Tollkirschen und Brombeereis. Franziska Dalinger

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Название Tollkirschen und Brombeereis
Автор произведения Franziska Dalinger
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783862567430



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auf und tappe rüber zu Tabitas Zimmer. Sie hat ihre Nachttischleuchte angelassen, damit ich den Weg finde, und sie beschwert sich nie, dass es ihr zu hell ist. Verschlafen murmelt sie etwas, als ich die Decke anhebe und zu ihr ins Bett krieche.

      »Morgen besuche ich Daniel«, sage ich.

      »Mmmh.«

      »Ich hab seinen Hausschlüssel.«

      »Ist gut«, grummelt sie.

      Ihr Körper strahlt eine beruhigende Wärme aus. Wenn das Zimmer verschwindet und die kalten, feuchten Wände des Bunkers zurückkommen, bin ich nicht allein.

      Manchmal denke ich über den Tod nach.

      Seltsamerweise stelle ich mir nie vor, dass er dunkel ist. Dunkel ist es hier, dunkel sind die Nächte, und es ist auch dunkel in mir. Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich blind, und alles um mich herum ist schwarz. Ich taste mich durch diese Schwärze. Jeder einzelne Tag kommt mir vor wie ein Hindernislauf. Überall sind Stolperfallen. Netze. Fallstricke. Abgründe. Ein falsches Wort, ein falscher Blick, und ich würde abstürzen.

      Und dann denke ich: Angenommen, ich lasse es zu. Ich lasse mich fallen.

       Würde es nicht hell sein?

       Würde Gott nicht seine Arme ausbreiten und ich wäre da, bei ihm?

      Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist da nichts auf der anderen Seite. Kein Licht. Aber auch kein Kummer, keine Tränen, keine Erinnerungen.

      Es ist mir gleich.

      Das überrascht mich am meisten: dass es mir egal ist.

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      3.

      Am nächsten Tag ziehe ich mich an und schreibe meinen Stundenplan für den Tag.

      Zuerst: zu Daniel fahren.

      Danach: zur Schule.

      Nachmittags: Hausaufgaben, schreibe ich. Vorbereitung für die Englisch-Prüfung. Gespräch mit Daniel?

      In mir brodelt ein kleines, beinahe hoffnungsvolles Gefühl, als hätte ich sprudelnde Kohlensäure in den Adern.

      Ich bin so kribbelig, dass ich keinen Hunger habe.

      »Du musst mehr essen«, sagt meine Mutter. Ich spüre ihren besorgten Blick und bedecke den verräterischen Plan mit der Handfläche.

      Es stimmt, ich bin ganz schön dünn geworden. Was kann ich dafür, dass ich keinen Appetit habe? Außerdem brauche ich nicht mehr. In mir ist so eine Unruhe, eine rastlose Energie. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie damit aufhören soll, sich Sorgen zu machen. Ich bin nicht magersüchtig. Ich brauche halt nicht mehr so viele Kalorien.

      »Bis nachher«, sage ich und dulde, dass sie mir einen Kuss auf die Wange gibt.

      Als ich losfahre, kann ich spüren, wie sie mir nachsieht. Und wie gerne sie mitkommen möchte, um mich zu beschützen, wenn sie mich schon nicht zu Hause festbinden kann.

      Damit die anderen Schüler, die um diese Zeit unterwegs sind, keinen Verdacht schöpfen, reihe ich mich in den Strom ein, der in Richtung Schulzentrum fährt. Busse dröhnen an mir vorbei. Autos mit den Glücklichen, die von ihren Eltern gebracht werden. Andere Radfahrer, die durcheinanderrufen. Manche halten auch den Kopf gesenkt und strampeln verbissen vor sich hin. Ich tue es ihnen gleich. Wenn einem nichts aufzufallen scheint, wirkt man am unauffälligsten. Nur nicht jemanden anschauen, der einem zuwinken könnte.

      Vor der Schule wird es noch voller. Busse und Autos drängen sich in die Haltebuchten, parken in zweiter Reihe. Dazwischen schlängeln sich in selbstmörderischer Absicht die Radfahrer hindurch.

      Ich bleibe unter einer Eiche stehen, einem der letzten großen Bäume, die sich auf dem Schulhof halten konnten. Die anderen haben sie alle gefällt, weil sie zu viel Dreck machen. Schüler gedeihen wohl, der Ansicht der Stadtverwaltung nach oder wer auch immer darüber bestimmt, am besten zwischen Beton und Pflastersteinen.

      Ich warte, bis die Schulklingel die letzten Nachzügler durch die großen Flügeltüren saugt.

      Und bin allein.

      Jetzt erst steuere ich mein richtiges Ziel an. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, zu schwänzen und noch mehr Stoff zu verpassen. Es ist ja schon zweifelhaft, ob ich die Prüfungen schaffe, weil ich mich so schlecht konzentrieren kann. Die Direktorin war sogar der Meinung, ich solle für den Rest des Schuljahrs zu Hause bleiben und mich erholen, aber dann würde ich erst recht durchdrehen. Ich will wenigstens versuchen, mit den anderen mitzuhalten. Die Lehrer irritiert meine Anwesenheit trotzdem; sie sind unsicher, wie sie mit mir umgehen sollen. Wenn ich fehle, tue ich ihnen daher sogar einen Gefallen.

      Der Weg zum Haus der Hartmanns führt mich durch die halbe Stadt. Der schlimmste Verkehr ist vorbei. Mir wird bewusst, dass Sommer ist, während sich die Sonne aus dem rotgefärbten Dunst freikämpft und auf Strahlendgelb umschaltet. Die Amseln halten erschöpft inne – sie haben ihr Morgenrepertoire bereits verbraucht.

      Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht. Wann habe ich angefangen, so viel Kaffee zu trinken? Vielleicht, als ich aufgehört habe, zu essen.

      Um nicht noch mal bei uns an der Kirche vorbeizufahren, was die schnellste Strecke wäre, mache ich einen Umweg. Ich fahre langsam, lasse mir Zeit. Flüchtig sehne ich mich nach meinen Ohrstöpseln, nach meiner Musik, aber dann lasse ich es doch. In meinen Ohren höre ich Tine leise summen.

      Da, das nette kleine Haus der Hartmanns mit dem üppigen Vorgarten. Ich lasse den Blick über die Rosensträucher schweifen. Es ist so lange her, dass Daniel mir Rosen geschenkt hat, mehr als ein ganzes Leben.

      Kein Auto auf der Auffahrt. Ich bin mir nicht sicher, ob seine beiden Eltern bei der Arbeit sind. Seine Mutter ist Grundschullehrerin, die müsste auf jeden Fall weg sein, aber sein Vater hat, wenn ich mich recht erinnere, Gleitzeit und kann später anfangen. Vielleicht sitzt er noch in der Küche und liest Zeitung.

      Eine gefühlte halbe Stunde fahre ich die Straße auf und ab, dann lehne ich mein Rad gegen den Zaun und marschiere den Weg hoch zum Haus, als hätte ich jedes Recht der Welt, hier zu sein.

      Der Beweis: Ich hab sogar einen Schlüssel. Dass ich ihn gestern aus Daniels Sporttasche gefischt habe, können die Nachbarn natürlich nicht ahnen. Wann lernt dieser herzensgute Junge endlich, seine Wertsachen nicht unbeaufsichtigt zu lassen? Man muss vorsichtig sein mit dem, was man besitzt. Die Welt ist voller schlechter Menschen, das habe ich inzwischen mitgekriegt.

      Meine Hände zittern, als ich aufschließe. Ich muss den Schlüssel mehrmals herumdrehen, dann ein bisschen ziehen und sie sofort aufstoßen. Knifflig. Aber Daniel hat mir erklärt, wie es geht, damals, als wir noch zusammen waren.

      Mit einem sanften Schnappen fällt die Tür hinter mir wieder zu.

      »Hallo?« Es ist seltsam still. Dennoch beunruhigt mich die Vorstellung, dass doch jemand hier sein könnte ... eine Putzfrau zum Beispiel. Die Hartmanns haben keine Putzfrau, oder? Dafür könnte jemand von ihnen krank im Bett liegen, die Sommergrippe geht zurzeit um.

      »Hallo? Jemand zu Hause?«, frage ich laut und bemüht fröhlich.

      Das Haus ist still. Aus der Küche höre ich das Ticken der Uhr.

      Vorsichtig spähe ich ins Wohnzimmer, dann schleiche ich die steile Treppe hoch. Etwas fasst mir ans Bein. Entsetzt schreie ich auf, verliere den Halt, falle, greife gerade noch nach dem Geländer.

      Vor mir sitzt die graugetigerte Katze und faucht mich wütend an. Vor Erleichterung lache ich laut los. Dann erst bemerke ich, dass ich mir einen Nagel eingerissen habe, und irgendwie ist es mir gelungen, das Knie gegen eine Kante zu schlagen. Es blutet nicht, aber der große blaue Fleck sieht