Das Tal der Elefanten. Lauren St John

Читать онлайн.
Название Das Tal der Elefanten
Автор произведения Lauren St John
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783772543449



Скачать книгу

gewesen. Tief im Tal war eine Höhle, von der nur Martine und Grace wussten, abgesehen natürlich von den San, den alten Buschmännern, die vor Jahrhunderten ihre Lebensgeschichten in mystischen Gemälden auf den Felswänden festgehalten hatten.

      Aus Gründen, von denen Martine nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, schienen sie mit ihren Malereien auch Teile von Martines Schicksal vorausgesagt zu haben. Sie hatte eigentlich nie so richtig gewusst, wie sie die prophetischen Bilder der San in jenem Teil der Höhle, die sie Gedächtnishalle nannten, deuten sollte, bis es schon zu spät war und sie bereits über Bord in die von Haifischen wimmelnde See gestürzt oder mit einem verwundeten Leoparden in einer Höhle eingeschlossen war.

      «Erst Zeit und Erfahrung werden dich lehren, zu sehen diese Bilder mit den richtigen Augen», hatte Grace ihr immer wieder gesagt.

      Als sich Martine einmal darüber beklagte, dass es ungerecht sei, sein eigenes Schicksal auf einer Wandmalerei sehen zu müssen, ohne es beeinflussen zu können, hatte ihr Grace gesagt, gerade das sei der springende Punkt. Wenn Menschen ihre Zukunft sehen könnten, würden sie sich nur die angenehmen Seiten herauspicken. «Sie würden die wichtigen Dinge dieser Welt nicht lernen und verstehen, weil es oft sind die schwierigen Dinge.»

      Meistens musste ihr Martine recht geben. Viele ihrer schmerzhaften Erlebnisse hatten ihr direkt oder indirekt die unvergesslichsten Erfahrungen ihres Lebens beschert. Doch selbst Grace würde zugeben, dass der Verlust von Jemmy und allen anderen Tieren, die ihr in Sawubona ans Herz gewachsen waren, nicht zu den Erfahrungen des Lebens gehörten, die man unbedingt durchmachen musste. Darin konnte man doch nichts Positives sehen.

      Im Vorbeifahren warf Martine einen verstohlenen Blick auf den knorrigen Baum, der den Eingang zu Jemmys Refugium verdeckte. Sobald sie konnte, würde sie sich in die Gedächtnishalle schleichen, um zu sehen, ob die San-Buschmänner etwas darüber zu sagen hatten, dass sich Reuben James Sawubona aneignen wollte. In weniger als einem Monat würde sie ihren zwölften Geburtstag feiern. Bestimmt hatte sie jetzt ausreichend Zeit und Erfahrung, um sich von den Höhlenwänden ihre eigene Zukunft weissagen zu lassen.

      Der Landrover verlangsamte seine Fahrt. Sampson trat aus einer Baumgruppe hervor.

      «Parken Sie bitte dort drüben, Lurk», sagte Tendai und deutete auf den Rand einer in den Busch geschlagenen Lichtung. Lurk leistete seiner Anweisung murrend Folge.

      «Aus Sicherheitsgründen sollten Sie besser im Fahrzeug bleiben», riet ihm Tendai. «Wir haben mit Ihrem Boss schon Probleme genug. Und wir können jetzt keine Klage von ihm gebrauchen, weil Sie von einem unserer Tiere einen Kratzer abbekommen.»

      Lurk tat, als habe er nichts gehört. Er öffnete die Fahrertür und sprang heraus. Dann lehnte er sich gegen den Landrover und zündete sich eine Zigarette an.

      Die Blicke von Tendai und Martine trafen sich. Tendai zuckte mit den Schultern, kletterte mit dem Erste-Hilfe-Koffer für Tiere aus dem Fahrzeug und sprach Sampson in Zulu an. Sampson war ein hagerer, verhutzelter Mann, dem Martine mindestens hundert Jahre gab. «Passt auf!», sagte er zu Martine und Ben, als diese langsam auf die Baumgruppe zugingen.

      «Keine Bange», beruhigte ihn Martine. Neben Löwe, Leopard, Elefant und Nashorn gehörte der Büffel zu den Großen Fünf Afrikas, und er war eines der gefährlichsten von diesen Tieren. Manche Touristen erachteten das ganze Gerede von der Gefährlichkeit der Büffel, die wie sympathische, übergroße Kühe mit geschwungenen Hörnern wirkten, als völlig übertrieben. Doch wer diesem Irrglauben verfiel, musste ihn meist mit dem Leben bezahlen.

      Dieser Büffel jedoch stellte für niemanden eine Gefahr dar. Er war ein junger Einzelgänger, der wahrscheinlich aus der Herde ausgestoßen worden war, weil er Streit gesucht hatte. Von Streitlust war keine Spur mehr übrig. Er lag auf der Seite, aus seinen triefenden Augen sprachen Fieber und panische Angst. Während sie ihn betrachteten, stöhnte er tief, als würde das Leben aus ihm entweichen.

      Martines Augen wurden tränennass. Sie konnte Tiere nicht leiden sehen.

      «Schnell, Tendai!», rief sie, aber Tendai und Sampson schienen in einen Streit mit dem Fahrer verwickelt zu sein, weil dieser seine Zigarette nicht löschen wollte. Plötzlich warf er sie achtlos weg. Funken stoben, und ein trockener Busch am Rande der Lichtung drohte Feuer zu fangen. Sampson riss sich das Hemd vom Leib und drosch auf den Busch ein. Tendai spurtete zum Landrover, um Wasser zu holen, und brüllte Lurk über die Schulter an.

      Martine schob die Lippen des Büffels auseinander. Das Zahnfleisch des jungen Tiers war beinahe weiß, was sie als sicheres Zeichen dafür deutete, dass der Bulle nicht mehr lange zu leben hatte.

      «Martine!», drängte Ben sie, «du musst unbedingt etwas tun.» Wie Tendai und Gwyn Thomas wusste er, dass Martine eine Gabe hatte, Tiere zu heilen, die er allerdings nicht so richtig verstand. Außerdem wusste er, dass sie einen Überlebensbeutel mit allerlei Wundermitteln dabeihatte. Wenn sie sich in Trance versetzte, konnte sie diese heilbringend einsetzen. «Ich schau’ auch nicht hin, wenn das hilft.»

      Er wollte sich eben abwenden, als Martine ihn anstieß. «Halt», sagte sie. «Ich brauche dich. Du musst deine Hände gegen sein Herz pressen.»

      Dann kramte sie ein Fläschchen aus dem Beutel. Als sie es öffnete, entwich ihm ein ekliger Geruch von Froschschleim, Schimmel und Schweißsocken, sodass Ben husten musste.

      «Hey, was ist denn das?», fragte er naserümpfend. «Du sollst den Büffel retten, nicht vergiften.»

      Martine ignorierte ihn. Stattdessen goss sie die grüne Flüssigkeit in das Maul des Büffels, der gerade so weit zum Leben erweckt wurde, dass er wieder schnauben und husten konnte, dabei jedoch noch kraftloser als zuvor wirkte. Martine legte ihre Hände behutsam auf den Kopf des Bullen, strich mit den Fingern sanft über seine Nase, seine rauen, scharfen Hörner, die massiven Kieferknochen, die harten Nackenmuskeln. Dann schloss sie die Augen.

      Die Zeit verstrich. Martine hätte nicht sagen können, ob zwei Sekunden oder zwei Stunden vergangen waren. Ihre Hände wurden immer wärmer und schließlich so heiß, dass es sie nicht erstaunt hätte, wenn Rauch aus ihnen aufgestiegen wäre. Die Stimmen der Alten dröhnten in ihrem Kopf und führten ihre Finger. Der Rhythmus der Trommeln hallte in ihrer Brust wider. Sie sah große Giraffenherden und Männer in Lendenschürzen, mit Speeren bewaffnet und …

      «Martine! Pass auf!»

      Der Büffel rappelte sich plötzlich auf und begann, seine ausladenden Hörner zu schwenken. Martine sah ihm wie benommen zu. Schon kam Tendai – Gewehr im Anschlag – vom Landrover herbeigeeilt; Ben stellte sich schützend vor Martine und setzte sich damit selbst größter Gefahr aus.

      Doch letztlich waren weder das Gewehr noch Bens Mut nötig. Der Büffel warf seinen Kopf mehrmals hin und her, um seine Benommenheit abzuschütteln, schnaubte und stampfte dann langsam durch die Bäume davon.

      Als Tendai bei ihnen war, schloss er sie beide erleichtert in die Arme. «Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt vorsichtig sein. Büffel sind so unberechenbar. Der hier hat sogar Sampson glauben gemacht, er würde gleich sterben. Und Sampson hat beinahe ein Jahrhundert Erfahrung! Das nächste Mal bleibt ihr ganz schön bei mir.»

      «Versprochen», sagte Martine, «aber ich denke nicht, dass der Büffel uns wehtun wollte.»

      Sie mied den Blickkontakt mit Ben, aber aus den Augenwinkeln sah sie, dass er sehr mitgenommen war. Sie wollte gerade etwas sagen, um ihn abzulenken, als der Fahrer auf sie zukam.

      «Lurk, ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen im Landrover bleiben – es ist zu gefährlich», sagte Tendai gereizt.

      Lurk funkelte ihn wütend an. «Von Ihnen nehme ich keine Befehle entgegen.»

      Tendai rollte mit den Augen. «Das war kein Befehl, sondern ein Sicherheitsratschlag. Aber ich glaube mittlerweile, dass wir nicht Sie vor den Tieren, sondern die Tiere vor Ihnen in Sicherheit bringen müssen. Sie haben fast den Busch in Brand gesteckt.»

      Lurk sagte nichts. Stattdessen starrte er entgeistert über Tendais Schulter und zischte mit unterdrückter Stimme: «Elefant! Verrückter Elefant!»

      «Das