Tollkirschen und Brombeereis. Franziska Dalinger

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Название Tollkirschen und Brombeereis
Автор произведения Franziska Dalinger
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783862567430



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der Küche ertönt leise Lobpreis-Musik, und gerade als ich die Hand nach der Haustürklinke ausstrecke, kommt Daniels Mutter in den Flur.

      »Miriam?«, fragt sie.

      Sie klingt nicht im Mindesten überrascht. Ach ja, mein Fahrrad am Zaun. Natürlich hat sie es auch bemerkt. Auffälliger hätte ich es wirklich nicht machen können.

      Ich bringe es nicht fertig, über meine Dummheit zu lächeln. Die Haare fallen mir ins Gesicht, ich hoffe, sie verbergen meine Tränen.

      »Wie schön, dich zu sehen«, sagt Frau Hartmann freundlich. »Komm doch noch mal kurz mit. Bestimmt hast du Durst, bei der Hitze draußen.«

      Jetzt, da sie es sagt, merke ich, dass ich tatsächlich gerne etwas trinken würde. Vielleicht kommt das Brennen in meiner Brust vom Durst.

      Sie legt mir die Hand auf die Schulter und führt mich zurück in die Küche, wo sie die Musik leiser dreht. Helle Stimmen wie Vogelgezwitscher singen »Hosanna« und »Praise the Lord«.

      Frau Hartmann drückt mich auf einen Stuhl und kramt im Kühlschrank. »Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«

      »Ich hätte heute Nachmittagsunterricht gehabt. Sie erwartet mich noch nicht zurück.« Ich bin überrascht, dass mein Gehirn noch funktioniert. Dass ich reden kann, ohne in wildes Schluchzen auszubrechen.

      »Daniel hat dir bestimmt gesagt, dass er zu seiner Schwester zieht.«

      »Was? Er zieht zu Sarah?«

      Sie setzt sich mir gegenüber, schiebt mir ein Glas Fanta zu. »Es ist das Beste so. Sie braucht jemanden, der sich um die Wohnung kümmert, um die täglichen Arbeiten, die anfallen. Was die Schule angeht, er wird schon klarkommen.«

      Ich sitze da wie erschlagen, kann es immer noch nicht fassen. Daniel zieht weg? Und mir hat er nichts gesagt.

      »Bitte, versuch nicht, ihn dort zu erreichen.«

      »Aber ...«, fange ich an und verstumme, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll.

      »Es ist auch für ihn nicht leicht«, sagt sie leise. Sie hält den Kopf, als würde sie horchen, ob er noch oben ist oder im Treppenhaus lauscht. »Er hat so schrecklich gelitten, als du weg warst, Miriam. Die ganze Zeit hat er dich nie aufgegeben. Er hat gesucht und gesucht. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert wäre, wenn er dich nicht gefunden hätte.«

      Ich wage es, in ihr Gesicht zu sehen. Vielleicht wünscht sie sich auch, jemand anders zu sein. Nicht die Frau, die einen Sohn hat, der halb wahnsinnig geworden ist vor Kummer. In dessen Zimmer das Chaos ausgebrochen ist und der neue Spuren im Gesicht hat, für die ich verantwortlich bin.

      »Er liebt mich nicht mehr«, wispere ich.

      Frau Hartmann schenkt mir ein Lächeln, das so warm und freundlich und traurig ist, das ich es lieber zurückgeben würde. Auf einmal habe ich Angst, was sie zu mir sagen könnte. Dass sie auch zu denen gehören wird, die keine Rücksicht darauf nehmen, dass ich ein traumatisiertes Entführungsopfer bin.

      »Doch«, sagt sie leise, »er liebt dich, und wie. Er liebt dich so sehr, dass ich mir manchmal wünsche, er könnte einfach damit aufhören. Aber natürlich kann er das nicht. Man kann seine Gefühle nicht einfach abstellen. Du nicht, und er auch nicht.«

      »Aber dann ... ich verstehe nicht, warum ...«

      »Liebe ist nicht genug«, sagt Frau Hartmann. Sie spricht weiter, bevor ich protestieren kann. »Heutzutage wird den jungen Leuten eingeredet, dass die Liebe ausreicht, für alles. Aber das ist nicht wahr. Es braucht ein wenig mehr, um eine tragfähige Beziehung zu gestalten. Gemeinsame Ziele. Eine gemeinsame Basis. Ein Fundament, verstehst du? Damit es nicht nur ein Strohfeuer ist, das bei den ersten Schwierigkeiten erlischt.«

      »Es ist kein Strohfeuer«, sage ich leise zu meinem Glas, das ich in den Händen drehe. Die Fanta glüht wie ein kleines Feuer, oder zumindest versuche ich, mir das vorzustellen. Unsere Liebe kann nicht so einfach erlöschen, sie ist dazu fähig, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Zu wachsen. Zu halten. Oder?

      »Das weißt du wahrscheinlich schon, aber Daniel ist ein Typ, für den es nur alles oder nichts gibt. Ganz oder gar nicht.« Sie lächelt versonnen, wahrscheinlich gefällt ihr das an ihrem Sohn. Ich spüre, dass sie stolz auf ihn ist. »Wenn man sich auf eine Freundschaft einlässt, weiß man vorher natürlich noch nicht, ob es passt. Ob man denjenigen gefunden hat, mit dem man sein Leben verbringen will. Aber wenn man sich besser kennenlernt und merkt, dass es eben doch nicht geht, trotz der gegenseitigen Anziehung, ist es dann nicht vernünftig, so früh wie möglich einen Schlussstrich zu ziehen?«

      Ich will mich wehren. Ihr sagen, dass ich mir gerade ziemlich angepredigt vorkomme, vielen Dank auch, und ob das Daniels Meinung ist oder ihre?

      Aber ich sage nichts. Ich höre ihr nur zu und male mit dem Fingernagel ein Muster in das beschlagene Glas.

      »Auch wenn es wehtut, versuche es zu akzeptieren«, sagt sie behutsam. »Lass ihn einfach gehen, ja? Du bist so jung, du weißt nicht, was Gott noch alles für dich bereithält. Oder wen. Irgendwann findest du den Mann, der wunderbar zu dir passt, da bin ich mir sicher. So ein hübsches Mädchen wie du.«

      Die Tränen quellen aus meinen Augen. Hastig fingere ich nach einem Taschentuch, wische mir übers Gesicht.

      »Ich muss los«, stoße ich hervor. »Danke für die Fanta.«

      Ich stürze los, bin an der Haustür, bevor sie mich zurückholen kann. Schon zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden fliehe ich aus einem Haus.

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      4.

      Daniel wird aus meinem Leben verschwinden. So einfach, so plötzlich.

      Er liebt mich, er liebt mich nicht.

      Er hat gelitten, ich habe ihm gefehlt, er fehlt mir, aber eine Basis fehlt.

      Was ist das? Was hat sie gemeint?

      Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum, steigen wie Seifenblasen hoch, nur um gleich wieder zu zerplatzen. Wollte mir Frau Hartmann mitteilen, dass ich nicht gläubig genug bin für Daniel?

      Ich wünsche mir so sehr, dass ich gut genug für ihn bin. Ja, ich wünsche mir sogar, ich könnte so glauben, dass er damit zufrieden ist. Doch wie soll ich das anstellen?

      Man kann nicht einem anderen zuliebe glauben. In die Kirche gehen, das schon, oder schlau daherreden und sein Zimmer mit Bibelversen schmücken, für notleidende Kinder spenden und so tun, als ob man für den Herrn brennt – das alles durchaus, kein Problem. Aber glauben, weil man es sich vorgenommen hat, weil man es sich wünscht? Ich habe den Selbsttest gemacht und das ist das offizielle Ergebnis: Glauben funktioniert nicht auf Bestellung.

      Was nun?

      Muss man sich den Glauben schenken lassen? Darum bitten und dann die Hände aufhalten und warten? Ich weiß nicht, wie es geht. Wenn ich es wüsste, ich hätte es längst gemacht. Nur will ich nicht lügen. Das habe ich mir vorgenommen, mehr als alles: nicht zu lügen.

      Meine Füße drücken die Pedale nach unten. Nach unten. Nach unten.

      Und erreichen nie den Boden.

      Vielleicht geht es gar nicht um den Glauben. Vielleicht ist Daniel der Meinung, dass wir die Welt aus zu unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, dass wir zu verschieden sind. Vielleicht steht er mit beiden Beinen auf der Erde, fest in der Wirklichkeit verankert, während mir ständig der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Ich schwebe. Die Erde unter mir ist nicht fest und solide, sondern von Erdbeben erschüttert, sie ist ständig in Bewegung, sie reißt auf und bildet Wellen und Falten, und obwohl ich bloß über Asphalt radle, stelle ich mir vor, dass unter mir das Meer ist und die Wüste, Sumpf und das Feinripp des Watts.

      Erst als ich endlich