Das Tal der Elefanten. Lauren St John

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Название Das Tal der Elefanten
Автор произведения Lauren St John
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783772543449



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Liebe übrig.

      Tränen quollen in ihren Augen auf. Schon bald würde man ihr das alles wegnehmen. Wenigstens erfüllte es sie mit einer gewissen Genugtuung, dass Reuben James diesen Ort wohl nie finden würde. Doch dieses Gefühl wurde durch den schmerzvollen Gedanken, sich von Khan und Jemmy verabschieden zu müssen, gleich wieder verdrängt. Darüber hinaus würde sie die Verbindung mit ihren Vorfahren verlieren, die ihre Geschichte auf die Höhlenwände gemalt hatten.

      Grace reichte ihr ein Papiertaschentuch. «So, du erzählst mir jetzt von Anfang an die ganze Geschichte. Und dass du mir nichts auslässt.»

      Martine fing an. Sie erzählte der Frau, die für sie Ratgeberin, Begleiterin, Freundin und Erdmutter zugleich war, von ihrer beunruhigenden ersten Begegnung mit Reuben James, von den Schulden ihres Großvaters und dem abgeänderten Testament, von Angels Angriff gegen den Fahrer, von der Entdeckung des Briefs ihres Großvaters mit der Bitte um Verzeihung und von der Abreise ihrer Großmutter nach England.

      «Du siehst also, Grace, ich kann nicht warten, bis ich ausreichend Erfahrung habe, um die Höhlenmalereien zu lesen. Ich brauche die Antwort jetzt. Heute Abend. Es bleiben uns nur noch zehn Tage, um Sawubona zu retten. In zehn Tagen wird alles, was wir lieben, weg sein.»

      Grace ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Die Stille zog sich in die Länge, bis Martine, deren Nerven zu reißen drohten, vor lauter Ungeduld aufschreien wollte. Schließlich stemmte sich die Sangoma von dem Sitz hoch und ging zur Felswand, wo sie vor einem Fleck stehen blieb, den sie mehrere, endlos lang scheinende Minuten musterte. Martine stellte sich neben Grace vor die Felswand. Gemeinsam starrten sie nun auf den Fleck.

      «Du willst mir doch wohl nicht sagen, dass dieser Fleck etwas bedeutet?», begehrte Martine auf. «Da hat doch einer bloß etwas Farbe verschüttet oder sonst herumgekleckst.»

      Grace schüttelte den Kopf und sagte: «Nein, die Vorfahren hatten für alles einen Grund.»

      Dann ging sie durch die Höhle und strich auf der Suche nach weiteren Hinweisen mit ihren großen, kissenartigen Handflächen über den Stein. Plötzlich hielt sie inne. Aus dem Granit trat etwas hervor, das wie ein Kompass aussah.

      Plötzlich wurde Grace ganz aufgeregt. «Komm her, Kind», sagte sie. «Wir müssen gehen!»

      «Wohin?», fragte Martine, aber Grace sagte nichts, sondern packte nur Martines Taschenlampe und schaltete sie aus. Als hätte jemand die Fensterläden geschlossen, wurde es plötzlich stockdunkel.

      So sehr Martine Khan liebte, war es ihr nicht gerade wohl dabei, mit dem größten Leoparden der Welt in einem Irrgarten gefangen zu sein, wenn sie nicht einmal die Hand vor ihrem Gesicht sehen konnte. Doch die Sangoma kannte keine derartige Angst. Sie nahm Martine bei der Hand und führte sie durch ein Labyrinth von Höhlen, die sich wie Schlangen durch den Berg rankten – Höhlen, die Martine bisher nie zu erkunden gewagt hatte.

      Jetzt wurde die Luft noch schwüler und drückender. Eine tiefe Beklemmung beschlich Martine, und sie rang nach Luft, als sich plötzlich ein Sternenhimmel vor ihr auftat und frische Nachtluft ihr Gesicht überströmte.

      Sie befanden sich auf der Bergflanke über dem Geheimen Tal. Überrascht stellte Martine fest, dass Khan mit ihnen gekommen war und ihnen wie ein treuer Hund auf den Fersen folgte. Sein gelber Blick war aufmerksam auf Grace gerichtet, die im Mondschein ihren Weg durch den Berghang suchte. Dann blieb sie stehen und knipste die Taschenlampe an.

      «So, kannst du sie jetzt sehen?», fragte sie.

      Martine ging zu Grace hinüber. In einer Mulde am Fuß eines mächtigen Felsblocks ragten zwei große Elefantenstoßzähne aus der Erde. Sie waren dreckverkrustet, als wären sie irgendwie aus dem Erdreich gerissen worden. Ihre Spitzen berührten sich. Sie wiesen nach Nordwesten.

      «Ja, ich sehe sie, Grace. Aber was soll das bedeuten? Woher stammen sie? Wie sind sie hierher gekommen?»

      Die Sangoma machte ihr ein Zeichen, sich hinzusetzen. Khan gesellte sich zu ihr und ließ sich neben ihr nieder. Martine legte den Arm um ihn, als handle es dabei um die natürlichste Sache der Welt. Es war die erste Berührung, seit sie ihn in Simbabwe gerettet hatte, und sie war so berückend wie damals. Sein goldenes Fell strahlte Wärme aus. Er zog seine Krallen ein und fing an, tief und behaglich zu schnurren.

      Grace öffnete den Lederbeutel, den sie um den Hals getragen hatte, streute seinen Inhalt – mehrere Knöchelchen, Stachelschweinborsten, eine Wiedehopffeder und frische Kräuter – bei den Stoßzähnen aus und zündete ein Streichholz an. Sie schloss die Augen. Eine mit dem Duft von afrikanischen Veilchen und Moschus durchmischte Weihrauchwolke verbreitete sich in der Luft. Grace begann, laut vor sich hin zu brabbeln. Martine verstand kein Wort. Es klang, als würde sie mit jemandem streiten – mit den Geistern der Vorfahren vielleicht. Jetzt schien sie sie um etwas anzuflehen. Sie verschränkte die Arme über der Brust und wankte vor- und rückwärts. Es war offensichtlich, dass sie Qualen litt.

      Martine war verunsichert. Sie klammerte sich an Khan. Sollte sie versuchen, Grace aus ihrer Trance zu holen, oder würde sie damit ein heiliges Ritual stören? Khan begann zu knurren.

      Plötzlich öffnete Grace die Augen. Sie blickte Martine starr an und sagte: «Die vier Blätter werden dich führen zum Kreis. Der Kreis wird dich führen zu den Elefanten. Die Elefanten werden dich führen zur Wahrheit.»

      «Welche Wahrheit?», fragte Martine von einem Déjàvu-Gefühl überwältigt. An ihrem ersten Morgen in Südafrika hatte sie Grace genau dieselbe Frage gestellt. Und sie hatte sie immer wieder gestellt, ohne je eine Antwort darauf zu erhalten.

      «Welche Wahrheit?», fragte Martine nochmals, weil Grace sie mit einem Gesichtsausdruck anschaute, den sie nicht deuten konnte.

      «Deine Wahrheit», antwortete Grace und strich Martine eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Wenn ein Dorn steckt in deinem Herz, musst du ihn herausziehen, ganz egal, wie weit du gehen musst für eine Medizin, die dir wird helfen dabei.»

      Mehr verriet sie nicht. Stattdessen umarmte sie Martine und redete ihr gut zu, Stärke zu zeigen. In Gedanken vertieft ritt Martine zum Haus zurück. Die Sangoma hatte ihr Angebot, auf Jemmy mitzureiten, nicht angenommen. Stattdessen murmelte sie, sie habe noch Dinge zu erledigen. Martine mochte gar nicht daran denken, was Grace wohl um 4 Uhr morgens in einem stockdunklen Wildreservat zu erledigen hatte. Sie stellte deshalb auch keine weiteren Fragen. Wie Ben hatte sie gelernt, dass es manchmal besser war, Dinge unausgesprochen zu lassen.

      Auf ihrem langsamen Ritt durch das Reservat grübelte sie über die Worte von Grace nach, als sie am Horizont plötzlich einen weißen Lichtschein sah. Sie blickte auf die Uhr. Es war 4.30 Uhr und immer noch dunkel. Aber das noch weit entfernte Haus war hell erleuchtet. Entweder hatten Tendai oder Ben ihr Verschwinden bemerkt und waren in Panik geraten, oder es spielte sich eine Tragödie ab. Fest griff sie in Jemmys Mähne und trieb ihn zu einem gestreckten Galopp an.

      Am Eingang zum Reservat wartete bereits Ben auf sie. «Geh zur Vordertür hinein», sagte er hektisch. «Ich lenke Tendai und den Wachmann in der Küche ab, während du wieder in dein Pyjama steigst. Tendai weiß nicht, dass du weg warst. Ich habe ihm gesagt, dass man dich – wenn du erst einmal schläfst – nur mit einer Bombe wecken kann.»

      «Danke», sagte Martine. «Aber wenn er nicht weiß, dass ich weg war, warum ist das Haus denn wie ein Christbaum erleuchtet?»

      Ben zog das Eingangstor hinter sich zu und verschloss es. «Weil wir Besuch von Einbrechern hatten.»

      • 8 •

      Martine stand im Arbeitszimmer ihrer Großmutter, in dem normalerweise ein organisiertes Chaos herrschte, und blickte ungläubig um sich. Jede Schublade war aufgerissen, jede Schachtel ausgeleert, jeder Ordner umgestülpt. Alles lag kreuz und quer im Raum verstreut herum. Es sah aus, als sei ein Reißwolf in Gwyns Büro Amok gelaufen