Die Skrupellose - Schweden-Krimi. Inger Frimansson

Читать онлайн.
Название Die Skrupellose - Schweden-Krimi
Автор произведения Inger Frimansson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726445015



Скачать книгу

sah, seine vergeblichen Versuche, sich aus der Fahrerkabine zu befreien, bevor das ganze Auto von den Flammen erfasst wurde.

      Sie hielt sich an den großen Fahrradweg, der parallel zum Bergslagsvägen verlief. Der kürzere Weg hätte über Grimsta geführt, aber das Viertel hatte einen schlechten Ruf. In der Nähe des Autoverkehrs fühlte sie sich sicherer. Das Fahrrad glitt durch die Dämmerung, und die Luft duftete nach zartem, feuchtem Grün. Sie hielt den Lenker fest umklammert, war die ganze Zeit von der eigentümlichen Hoffnung erfüllt, dass sie die Augen für einen Moment schließen und anschließend wieder öffnen würde, und dann das Mädchen in seinem verknitterten gelben Kleid vor ihr stehen, mit dem Fuß aufstampfen und wütend sein würde.

      »Ihr habt mich vergessen, ihr seid einfach weggegangen!«

      Nein. Angelica war nur selten wütend. Sie saß am liebsten am Tisch und malte mit Wachsmalstiften kleine Kinder, die wie Tiger in Käfigen hockten. Oder sie zog sich in die Kissenecke zurück und lutschte an ihren Fingern. Ihren Eltern gefiel das nicht, es konnte schlecht für ihre Zähne sein. Das Kindergartenpersonal hatte deshalb Anweisung bekommen, darauf zu achten, dass sie nicht an den Fingern lutschte.

      Ein einziges Mal hatte Angelica einen Wutanfall bekommen. Der Auslöser dafür war etwas gewesen, das Eva gesagt hatte. Magda war in dem Moment in den Flur gekommen. Ein kleiner, roter Stiefel flog an ihr vorbei. Eva hatte das brüllende Kind festgehalten.

      »Was ist denn hier los?«, hatte Magda gerufen.

      »Angelica mag ihre Mama nicht mehr.«

      Um diese Uhrzeit waren nicht mehr viele Autos unterwegs. Ein Taxi fuhr Richtung Vällingby, und als sie sich Johannelund näherte, hörte sie die rhythmischen Laute einer U-Bahn, die an dieser Stelle oberirdisch fuhr. Dann sah Magda sie auch, es war einer von den neuen Zügen. Er wurde langsamer und hielt plötzlich auf freiem Feld. Wahrscheinlich eine Störung, die gab es auf der so genannten Grünen Linie häufiger. Sie fuhr in die Unterführung und dann entlang der asphaltierten Gehwege. Außer ihr war niemand auf der Straße.

      Der Kindergarten war geschlossen. Sie hatte nichts anderes erwartet. Sie radelte an dem flachen, gelben Holzbau vorbei, der ihr Arbeitsplatz war, und weiter zu dem Wäldchen, in dem Angelica verschwunden war. Ein Hase richtete sich aus dem Gras auf. Sie sah sein Profil und die langen, sensiblen Löffel. Ganz ruhig blieb er sitzen und ließ sich von ihr keine Angst einjagen. Sie dachte an ein Buch über Hasen oder Kaninchen, das sie sich einmal ausgeliehen hatte. Es hatte Unten am Fluss geheißen und war eines der besten Bücher, die sie je gelesen hatte.

      Als sie das Wäldchen erreichte, bremste sie und stieg ab. Sie blieb zunächst eine Weile stehen und lauschte, ehe sie das Fahrrad abstellte und abschloss. Langsam trat sie zwischen die Bäume. Das Areal war mit blauweiß gestreiftem Plastikband abgesperrt worden. Hinter der Absperrung sah alles so aus wie immer. Unzählige Male waren sie hier mit den Kindern gewesen, es war ein überschaubarer und friedlicher Vorortwald, im Grunde nicht einmal ein richtiger Wald, sondern eine Ansammlung von Bäumen und Sträuchern, ein Stück Natur zwischen all den Häusern, in dem Kinder Ameisen beobachten und Blaubeeren pflücken konnten.

      Sie stand an der Eiche, wo sie den Kinderwagen abgestellt hatte, und berührte sie mit den Fingerspitzen.

      Die gefurchte Rinde war kühl, und sie presste ihre Wange an den Stamm, bis es beinahe wehtat. Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Es war, als würde ihr der ganze Brustkorb zusammengeschnürt, sodass die Luft nicht mehr hineinkonnte. Sie breitete die Arme aus, versuchte tief durchzuatmen und strengte sich dabei so an, dass ihr Unterkiefer zitterte. Sie geriet ein wenig in Panik und war verunsichert. Und wenn Angelica nun doch bei ihrem Vater war? Wenn er sie mitgenommen hatte und weggefahren war? Sie hätte der Polizei sagen sollen, was sie über Eva und Florian wusste. Aber das fanden die Beamten wahrscheinlich ohnehin heraus. Außerdem hatten sie auch mit Carita gesprochen, und Carita wusste Bescheid. Als Leiterin musste sie über die Familienverhältnisse der Kinder informiert sein. Sie würden Florian bis in das kleine rumänische Dorf verfolgen, aus dem er stammte, und er würde sagen, jetzt ist sie hier, meine Tochter, sie ist bei mir und sie wird hier eine Weile bleiben, aber ich bringe sie dann wieder nach Hause, gebt mir nur etwas Zeit.

      So musste, musste es einfach sein!

      Aber da war noch die Sache mit dem Diadem. Das hätte er doch sicher mitgenommen und nicht im Kinderwagen zurückgelassen. Andererseits hatte es unter dem Kissen gelegen, wie hätte er es also sehen sollen?

      Magda schloss die Augen, blickte zum Nachthimmel auf und zwang sich, langsam und tief durchzuatmen. Warum war sie eigentlich mitten in der Nacht hierher gefahren? Um Spuren zu finden? Nicht einmal die Polizei hatte das gemacht. Es war dumm, verrückt und konnte sogar gefährlich werden.

      »Ist mir scheißegal!«, murmelte sie.

      Es war windig geworden. Vielleicht würde es nun endlich Regen geben. Das wäre dringend nötig, denn alles dürstete nach Regen und Feuchtigkeit. Sie starrte zum Gewirr der Äste hinauf, die noch nicht vollständig begrünt waren. Eichen schlugen spät aus. Auf einmal war sie unruhig. Sie musste nach Hause. Im Laufschritt kehrte sie zu ihrem Fahrrad zurück und hatte Schmerzen im Kreuz.

      Lieber Gott, mach bitte, dass Angelica bei ihrem Vater ist!

      7. Daniel

      Er blieb in der Wohnung. Sein erster und verzweifelter Gedanke war, dass er sich in Ulrikas riesiges Bett legen und sich weigern würde, aufzustehen. Sie war zwar kräftig gebaut, aber er war stärker als sie. Selbst wenn sie ihre Schwester holte und die beiden gemeinsam versuchen sollten, ihn herauszuzerren, würde es ihm gelingen, sich festzuklammern. Er legte sich breitbeinig auf den Bauch, griff nach den Bettkanten und hielt sich fest, als wären sie schon im Raum, zwei riesige Monsterfrauen, die mit vereinten Kräften versuchen würden, ihn unschädlich zu machen.

      »Ulrika«, murmelte er und versuchte das zarte, stille Mädchen heraufzubeschwören, das sie trotz allem ab und an zu sein versuchte.

      Nein, es ging nicht. Es war aus.

      Und der Deutschunterricht?

      Zum Teufel mit der deutschen Sprache.

      Ihr Vater würde sich garantiert freuen. Dieser aufgeblasene Direktorenheini. Der Mann hatte sich ihm tatsächlich mit seinem Direktorentitel vorgestellt, als Ulrika ihn das erste Mal zu ihren Eltern mitgenommen hatte.

      »Direktor Frölich.« Kein Vorname, nur Titel und Nachname.

      »Daniel. Ja also, Daniel Magnusson.«

      »Und was macht Herr Magnusson beruflich, wenn man fragen darf?«

      »Er studiert, Papa.«

      Wie ein Reptil war sie dazwischengefahren, hatte geantwortet und ihm kaum die Chance gelassen zu hören, was der alte Knacker überhaupt sagte.

      »So so, aha. Und was?«

      »Informatik. Etwas, wovon du sowieso nichts verstehst, Papi.«

      Dass er Informatik studierte, stimmte natürlich überhaupt nicht. Sie schämte sich für ihn, das war alles.

      Auch ihre Alte würde darüber, dass Daniel als Schwiegersohn abgeschrieben war, erleichtert aufseufzen.

      »Die blöde Kuh!«, murmelte er ins Kissen, das schwach nach Ulrika roch, nach irgendeinem Shampoo, das sie häufig benutzte. Auch ihre Eltern waren kräftig gebaut, die Statur hatte sie von ihnen geerbt. Sogar ihre Schwester Karolina war groß wie eine Riesin. Heiligabend hatte er sich im Vergleich zu Ulrika und ihrer Familie wie ein Schneeglöckchen gefühlt. Ja wirklich, genau dieser Vergleich war ihm in den Sinn gekommen. Ein zartes und empfindliches Schneeglöckchen. Er hatte Marzipan für sie gekauft, in Schokolade getunkte Schweinchen. Vier Stück, deren Hintern so breit waren wie ihre. Erst hatte er gar nicht vorgehabt, ihnen etwas zu schenken, aber Ulrika hatte ihn darauf angesprochen, und daraufhin war er losgezogen und hatte die Schweinchen gekauft und für sie außerdem noch eine Geschenkpackung mit lila Schaumbad und einer Seife.

      Sie hatte an der Schaumbadverpackung gerochen, und an ihrer Nasenwurzel hatten sich kleine, feine Falten gebildet.