Gommer Sommer. Kaspar Wolfensberger

Читать онлайн.
Название Gommer Sommer
Автор произведения Kaspar Wolfensberger
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Kauz
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701798



Скачать книгу

wäre ich dann Schweizergardist geworden statt Polizist.

      Es war ein Widerspruch, das wusste er, aber die Kerze für Wendel musste sein. Das war er ihm schuldig. Er war allein und blieb eine ganze Weile in der Kapelle stehen. Die Vorstellung, dass Wendel vielleicht immer noch am Kälberstrick in seinem eigenen Speicher hing, würgte ihn im Hals. Der Gedanke an Wendels Eltern, die vielleicht noch gar nichts von der Tragödie wussten, zog ihm das Herz zusammen. Wendelin, dachte er, du arme Seele! Was ist bloß passiert?

      Das Unglück ließ ihm keine Ruhe.

      Er nahm einen andern Weg zurück ins Dorf. Noch fünfmal kam er an einem Stall oder einem Stadel vorbei, der zum Kauf angeboten wurde. Immer mit dem Logo von Z’Blatten-Immobilien. Zuerst empfand er diesen Ausverkauf der Heimat als deprimierend, aber dann dachte er, es sei ja ganz in Wendels Sinn: Schöne alte Ställe und Stadel wurden zwar verkauft – an Üsserschwiizer!, also fast an Ausländer –, aber immerhin, sie blieben erhalten. Wenn sie sorgfältig umgebaut wurden, trugen sie zur Erhaltung des Ortsbilds bei. Und wurden dazu noch genutzt. Zu Wohnzwecken zwar, nicht für Vieh und Heu, aber dagegen war nichts einzuwenden. Wieso auch? Er gehörte ja auch zu den Nutznießern.

      Er stieg ins Unterdorf hinab und ging in den Gommereggä, unweit der Langen Gasse.

      Das Grüezi mitenand, das ihm auf der Zunge lag, konnte er gerade noch unterdrücken.

      »Güätän Abänd«, sagte er stattdessen laut und vernehmlich.

      Einige der Männer, die um den Stammtisch saßen, hoben den Kopf, andere blickten mürrisch in ihr Glas.

      Zwei, drei, die schon etwas intus hatten, erwiderten seinen Gruß. Einer schien ihn zu erkennen – Kauz ging jedes Jahr im Gommereggä ein und aus –, hob die Hand und sagte: »Salü!«. Aber er lud ihn nicht ein, sich zu ihnen an den Stammtisch zu setzen.

      Kauz kannte die knorrige Art der Gommer Männer. Er war ja selbst aus diesem Holz geschnitzt. Er setzte sich an einen separaten Tisch und gab der Serviertochter einen Wink: »Schtangä!«

      Die Serviertochter stellte das Bier vor ihn auf den Tisch: »Gsundheit!«

      Er fühlte sich hundeelend beim Gedanken daran, dass er jetzt ohne Wendel hier sitzen musste. Trotzdem nahm er einen großen Schluck. Bhüeti!, dachte er und stieß innerlich mit ihm an. Oder was soll man einem Toten wünschen?

      Eine Weile war es still im Lokal. Dann wurde das Gespräch, das wohl seinetwegen unterbrochen worden war, wieder aufgenommen. Es drehte sich um einen Verkehrsunfall, der sich am Morgen zugetragen hatte. Der Fahrer war abgehauen. Man überbot sich mit Vorschlägen, wie man mit dem Flüchtigen verfahren müsste. Offenbar hatte der flüchtige Fahrer einen Einwohner namens Hubert angefahren und schwer verletzt. Hubert liege im Spital Visp im Koma, wusste der eine. Ach was, er sei nach Bern ins Inselspital geflogen worden, meinte ein anderer. Nein, er sei tot, behauptete ein Dritter.

      Nach einer Weile betrat ein weiterer Gast die Gaststube. Er blieb neben dem Stammtisch stehen.

       »Hedär keert?«

      »Was?«

      Der neue Gast sah sich mit einem misstrauischen Blick nach Kauz um. Dann raunte er denen am Stammtisch etwas zu.

       »Was? Schandarmä? Bim Wändel schim Schpiichär?«

       »Gwiss!«

       »Wägä was?«

      Kauz hörte wieder ein Raunen.

       »Was?! Toot? Bischt sichär?«

       »Fiiwoll!«

       »Dr Gottswillä!«

      Die traurige Nachricht machte also schon die Runde. Sie würde sich wie ein Lauffeuer durch das Dorf und das ganze Tal verbreiten. Kauz blieb sitzen. Mit halbem Ohr schnappte er Dinge auf, die am Stammtisch gesprochen wurden. Alle zeigten sich schockiert. Es war klar, dass niemand Wendels Tod erwartete hatte, schon gar nicht einen Selbstmord. Keiner sprach ein böses Wort. Offensichtlich war Wendel ein respektierter und geschätzter Minstiger gewesen. Seine Eltern, wollte man den Worten glauben, taten allen schrecklich leid.

      Es hielt Kauz nicht länger. Er legte das Geld für das Bier auf den Tisch, stand auf und wandte sich zum Gehen.

      »Was ischt das fär eenä«?, hörte er einen in seinem Rücken tuscheln, ehe sich die Tür hinter ihm schloss.

      Er nahm den Weg durch die Lange Gasse.

      Der Streifenwagen stand immer noch auf der mit einem Fahrverbot belegten Straße, daneben ein beiger Subaru. Der Bezirksarzt ist da, vielleicht auch der Staatsanwalt, schloss Kauz. Ein Leichenwagen fuhr eben vor. Die Umstehenden wichen zurück und verzogen sich zwischen die Ställe und Stadel auf der andern Straßenseite. Jetzt bereute Kauz, dass er beim Warten auf die Polizei nicht aufgelesen hatte, was er auf der Erde hatte liegen sehen. Langsam näherte er sich Wendels Ziegenstall und hob die nur halb gerauchte Zigarette, die immer noch zwischen Stall und Stadel auf dem Boden lag, mit einem Papiertaschentuch auf. Darin eingewickelt steckte er sie ein.

      Die Speichertür ging auf, zwei Männer trugen einen hölzernen Sarg heraus und luden ihn in den Leichenwagen. Die Menschen ringsum hörten auf zu tuscheln. Eine alte Frau schlug das Kreuz und murmelte ein Gebet. Eine andere schluchzte auf und hielt sich die Hand vor den Mund, wieder eine wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Ein Greis nahm die Mütze ab und senkte den Kopf.

      Auch Korporal Ria Ritz trat heraus. Sie sah Kauz sofort und kam auf ihn zu. Aller Augen richteten sich auf ihn.

      »Tut mir leid, Herr Walpen, Sie können Ihre Ferienwohnung noch nicht beziehen«, sagte sie.

      »Das ist mir klar.«

      Wieso sind Sie dann zurückgekommen?, fragte ihr Blick.

      »Ist die Leiche freigegeben?«, fragte Kauz. Er wusste genau, dass ihm eine Antwort nicht zustand, aber er konnte es ja versuchen. Er hoffte, dass sie Nein sagen würde.

      »Wie Sie sehen, transportiert der Bestatter sie soeben ab. Mehr darf ich nicht sagen, Herr Walpen. Sie sind ja kein Angehöriger.«

      »Ich möchte bloß wissen, wann ich den Speicher beziehen kann«, gab er vor. In Wirklichkeit eilte es ihm damit gar nicht.

      Vielleicht um ihn loszuwerden, antwortete sie dennoch: »Der Bezirksarzt hat den Toten untersucht. Und die Staatsanwältin in Visp hat entschieden, dass es keine weiteren Ermittlungen braucht. Das heißt, wenn nichts Unerwartetes zum Vorschein kommt, wird der Speicher morgen oder übermorgen freigegeben. Oder sagen wir: spätestens am Montag.«

      Kauz verkniff sich einen Einwand. Habe ich mich wirklich getäuscht, fragte er sich. War es doch Selbstmord?

      Er ging auf sein Zimmer in der Alpenrose.

      Lust auf ein Nachtessen verspürte er keine.

      Wenn nichts Unerwartetes zum Vorschein kommt, hatte die Polizistin gesagt. Nun ja, vermutlich wurde Wendels Leiche nach der Legalinspektion vor Ort noch rechtsmedizinisch untersucht. Dann würde man Verdacht schöpfen oder Gewissheit haben und den AgT Imfang als Tötungsdelikt behandeln. Vielleicht mahlten die Mühlen der Justiz hier einfach etwas langsamer.

      Er legte sich ins Bett und lag noch lange wach. Nicht nur der Tod seines Freundes ließ ihm keine Ruhe. Auch seine schmähliche Entlassung aus dem Polizeidienst begann ihn plötzlich wieder zu wurmen. Es waren mittlerweile noch mehr Anrufe und Nachrichten von seinen Kollegen eingetroffen. Sie wollten wissen, wo er war und wie es ihm gehe. Er kam sich plötzlich schäbig vor, weil er einfach abgehauen war, ohne sich noch einmal mit ihnen zu treffen. Er rief einige seiner Polizisten an, bei andern meldete er sich per SMS. Er erklärte sich so gut es ging, und alle zeigten Verständnis für seinen Abgang. Sie wünschten ihm erholsame Ferien und nahmen ihm das Versprechen ab, sich wieder zu melden, sobald er zurück sei.

      Vom außergewöhnlichen Todesfall im Goms sagte er nichts.

      Nachts