Gommer Sommer. Kaspar Wolfensberger

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Название Gommer Sommer
Автор произведения Kaspar Wolfensberger
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Kauz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701798



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um von ihr den Ritterschlag zu empfangen, Senn als Erster. Frau von Hooch berührte mit dem Degen die Schulter des Kripochefs. Der frisch Geadelte stand auf, verneigte sich und ging von dannen. Als Kauz an die Reihe kam, war es kein Degen mehr, den Frau von Hooch in der Hand hielt, sondern ein Zweihänder: Das ist kein Ritterschlag!, konnte er gerade noch denken, als sie ausholte. Da schreckte er in seinem Bett hoch und griff sich an den Hals.

      Samstag, 1. Juli

      In der Früh ertönte von der Pfarrkirche her Glockengeläut: Die größte, tiefste Glocke wurde als erste geschlagen, dann stimmten allmählich die anderen und schließlich die kleinste ein. Es dauerte fast eine halbe Stunde, drei mal sieben Minuten. Mit einem Mal erinnerte sich Kauz, was ihn seine Großmutter gelehrt hatte: Das war das Totengeläut für einen Mann. Jetzt wusste es das ganze Dorf, dass ein Einwohner gestorben war. Die Neugierigen würden den Sigristen anrufen, um zu erfahren, wer es war. Wer es nicht schon gestern erfahren hatte, wusste spätestens an diesem Morgen, dass Wendelin Imfang tot war.

      Eigentlich hatte er den Eltern Imfang einen Kondolenzbesuch machen wollen, aber als er sich dem Hof auf dem Milifäld näherte, standen schon andere vor der Haustür. Da wollte er mit seinem Besuch lieber noch zuwarten.

      Er entschied sich, mehr schweren als leichten Herzens, für eine erste kleinere Wanderung. Sein Vorhaben war, vorerst im Obergoms zu wandern und erst allmählich in die Ferne zu schweifen. Er ging zur Alpenrose zurück, packte seine Kamera und etwas Proviant ein und stieg auf sein Motorrad. Die Fahrt ging über Geschinen und Ulrichen, an der Abzweigung der Nufenenpassstrasse vorbei, nach Obergesteln und Oberwald. In gut zehn Minuten war er dort. Ganz zuhinterst, im Dorfteil Unterwasser, stellte er die Maschine ab und nahm den Wanderweg Richtung Furkapass unter die Füße.

      Schutzhund bewacht die Herde, hieß es weiter oben auf einer Tafel. Gut so, dachte Kauz. Aber auf eine Diskussion über den Wolf würde er sich mit einem Gommer auf keinen Fall einlassen, nicht einmal mit einem Schutzhundehalter.

      Er hatte nicht vor, bis ganz auf den Pass hinaufzumarschieren. Ihm genügte es, einen Aussichtspunkt zu finden. Nach einer guten Stunde kam er auf einer Alp an. Er setzte sich vor die Hütte. Keine Menschenseele war zu sehen. Ein Murmeltier stand aufrecht auf einem Felsbrocken, pfiff und verschwand. Weiter oben blökten Schwarznasenschafe.

      Das war genau der Punkt, den er gesucht hatte. Die Aussicht war unbeschreiblich schön. Das Goms lag ihm in seiner ganzen Pracht zu Füßen. Die Sonne stand noch in seinem Rücken.

      Kauz nahm seinen Fotoapparat hervor, fixierte ihn auf dem Ministativ, stellte Blende und Belichtung ein und prüfte das Bild auf dem Display, bevor er abdrückte. Farbbilder schoss er, wenn ihm danach war, mit seinem Handy. Aber mit seiner Spiegelreflexkamera wollte er sich in der digitalen Schwarzweißfotografie üben.

      Sein Vater war Hobbyfotograf gewesen und hatte zu Hause im Keller eine kleine Dunkelkammer eingerichtet. Als Zehnjähriger hatte Kauz dort die geheimnisvolle Verwandlung vom simplen Papierstreifen in schwarz-weiße Bilder miterlebt. Vor Jahren hatte er einen Kurs in Schwarzweißfotografie besucht. Nur hatte er dieses Steckenpferd, wie so manches andere auch, später vernachlässigt. Jetzt hatte er endlich Zeit, seine bescheidenen Vorkenntnisse aufzufrischen.

      Er war gespannt darauf, wie sich diese bunte Landschaft als Schwarzweißbild präsentieren würde: Wie ein Flickenteppich in verschiedenen Grüntönen breitete sich der Talboden aus – hellere und dunklere Gevierte, gemähte und noch ungemähte Wiesenparzellen –, der Länge nach durchzogen von einem blauen Band, dem Rotten. Daran reihten sich in regelmäßigen Abständen die sechs, sieben Dörfer des Ober- und des Mittelgoms, die man von hier aus sehen konnte. Die bewaldeten Bergflanken fassten diese Vignette von den Seiten her ein, geradeaus bildete das Weisshorn den grandiosen Abschluss. Darüber wölbte sich ein wunderbar blauer Himmel. Und mitten durch diese unbewegte Landschaft schlängelte sich, von ferne wie eine Spielzeugeisenbahn anzusehen, der aus fünf Waggons bestehende rote Zug der Matterhorn-Gotthard-Bahn.

      Kauz fühlte sich wie in einer andern Welt.

      Das Glück war von kurzer Dauer. Schon war der Gedanke an Wendel wieder da und ließ ihn nicht mehr los. Was war geschehen? Hatte ihn seine Intuition getäuscht? Hatte Wendel sich doch umgebracht? Er fühlte sich ohnmächtig. Wenn er gedurft hätte, so hätte er sich in den Fall verbissen, hätte alles getan, um Gewissheit zu erlangen. Aber er durfte nicht. Er musste sich ganz heraushalten.

      Kauz stand auf und machte sich auf den Rückweg. Er nahm den Pfad über den Kummerberg. An einer Wegbiegung sah er ein Tier mit spitzen Ohren und langem Schwanz, vielleicht ein sehr dunkler Fuchs, über den Trampelpfad huschen. Zu seiner Verwunderung blieb das Tier in einiger Distanz stehen, drehte sich nach ihm um, duckte sich in einen Graben und schaute ihn aus schwarzen Augen an.

      Kauz blieb stehen und kauerte sich auf den Boden.

      Das konnte kein Fuchs, es musste ein Hund sein. Das Tier, nur wenig größer als ein Fuchs, hatte aber längere Beine, kam aus dem Graben gekrochen und bewegte sich in geduckter Haltung, immer fluchtbereit, aber verhalten mit dem Schwanz wedelnd, auf ihn zu.

      »Komm her«, lockte Kauz.

      Der Hund kam leise winselnd näher. Er sah ziemlich ausgemergelt und verwahrlost aus. Augenblicklich regte sich der Tierfreund in Kauz. Er kramte in seinem Rucksack, der Hund legte sich in einigen Metern Abstand auf den Boden und beobachtete ihn aufmerksam. Kauz brach etwas von seinem Sandwich ab und warf es dem Hund zu. Der schnappte sich den Bissen und schlang ihn hinunter.

      Kauz rührte sich nicht.

      Allmählich kam der Hund näher. Kauz richtete sich auf, sofort nahm der Hund Reißaus. Dann blieb er stehen, drehte sich um und kam, den Bauch fast am Boden, erneut näher. Schließlich legte er sich, aufgeregt wedelnd, vor Kauz auf den Bauch. Kauz streckte die Hand aus. Der Hund flüchtete erneut, und das Spiel begann von vorn.

      Doch nach kurzer Zeit war es so weit: Der Hund leckte Kauz die ausgestreckte Hand und ließ sich den Kopf tätscheln. Er warf sich vor ihm auf den Boden, wälzte sich auf den Rücken, rappelte sich auf und versuchte, an Kauz hochzuspringen. Übermütig drehte er ein paar Runden, tollte wie wild durch den Wald hinunter und wieder herauf und blieb herausfordernd bellend vor Kauz stehen.

      »Du bist mir einer«, lachte Kauz. »Wo gehörst du denn hin? Auf die Alp? Dann jetzt aber marsch, zurück«, sagte er nach einer Weile streng und schickte den Hund mit einer Armbewegung weg. Der Hund trollte sich, aber als Kauz weiterging und sich später umdrehte, sah er, dass der Hund ihm in respektvollem Abstand folgte. Wenn er sich entdeckt fühlte, legte er sich sofort platt auf den Boden. Kaum ging Kauz weiter, schlich ihm der Hund hinterher. Er gehörte wohl doch nicht auf die Alp. Den Eindruck eines Schutzhundes machte er jedenfalls nicht.

      Auf einmal stand Kauz vor den Überresten eines Berggasthauses. Unterhalb der Ruine setzte er sich auf einen Stein und schaute ins Tal.

      »Wunderbare Aussicht, nicht wahr?«, sagte eine Stimme.

      Kauz drehte sich um und sah nach oben: Da stand eine sportliche Frau, vermutlich etwas jünger als er, mit markantem Gesicht und Kurzhaarschnitt, im dunklen Haar ein paar graue Strähnen. Ihr Outfit sah mehr nach Läufer- als nach Wanderkleidung aus. Sie stand auf den Brettern, die einst die Sonnenterrasse des Berggasthauses gebildet hatten, hielt ein Fernglas in der Hand und sah lachend auf ihn herab.

      »Habe ich Sie erschreckt?«

      »Ein bisschen. Ich war nicht darauf gefasst, hier jemanden anzutreffen«, sagte Kauz. »Ist das Ihr Hund?«

      »Welcher Hund?«, fragte die Frau zurück.

      Kauz blickte um sich. Aber da war kein Hund mehr. Er erzählte kurz von seiner Begegnung.

      »Nein, ich habe keinen Hund. Er wird auf die Alp gehören«, mutmaßte die Frau und blickte durch das Fernglas.

      »Was sieht man?«, fragte Kauz.

      »Viel«, antwortete die Frau. »Wenn man weiß, wohin man schauen und wonach man suchen muss: Schwarznasenschafe, Murmeltiere, Steinböcke.«

      Ob sie oft hierherkomme, wollte Kauz wissen.

      Wann