Gommer Sommer. Kaspar Wolfensberger

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Название Gommer Sommer
Автор произведения Kaspar Wolfensberger
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Kauz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701798



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so hineingerutscht. Der alte Postenchef war vor einem Jahr an einem Herzinfarkt gestorben. Sein Stellvertreter war als Nachfolger nicht infrage gekommen, denn er stand kurz vor der Pensionierung. Und unter den Restlichen war Ria die Dienstälteste. Kürzlich war dann der Jüngste, Polizeiaspirant Benjamin Carlen, zur Gommer Mannschaft gestoßen. Wenigstens für ein paar Monate, im Hinblick auf die bevorstehende Sommerferienzeit, war er eine willkommene Verstärkung. Der Kreischef in Brig hatte darauf bestanden, dass Ria als Gommerin den Posten ad interim übernehme, denn fürs Goms wolle man keinen Auswärtigen. Bei dieser Übergangslösung war es bis heute geblieben. Natürlich hatte Ria sich gebauchpinselt gefühlt und sich tüchtig ins Zeug gelegt. Ihr Mann Thomas hatte ihr versprochen, in seinem Job Teilzeitarbeit zu beantragen oder Homeoffice-Tage einzuschalten, um sich um Emma zu kümmern, wenn ihre Mutter nicht konnte. Doch dann war wenige Wochen später das mit dem Gleitschirm passiert und alles war auf einen Schlag anders gewesen. Ihre Mutter hatte einspringen und fast rund um die Uhr für das Kind da sein müssen. Auf Bäuerinnenart hatte sie gesagt: »Das packen wir, Meggä.« Schließlich gebe es jetzt in Fiesch eine Kindertagesstätte. Sie hatte darauf bestanden, dass Ria ihren Job behielt. Sie war mit dem Vater sogar extra von Niederwald nach Fiesch gezogen, um Ria besser unterstützen zu können. Seit drei Monaten war nun Thomas aus Nottwil zurück, und jetzt war wieder alles anders.

      Das Telefon klingelte. Notruf, stellte sie fest. Bloß nicht noch einmal Fahrerflucht, dachte sie. Ihr Pikettdienst war noch nicht vorbei.

      Die Zentrale in Sitten leitete den Anruf, da er aus dem Goms kam und der Anrufer deutschsprachig war, direkt auf den Posten Goms in Fiesch weiter.

      Värdammt!, dachte sie. Aus dem Feierabend wird wohl nichts.

      »Kantonspolizei Goms, Korporal Ritz«, meldete sie sich. Sie wartete einen Augenblick, ob am andern Ende Panik herrschte, ob sie Fragen stellen oder jemanden beruhigen musste. Sie hatte schon alles Mögliche erlebt. Dieses Mal war es anders. Sie brauchte bloß hinzuhören. Und sich Notizen zu machen.

      Aspirant Benjamin Carlen saß im Büro nebenan, die Tür weit offen, und spitzte die Ohren. Es roch nach Äggschn.

      »Gut, Herr Walpen«, sagte Ria Ritz zum Schluss. »Ich hab alles notiert. Rühren Sie bitte nichts an, ja? Bleiben Sie, wo Sie sind! Warten Sie vor dem Speicher auf uns! Wir kommen sofort.«

      »Los, Beni. Äggschn!«, rief Ria ihrem Kollegen zu, »AgT in Münster!«

      Es war nicht der erste außergewöhnliche Todesfall während seines Praktikums.

      »Suizid durch Erhängen«, fügte Ria noch hinzu.

      »Wer hat angerufen? Ein Angehöriger?«, fragte Beni und schnappte sich schon seine Jacke.

      »Nein, ein Feriengast.«

      »Ein Feriengast?«, wunderte sich Beni. »Mit Namen Walpen? Äwa!«

      *

      Noch im Stehen hatte Kauz sein Handy gezückt und den Polizeinotruf angetippt. Jetzt stand er im Speicher neben dem Tisch, fasste den Stuhl mit einem Papiertaschentuch an der Lehne, zog ihn unter dem Küchentisch hervor und setzte sich rittlings darauf.

      Er konnte es nicht fassen: Wendel Imfang tot?

      Dabei hatte er sich so darauf gefreut, mit ihm heute Abend ein Bier zu kippen und ein bisschen zu plaudern – doorffä, sagte Wendel dazu. Das taten sie jedes Jahr zu Beginn seiner Ferien.

      Beklommen sah er auf den am Kälberstrick hängenden Toten: Ein nicht besonders groß gewachsener Mann, mindestens einen Kopf kleiner als er. Dunkelbrauner, krauser Haarkranz, an den Schläfen leicht ergraut. Stallhosen, blaue Jacke, an den Füßen alte Militärschuhe. Die Hände von der Arbeit gezeichnet, die Arme schlaff aus den Ärmeln hängend. Der Kopf unnatürlich abgeknickt – das war für Kauz schon immer das Grässlichste am Anblick eines Erhängten gewesen.

      Was hat Wendel bloß zu dieser Verzweiflungstat getrieben?, fragte sich Kauz. Schulden? Eine Frauengeschichte? Eine unheilbare Krankheit? Oder hat er an Depressionen gelitten?

      Fragen nach dem Motiv einer Tat gehörten zum Arsenal des Kriminalpolizisten. Betroffenheit, Mitleid, Trauer und Schmerz nicht. Die waren für die Arbeit eher hinderlich. Aber das hier war etwas anderes. Hier hing ein Toter, den er persönlich gekannt hatte. Recht gut gekannt sogar, obschon sie sich nur alle Jahre zwei, drei Wochen lang gesehen hatten. Sie hatten sich gemocht. Mit den Jahren waren sie so etwas wie Freunde geworden, auch wenn beide sich gescheut hatten, den anderen einen Freund zu nennen. Kauz hatte sich Wendel irgendwie seelenverwandt gefühlt. Wendelin Imfang, je nach Stimmung wortkarg und mürrisch, handkehrum aufgeschlossen und redselig, oft witzig, manchmal auch bissig, aber im Herzen ein lieber und treuer Kerl, war auch ein Kauz gewesen.

      Kauz sah sich um. Beim Küchenregal stand eine papierene Einkaufstasche. Er konnte es nicht lassen, die Dinge, die darin waren, mit dem Taschentuch hochzuheben und genau anzusehen. Schließlich waren sie für ihn bestimmt, das wusste er. Ein Stück Alpkäse, ein Glas Honig, ein kleine Flasche mit Drahtbügelverschluss und ein Sechserpack Bier. Unter dem Bier kam ein Kassenzettel zum Vorschein. Er ließ ihn auf dem Boden der Einkaufstasche liegen und bückte sich. Seine Augen waren scharf wie eh und je. Das Bier war am neunundzwanzigsten Juni gekauft worden. Am Vortag also, extra für ihn. Der Sechserpack war aufgerissen, drei Dosen fehlten. Merkwürdig, dachte Kauz. Ob er sich Mut antrinken musste? Er sah sich um. Auf den ersten Blick sah er keine leeren Bierdosen. Die Glasflasche mit Drahtbügelverschluss war ohne Etikett, aber Kauz wusste, was drin war: hausgemachter Heidelbeerlikör. All die Dinge, die Wendel jeweils am Ankunftstag für ihn bereitstellte. Es fehlte bloß der kleine Laib Roggenbrot und der Mocken Trockenfleisch, die bisher immer zu diesem Willkommensgruß gehört hatten.

      Aufgewühlt setzte er sich wieder hin.

      Wie konnte Wendel bloß so rücksichtslos sein? Er musste doch gewusst haben, dass er, Kauz, ihn hier finden würde. War er so verzweifelt gewesen, dass er überhaupt nicht an ihn, seinen Feriengast und Freund, gedacht hatte? Doch, sagte sich Kauz. Er musste an ihn gedacht haben, er hatte ja die Willkommensgaben für ihn bereitgelegt. Das heißt, bereitgelegt hatte er sie nicht wirklich, aber am Vortag eingekauft und in den Speicher gestellt. In anderen Jahren waren die Sachen immer hübsch aufgetischt worden: Das Brot in ein Tuch eingeschlagen, Käse und Trockenfleisch samt Messer auf einem Holzbrett, Honig und Heidelbeerlikör daneben auf dem Küchentisch, der Sechserpack Bier im winzigen Kühlschrank, der unter dem Schüttstein stand.

      Da stimmt etwas nicht, dachte Kauz.

      Er stützte sich wieder auf die Stuhllehne und starrte vor sich hin. Dann auf die Leiche, die bewegungslos über dem Boden hing. Lange sah er sich im Raum um. Nach einer Weile dämmerte es ihm: Das war kein Selbstmord. Wendel Imfang war ermordet worden. Kauz wusste bloß noch nicht, wieso er das wusste.

      Bald musste die Polizei hier sein. Kauz zückte sein Handy und begann zu fotografieren.

      Dann verließ er den Speicher und ging zum Ziegenstall hinüber. Bevor er sich auf die Außentreppe setzte, ging er auch um den Stall und den danebenliegenden Stadel herum. Gewohnheitsmäßig nahm er die Umgebung genau in Augenschein. Gewisse Dinge stachen ihm ins Auge, ob er wollte oder nicht. Aber er hielt sich zurück, er hatte hier keinen Auftrag.

      *

      Korporal Ria Ritz stellte sich Kauz mit Namen vor. Als Erstes wollte sie wissen, ob er der Anrufer sei.

      Ja, sagte Kauz, er habe angerufen. Walpen sei sein Name.

      »Walpä«, nickte sie. »Aber nit va hiä?«

      Es war mehr Feststellung als Frage.

      Nein, bestätigte Kauz, aus Zürich. »Üsserschwiiz«, lachte er. »Aber där Name ischt va hiä.«

      »Woll äppä«, bestätigte sie.

      Auch wenn er das Wallissertitsch problemlos verstand – schließlich hatte sein Vater sein Lebtag dieses Idiom gesprochen –, es war ihm klar, dass er selber nur radebrechte und dass sie sofort hörte, dass er kein Gommer war. Sondern ein »Ausserschweizer«. Aber es freute ihn,