Gommer Sommer. Kaspar Wolfensberger

Читать онлайн.
Название Gommer Sommer
Автор произведения Kaspar Wolfensberger
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Kauz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701798



Скачать книгу

      Das Überbringen der traurigen Nachricht war das eine. Das andere war, dass sie die noch völlig unter Schock stehenden alten Leute auch noch befragen mussten. Die beiden Polizisten erfuhren, dass der Sohn am frühen Morgen das Haus verlassen hatte, als die Eltern noch schliefen. Sie hatten gewusst, dass ihr Sohn an diesem Tag den Speicher für einen Feriengast bereit machen würde. Wie gewohnt hatte er vorgehabt, ein paar Lebensmittel als Willkommensgabe in die kleine Ferienwohnung zu bringen. Die Sachen habe Frau Imfang, seine Mutter, für ihren Sohn eingekauft und in einer Einkaufstasche bereitgestellt. Die Tasche sei, als sie aufstanden, schon weg gewesen. Danach habe Wendelin die Wiese vor seinem Speicher und später einzelne weiter wegliegende Wiesenparzellen mähen wollen.

      »Ist er zu Fuß zum Speicher?«, fragte die Polizistin behutsam. »Oder mit dem Traktor?«

      »Zu Fuß«, antwortete Frau Imfang und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ist ja nicht weit. Den Jeep hat er gestern auf der Alp stehen lassen. Dort oben brauchen sie manchmal ein Fahrzeug. Wenn es etwas zu transportieren gibt.«

      Wendel sei am Vorabend wortkarg gewesen wie fast immer, aber nichts habe darauf hingedeutet, dass er verzweifelt gewesen sei.

      Ria Ritz begleitete die weinenden Eltern ins Zimmer des Toten, um nachzusehen, ob ein Abschiedsbrief oder sonst ein Hinweis für seine Verzweiflungstat zu finden sei. Nichts dergleichen kam zum Vorschein.

      Dann ging man gemeinsam in den Kuhstall und in die Scheune. Der Stall war ebenso sauber ausgemistet, stellte Ria Ritz fest, wie der Ziegenstall, in dem sie den Feriengast Walpen befragt hatte. In der Scheune standen Traktor, Mähmaschine und Heuwender.

      Korporal Ritz schickte sich an, mit den beiden Alten wieder ins Haus zu gehen. Carlen dagegen ging hinter die Scheune. Dort stand ein alter, armeegrüner Jeep. Benjamin Carlen war entzückt. Ein Military, stellte er fest, Pick-up-Modell! Mit Kennermiene ging er um den Oldtimer herum. Er spähte durch die Fensterscheiben ins Innere. Der Zündschlüssel steckte. Plötzlich stutzte Carlen.

      »Chef«, raunte er, an der Scheunenecke stehend, seiner Vorgesetzen zu, »chumm, lüeg ämal.« Komm, sieh dir das an!

      Ritz ließ die beiden Alten weitergehen, sie hatten nichts von Carlens Abstecher mitbekommen, und kam näher. Der rechte Kotflügel des mattgrünen Jeeps war demoliert, die Stoßstange eingedrückt und der rechte Scheinwerfer arg beschädigt. Das Scheinwerferglas fehlte.

      »Sie haben doch gesagt, dass der Jeep auf der Alp steht«, flüsterte Carlen.

      »Fotografier das!«, raunte Ria Beni zu, »aber ja nicht berühren«, und war mit ein paar Schritten wieder bei den Eltern.

      Carlen zückte sein Handy.

      »Jetzt haben wir das Motiv für den Selbstmord«, sagte Ria, als sie zum Speicher zurückfuhren. »Bewiesen ist zwar noch nichts, aber ich wäre sehr überrascht, wenn die Lacksplitter und die Glasscherben, die wir heute früh am Unfallort gesehen haben, nicht von Imfangs Jeep stammen. Wenn das stimmt, dann müssen wir annehmen, dass Wendelin Imfang heute nicht zu Fuß ging, sondern mit dem Pick-up zu seinem Speicher gefahren ist. Dass er auf der Rückfahrt den Hubert Trapper über den Haufen fuhr und ohne anzuhalten davonraste. Als er realisierte, dass er einen schweren Unfall verursacht und dass er ausgerechnet den Gemeindeschreiber erwischt hatte, geriet er in Panik. Er stellte sein Fahrzeug zu Hause hinter der Scheune ab, holte sich einen Kälberstrick und erhängte sich. Eine Verzweiflungstat. Im Schock, vielleicht.«

      »Aber wieso ist er in den Speicher auf der andern Seite des Dorfs gegangen, um sich zu erhängen? Wieso nicht im Stall oder in der Scheune im Milifäld?«

      Ria Ritz antwortete nicht sofort. »Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte er es nicht in der Nähe seiner Eltern tun«, meinte sie dann. »Quasi um sie zu schonen. Ich bin ja keine Psychologin, aber ich weiß, dass sich Menschen in einem psychischen Schock manchmal von den seltsamsten Motiven leiten lassen.«

      »Vielleicht war es aber so«, mutmaßte Carlen: »Er war sich nicht sicher, wie schwer der Unfall war, den er verursacht hatte. Er ging, nachdem er den Jeep hatte stehen lassen, zu Fuß zum Unfallort zurück. Als er dann die Ambulanz, den Arzt und uns Polizisten sah, das Blaulicht und die Blutlache auf der Straße, geriet er in Panik. Den Strick hatte er vielleicht im Jeep. Oder er hatte einen im Speicher. Jedenfalls ging er in den Speicher, der näher am Unfallort liegt als sein Hof, und erhängte sich.«

      »Könnte auch sein«, stimmte ihm seine Chefin halbherzig zu.

      »Armer Kerl«, schloss Benjamin Carlen.

      »Arme Eltern«, meinte Ria Ritz. »Auf alle Fälle geben wir das alles der Staatsanwältin weiter. Dann soll sie entscheiden, ob weiter ermittelt wird oder nicht.«

      *

      Kauz hatte die Wahl: Relais et Auberge du Sauvage oder eines der Hotels am Dorfrand. Witzbolde im Dorf nannten das feudale Haus, den französischen Namen verballhornend und das Vornehme ins Gegenteil kehrend: där Sauwagä. Die Auberge, wie man das weitherum bekannte Hotel sonst kurz nannte, stand mitten in Münster. Kauz hatte erfahren, dass Goethe einst darin logiert hatte, als er durch die Schweiz reiste. So viel Prominenz passe nicht zu ihm, entschied er. In dieser Hinsicht war er ein Proletarier. In den Schickimicki-Hotels, welche Chantal ausgewählt hatte, hatte er sich nie wohl gefühlt. Sobald die Gäste extra fein angezogen waren oder sich sonst wie in Szene setzten, fühlte er sich wie im Kostümfilm. Vier- und Fünf-Sterne-Schick hatte er im Goms allerdings nicht zu befürchten. Und nach Schickimicki sah die Auberge auch nicht aus. Kein Gommer Hotel sah danach aus. Aber zur Sicherheit nahm er ein Zimmer in der Alpenrose, die bloß einen Stern hatte. Hätte er seinen Speicher, so würde er sich jetzt dort einrichten. Aber die Zeit im Hotelzimmer totzuschlagen, darauf hatte er keine Lust. Er deponierte sein Gepäck und schlenderte zu Fuß durchs Dorf, in Gedanken immer wieder bei Wendel. Von der Kirche aus ging er ins Oberdorf hinauf.

      Zu verkaufen, stand an einem Stall. Darunter das Logo von Z’Blatten-Immobilien. Bewilligung vorhanden, hieß es weiter. Damit musste die Baubewilligung für den Umbau in ein Ferienhaus gemeint sein. In den letzten paar Jahren florierte im Goms der Verkauf und der Umbau von Ställen und Speichern. Von Wendel hatte er einiges über diesen Boom erfahren. Er war erstaunt gewesen, dass sich Wendel nicht darüber aufregt hatte.

      »I bi uberhöpt nit dergägä«, er sei überhaupt nicht dagegen, hatte er versichert.

      Wenn man die Ställe, Stadel und Speicher sorgfältig umbaue, so sei ihm das lieber, als wenn sie zerfielen und verrotteten. Die meisten dieser Nutzbauten würden nicht mehr gebraucht, und sie auf eigene Kosten instand zu stellen und zu unterhalten, dafür fehle den meisten ortsansässigen Eigentümern das Geld. Die schlichte Art Umbau, wie er ihn vor zwanzig Jahren habe machen lassen, sei allerdings nicht mehr gefragt. Heute werde luxuriöse Ausstattung mit allem Komfort erwartet. Verpackt in eine schöne alte Hülle. Deshalb seien solche Holzbauten gesuchte Objekte.

      »Bis keeni me hät«, bis es keine mehr gebe, hatte Wendel trocken bemerkt.

      Schlimmer seien die andern, hatte er sich in einem Anfall von Redseligkeit ereifert. Die, die ganze Ferienkolonien rund um die Dörfer bauten und damit die Landschaft verschandelten.

      »Nummä wägäm Gääld«, hatte er gesagt und den Kopf geschüttelt. Nur des Geldes wegen würden diese geldgierigen Siächä Land an schönster Lage zusammenkaufen und mit hässlichen Wohnblöcken überbauen. Alles Zweitwohnungen, deren Fensterläden die meiste Zeit geschlossen seien. Von dieser Welle sei Münster bis anhin verschont geblieben. Andere Dörfer seien weniger gut davongekommen.

      »Äs ischt ä Schand!«, hatte Wendels Fazit gelautet.

      Kauz stieg zur Antonius-Kapelle hinauf. Die Verwüstungen, die der Minstigerbach ein oder zwei Jahre zuvor mitten im Sommer angerichtet hatte, waren kaum mehr zu sehen. Dass das Dorf nicht viel mehr in Mitleidenschaft gezogen wurde und dass es keine Toten gegeben habe, das habe man dem Heiligen Antonius zu verdanken, hatte Wendel gesagt.

      In der Kapelle zündete Kauz für Wendel eine Kerze an. Er war kein Kirchgänger, längst hatte er sich von der Kirche entfremdet.