt uns das Versäumte nachholen. Notfalls müssen wir, um ganz sicher zu gehen, dort übernachten, wo die Straße auf ein Wadi trifft.«

      Debora blieb schläfrig, bis die lehmhellen Würfel der Häuser von Ashdod hinter ihnen im Sonnenglast verschwammen.

      »Ich möchte bloß wissen, weshalb du heute so müde bist«, knurrte Tobija, »das bißchen wäßriger Wein gestern abend kann’s nicht sein.«

      »So wäßrig war der gar nicht«, behauptete Debora, »außerdem bin ich nicht müde. Habt ihr nicht auch geschlafen?« »Und wie!« schwindelte Thomas. »Da kommen Reiter hinter uns. Anhalten!«

      Es war seit Ashdod das vierte Mal, daß sie Reitern ihre Suche nach »dem alten Wanderprediger Samuel« mit auf den Weg gaben.

      Als sie schließlich an das erste Wadi gelangten, mußten sie feststellen, daß die Straße über einen Knotenpunkt verlief, an dem sich drei ausgetrocknete Flußbetten mit ihren Geröllmassen zu einem Wadi vereinigten. Unschlüssig blieben die drei stehen. Was war zu tun!

      »Genau an diesem Knotenpunkt wollen wir unser Nachtlager aufschlagen und warten«, entschied der erfahrene Bote Thomas, »so oder so müßte Samuel hier vorbeikommen, ob von Norden oder aus einem der Wadis.«

      Sie suchten sich unter den im angeschwemmten Geröll herumliegenden Felsbrocken den größten aus. In seinem kargen Schutz und Schatten wollten sie lagern und dort die nötigen Äste für ein Feuerchen zusammentragen. Tobija kletterte auf den Felsbrocken, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er beschattete seine Augen mit der flachen Hand, plötzlich rief er:

      »Zurück, Thomas! Zur Straße! Ich sehe ihn kommen!« Und er streckte seinen Arm nach Norden aus.

      Sie ließen ihre Vorratsbeutel bei dem großen Stein liegen und liefen an den Straßenrand. Ja, er war es, auch Debora erkannte von weitem die schmale Gestalt mit dem mannshohen Wanderstab.

      Samuel ging in weiße und rote Stoffbahnen gehüllt, die er wie einen losen Umhang auch über seinen Kopf zu ziehen pflegte. In seinem Alter war das nützlich bei jedem Wetter, hielt ihm brennende Sonne ebenso vom Leib wie Nässe, Kühle oder Wind. Sein spärliches Gepäck trug er in Beuteln unter der leichten Stoffülle seines Umhangs. Aber er ging nicht wie ein alter Mann, sondern hochaufgerichtet und zügig wie in Eile. Er mußte von Reitern gehört haben, daß man nach ihm suchte.

      »Er ist allein«, sagte Debora leise und lief ihm entgegen. Sie sah deutlich sein Erschrecken, als er sie erkannte. Aber sie lachte und winkte und rief schon von weitem: »Friede, Friede! Fang mich auf, Samuel, halt mich fest!«

      Er blieb stehen und öffnete weit seine Arme, in die sie sich lachend stürzte und zur Begrüßung sein silberstoppeliges Gesicht küßte: »Friede mit dir, Samuel. Und keine Sorge! Wir wollten dem Boten aus Alexandria nur den Weg zeigen.«

      Samuel drückte sie sanft an sich, strich ihr über das dunkle Haar und fragte:

      »Ist es Thomas? Er ist kein Anfänger auf dem römischen Straßennetz, da muß euch schon eine besondere Neugierde plagen! Sagtest du, aus Alexandria? Etwas Ernstes?«

      »Ein Brief. Gestern abend traf Thomas damit bei uns ein und wollte heute gleich weiter. Er ist nett. Kennst du ihn schon länger?«

      Debora ging neben Samuel, der sie von der Seite lächelnd musterte.

      »Daß er sehr nett ist, weißt du ja schon – was könnte ich dir also noch über ihn verraten?«

      »Später«, sagte sie hastig, weil die beiden jungen Männer sich näherten und den viel älteren respektvoll begrüßten. Samuel hielt Tobijas Hand kurz fest und fragte:

      »Wolltest du nicht längst bei den Fischern sein?«

      »Hätte ich meine Schwester allein mit einem Fremden gehen lassen sollen? Die Fischer schwimmen mir ja nicht fort.« Samuels Blick schien sich zu verdunkeln, aber dann fuhr er dem hitzigen Jungen mit der Hand beschwichtigend über den lockigen Schopf und wandte sich lächelnd Thomas zu: »Ein guter Platz für ein Nachtlager.«

      Debora ließ die beiden Männer nicht aus den Augen. Auf einmal fühlte sie sich unbehaglich. Was sollte sie tun, wenn Samuel bemerkte, daß an dem Briefsiegel hantiert worden war? Samuel zu belügen, das würde sie nicht fertigbringen.

      Sie durfte sich kein Wort, keinen Blick entgehen lassen. Im Augenblick war ihr das wichtiger als der sicher folgenschwere Briefinhalt.

      Thomas, der seine Botentasche die ganze Zeit bei sich getragen hatte, reichte sie Samuel halb offen und sagte:

      »Außer einem Brief auch Geld, einfach eine Handvoll in die Tasche geworfen, nicht gezählt. Ich habe davon nur das Nötige für die Schiffspassage bis Gaza genommen. Von dort bin ich gestern gleich weitergelaufen und kam abends in Askalon an.«

      »Ein Brief von den Schwestern Eugenios also?«

      »Nicht von beiden Schwestern, nur von Angela. Obendrein in größter Hast und Heimlichkeit. Sie war verschleiert, aber ich erkannte sie.«

      Ruckartig blieb Samuel stehen und fragte, plötzlich heiser: »Nur von Angela? Heimlich? Bist du sicher, daß Agatha nichts davon weiß?«

      »Ganz sicher.«

      »Gib mir den Brief!« Sie hatten den Lagerstein noch nicht ganz erreicht. Samuels Hände zitterten, als er die Papyrusrolle aus der Hand von Thomas nahm. Er verschwendete nicht ein Sekunde daran, das Siegel zu prüfen. In höchster Ungeduld riß er es einfach ab, ließ es achtlos auf den sandig-steinigen Wadigrund fallen und rollte den Papyrus mit gestreckten Armen vor seinen Augen auf. Debora, erlöst und dankbar, stand halb hinter Samuel und starrte auf die griechischen Buchstaben, die in so ungewohnter Sprache redeten. Plötzlich begann die Schrift vor ihr auf und niederzutanzen, aber nicht ihre kurze Schwäche war daran schuld, sondern das Zittern von Samuels Händen, während er mit sichtlich wachsender Erschütterung den Brief las. Mit Schrecken sah Debora, wie sich der große, kluge, allzeit gefaßte, stets Trost wissende Mann vor ihren Augen in ein Häufchen Elend verwandelte und auf dem Stein, zu dem sie ihn geführt hatte, in sich zusammensank. Und zum ersten Mal sah sie Samuel weinen. Die Tränen quollen über seine staubigen, braunen Wangen, versickerten in Falten und Barthaaren, und er tat nichts, um sie zu verbergen, als wüßte er nicht einmal, daß er weinte. Debora legte sanft ihre Hand auf sein Knie, aber sie wußte nicht, wie sie ihn trösten könnte. Wenn er doch selber keinen Trost wußte, er, Samuel!

      Daß auch sie weinte, merkte sie erst, als er den Papyrus sinken ließ und die Hand nach ihr ausstreckte, um ihr die Tränen vom Gesicht zu streicheln.

      »Ist es so schlimm?« stammelte sie.

      »Sie ist tot«, flüsterte er schluchzend, »ich weiß es. Tot!« Er schloß die Augen, und Debora fürchtete, er könnte hintenüber vom Stein stürzen. Kaum hörbar bat er:

      »Laß mich allein, Kind. Nur ein Weilchen.«

      »Ja, Samuel.«

      Sie stand auf, um das Nötigste für ein Nachtmahl vorzubereiten. Und während der geübten Handgriffe kam ihr Verstand wieder in Gang, und sie dachte: Wie kann eine Tote einen Brief schreiben, ihn sogar noch auf den Weg bringen? Wie sehr muß Samuel jener ihr so fremden Frau verbunden sein, daß er ihren Tod über solche Entfernung hinweg erraten, ja spüren kann? Kann Liebe so machtvoll sein? Also mußte auch er Angela lieben. War es das, was Samuel so erschütterte? Das Geständnis