Tollkirschen und Brombeereis. Franziska Dalinger

Читать онлайн.
Название Tollkirschen und Brombeereis
Автор произведения Franziska Dalinger
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783862567430



Скачать книгу

widerspricht mir nicht. Stattdessen bekommt sie fast einen Herzinfarkt, nur weil ein paar Meter entfernt ein Lehrer vorbeimarschiert. Zum Glück hat er ein Ziel, deshalb beachtet er uns nicht.

      »Ist dir schon mal aufgefallen, dass Lehrer immer total zielstrebig sind?«, frage ich. »Die schlendern nicht einfach so herum. Nicht mal, wenn sie Pausenaufsicht haben. Lehrer schlurfen nicht. Schon mal eine latschende Lehrerin gesehen? Das wäre ein Widerspruch in sich. Lehrerinnen mit hochhackigen Schuhen stolzieren. Und männliche Lehrer gehen im Stechschritt, wie Soldaten. Wenn du auf dem Schulhof jemanden schlurfen siehst, ist es garantiert der Hausmeister.«

      »Weiß nicht«, meint Rosi unglücklich.

      »Nein, im Ernst. Ein Lehrer auf dem Schulhof sieht aus wie ein Bussard auf einem Holzpfahl. Er scheint immer auf eine arme kleine Maus zu lauern, auf die er sich stürzen kann.«

      »Mmmh.«

      Rosi lässt sich nicht auf andere Gedanken bringen, auch nicht durch meine philosophischen Betrachtungen über die Spezies Pauker. Vermutlich wäre ich keine gute Lehrerin. Ich lasse mich immer viel zu schnell ablenken. Ich wäre wahrscheinlich die Art Lehrer, die ständig darauf hereinfällt, wenn jemand ruft: He, guck mal! Dann würde ich mich umdrehen und irgendetwas entdecken, vielleicht ein Spinnennetz oder ein verschmiertes Kreidewort an der Tafel, und wenn ich mich wieder meiner Klasse zuwende, sind alle heimlich aus dem Fenster geklettert.

      »Lukas ist da«, zischt Rosi und zieht mich am Ärmel.

      Einen Moment lang habe ich vergessen, warum wir hier herumstehen, was der ultimative Beweis ist, wie schnell meine Konzentration flötengeht.

      Lukas schleicht an die große Glastür, die während der Stunde abgeschlossen ist, und öffnet sie. Von drinnen muss sie aufgemacht werden können, wegen der Fluchtwege bei einem Brand oder so.

      »Da seid ihr ja.« Seine Wangen färben sich zartrosa, als wir uns an ihm vorbeidrücken, und ich habe den Verdacht, dass er Rosi vielleicht ein kleines bisschen mag.

      »Beeilt euch«, flüstert er und rennt wieder davon.

      Das entspricht alles dem Plan, mehr oder weniger: Lukas hat versprochen, während der Sportstunde aufs Klo zu gehen – oder jedenfalls zu behaupten, er müsste –, uns die Tür zu öffnen und in den Unterricht zurückzukehren.

      Und wir haben freie Bahn in der Umkleide.

      »Jetzt hat er gar nicht gesagt, in welcher sie sind«, fällt Rosi auf.

      Das entspricht eher nicht dem Plan. Wir verlieren wertvolle Zeit, während wir in einen Raum nach dem anderen hineinspähen, bis ich Daniels Tasche erkenne.

      Rosi kaut auf ihrer Lippe herum, doch ich bin jetzt hochkonzentriert, reiße die Sporttasche an mich und taste im Seitenfach nach dem Portemonnaie.

      Da ist es. Daniel wird es nie lernen, seine Wertsachen mit runter in die Halle zu nehmen, obwohl es einem ja oft genug eingeschärft wird. Er ist einfach zu vertrauensselig.

      »Und?«, fragt Rosi. Unruhig späht sie auf den Gang hinaus. Man hört das Getrappel unzähliger Schuhe. Ein Pfiff schrillt.

      Ich arbeite mich durch die Seitenfächer. Wo ist das Foto? Es muss hier irgendwo sein, da bin ich mir sicher.

      »Komm, schnell!« Rosi schließt hastig die Tür. »Da kommt jemand. Wir müssen hier raus!«

      Zum Glück hat jede Umkleide zwei Türen, eine zur Halle und eine zum Eingangsbereich hin. Wir können immer noch ungesehen entwischen.

      Sobald ich das Foto habe.

      Ich taste in der Tasche herum, schüttele das Portemonnaie – nichts.

      »Also das«, sagt eine männliche Stimme, »muss mir mal jemand erklären.« Und dann ruft der Schüler, der mich ertappt hat, ganz laut: »He, kommt mal schnell! Hier ist eine, die klaut unsere Sachen!«

      Ich blicke auf.

      Rosi ist verschwunden. Bloß ich stehe noch da, Daniels Geldbörse in der Hand, und mache ein dämliches Gesicht.

      Daniels fassungslose Miene, als er mit den anderen in den Raum stürzt und mich entdeckt, werde ich wohl nie vergessen.

      »Hi«, sage ich mit zittriger Stimme. Ich sehne mich schrecklich danach, dass er mich so anschaut wie früher, als noch alles in Ordnung zwischen uns war.

      Er drängt die anderen zur Seite. »Sag mal, spinnst du, Miriam? Was kramst du in meinen Sachen rum?«

      »Ich wollte doch nur ...«

      In diesem Moment tritt der Lehrer hinzu. »Was ist hier los?«, fragt er streng.

      »Das ist seine Freundin«, sagt Lukas rasch, weil weder Daniel noch ich den Mund aufbekommen.

      »Die hier nichts zu suchen hat. Gehst du überhaupt auf unsre Schule?«

      Realschule und Gymnasium teilen sich das Sportzentrum. Ich könnte also genauso gut zu einer der anderen beiden Klassen gehören, die hier gerade Sport haben.

      »Ich ...«, stammele ich, »äh ...«

      »Ich kenn dich doch von irgendwoher ...« Und da begreift er. Ich hasse diesen Moment, in dem den Leuten einfällt, wer ich bin. Dass sie mein Foto aus der Zeitung und von den Suchplakaten kennen, als ich verschwunden war. »Oh. Du bist doch ...« Dann geht ihm auf, dass es unhöflich wäre, einem traumatisierten Entführungsopfer zu erzählen, dass man es von den Suchplakaten kennt, und er biegt den Satz gerade noch so einigermaßen elegant ab: »... die Tochter von Pastor Weynard?«

      Ich nicke stumm.

      »Okay, Mädchen.« Schlagartig ist alle Empörung aus seiner Stimme gewichen. »Wenn du mal kurz mit deinem Freund reden willst, geht das in Ordnung. Kommt, Jungs.«

      Ich hätte doch eigentlich Ärger bekommen müssen. Doch stattdessen scheucht der plötzlich übernette Sportlehrer die anderen auf den Gang hinaus. Da stehe ich nun. Daniel lässt hilflos die Arme hängen.

      Er ist nicht so wie alle anderen. Er hat kein Mitleid mit mir. Falls er welches empfindet, zeigt er es jedenfalls nicht.

      »Was suchst du hier, Miriam?«, fährt er mich stattdessen an. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mich nicht verfolgen sollst?«

      »Ich wollte doch nur ...« Wie soll ich es ihm klar machen? Dass ich unbedingt wissen will, ob er noch an mich denkt, ob es noch Hoffnung für uns gibt?

      »Lass mich einfach in Ruhe.« Es klingt nicht einmal wütend, eher wie ein Stöhnen. Abrupt dreht er sich um. Lässt mich einfach stehen.

      »Ist er weg?« Rosi taucht aus den Tiefen der Duschräume auf. »Oh Gott, hatte ich Angst, dass die mich entdecken. Dass gleich alle Jungs in die Duschen gestürmt kommen.«

      Widerwillig muss ich grinsen. »Hattest du Angst oder hast du es gehofft?«

      »Lass uns endlich abhauen«, drängt sie.

      Sie hat meinetwegen sogar eine Stunde Erdkunde verpasst. Und anders als ich wird sie vermutlich Ärger deswegen bekommen.

      Was Daniels Gefühle angeht, bin ich zwar nicht viel weiter als vorher, aber immerhin weiß ich jetzt, dass ich mich auf meine Freundin verlassen kann.

image

      2.

      Mein Tag ist verplant. Jede Stunde, jede Minute. Ich muss immer etwas zu tun haben, damit ich nicht so viel nachdenke. Nachzudenken bewirkt nur, dass die Bilder zurückkommen. Der dunkle Raum. Die Taschenlampe. Die Decke.

      Daher habe ich mir für jeden Nachmittag einen Stundenplan angefertigt. Oberste Priorität hat die Schule. Die Abschlussprüfungen habe ich verpasst, aber ich darf die zweiten Termine wahrnehmen, die für