Der Schreiberling. Patrick J. Grieser

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Название Der Schreiberling
Автор произведения Patrick J. Grieser
Жанр Языкознание
Серия Der Primus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947816040



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– Farben, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er glaubte für einen Augenblick, dass jemand ein Radio eingeschaltet hatte und die Beatles den Refrain von Yesterday sangen. Yesterday … Die Anspannung wich langsam einem Gefühl der entspannten Erschöpfung. Das Singen der Beatles (ja, es waren definitiv die Beatles!) verstummte schlagartig. Dann war da nur noch Schwärze und dann … nichts.

      Thanatos stand auf dem Kamm eines dünn bewaldeten Hügels, der in einen lieblich anmutenden Landstrich führte. Das Tal war geprägt von Laub- und Nadelbäumen, die nebeneinander wuchsen und zwei Liebhabern gleich miteinander harmonierten. Bunte Blumen lockerten das ebenmäßige Buschwerk auf, das hauptsächlich aus wilden Farnpflanzen bestand. Es war ein heißer Sommertag, doch der Mann mit der roten Haut schwitzte aus keiner einzigen Pore. Er hatte ein Energiefeld um seinen Körper gelegt, das ihn vor der sengenden Hitze schützte.

      Hinter dem Tal lag ein kleines Dorf, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte. Er war gekommen, um die Einwohner zu bestrafen. Ihm war zu Ohren getragen worden, dass manche Einheimische sich der dunklen Kunst der Nekromantie verschrieben hatten. Sie praktizierten nächtliche Rituale, um die Toten aus ihren Gräbern zu holen. Das war etwas, was Thanatos auf gar keinen Fall dulden konnte. Er war der Gott der Toten und keinem Sterblichen war es gestattet, in seinem Reich zu wildern. Nekromantie war ein Sakrileg und die Dorfbewohner würden dafür einen hohen Blutpreis zahlen. Er würde sie nicht alle töten, denn er brauchte eine Handvoll Überlebende. Leute, die die Kunde in alle Herren Länder tragen würden, dass mit der Nekromantie nicht zu spaßen war.

      Die Nekromanten waren zu einer wahren Plage geworden. Gerade im fernen Arabien war das Interesse an der Totenbeschwörung groß. In jedem Hinterhof wurden die dunklen Künste praktiziert. Aber auch die leidenschaftlichen Araber würden ihre Lektion erteilt bekommen und sie würden lernen … sehr schnell lernen.

      Thanatos labte sich an den Qualen, die er unter den Dorfbewohnern anrichten würde. Ein Schriftgelehrter hatte einmal das Sprichwort geprägt, dass Rache ein Gericht sei, das man am besten kalt serviere. Der Mann war ein Narr gewesen! Blanker Hass, der sich in hemmungsloser Aggression entlud, war der höchste Lustgewinn, nach dem man streben konnte. Die Zerstörung war ein Grundbedürfnis. »Gesegnet sei der, der sich in der Wut verliert! Unsere Rache stürzt den Ungerechten vom Thron und erhöht den Niedrigen. Trage meine Essenz in alle Herren Länder, auf dass deine Klinge reichlich Ernte halte!« (Spruch des Thanatos, 3, 8, Das Hohelied der Rache).

      Thanatos folgte einem kleinen Pfad ins Tal, der mit metallisch glänzenden Kieselsteinen übersät war. Seine Sandalen knirschten bei jedem Schritt.

       Er spürte die Präsenz der beiden schon, bevor er sie hinter dem großen Felsbrocken am Fuß des Pfades hervortreten sah. Der Mann war in eine schwarze Robe gekleidet, die Frau, das passende Gegenstück, in ein weißes eng anliegendes Kleid. Sie trug ein goldenes Diadem. Epimetheus und Hekate. Die beiden Olympioi verkörperten Kräfte, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Epimetheus war für Thanatos nicht mehr als ein arroganter Knabe, der im Schatten seines mächtigen Bruders Prometheus stand. Ein Träumer, der an die wahre, bedingungslose Liebe glaubte. Früher oder später würde er Epimetheus zurechtstutzen. Der Knabe benötigte eine ordentliche Lektion in Sachen Demut. Vor Hekate musste er sich allerdings in Acht nehmen. Sie war schlau und manipulativ. Eine wahre Meisterin der verborgenen Intrigen!

      Thanatos verharrte in seinem Schritt und musterte das ungleiche Paar misstrauisch.

       »Sei gegrüßt, edler Thanatos!«, sagte Hekate und deutete eine übertriebene Verbeugung an, die eher spöttisch als respektvoll war. Epimetheus nickte ihm nur kurz zu. Thanatos’ Augen versprühten Giftpfeile. Ja, da war Zorn in ihm. Der Hass fraß ihn auf. Vielleicht könnte er den Knaben für seine Zwecke nutzen und ihn formen wie ein Werkzeug?

       »Ihr beide weitab vom Olymp? Hier mitten in der Wildnis? Zufall oder Schicksal? Warum sagt mir mein Gefühl, das ihr beide etwas im Schilde führt?«

       Hekate zeigte ihr schönes Lächeln. Ihre spitzen Zähne signalisierten dabei etwas Animalisches in ihren alabasterfarbenen Gesichtszügen. »Ein Schelm, wer dabei Böses denkt, nicht wahr?«

       »Genug Floskeln ausgetauscht! Was verschlägt euch beide hierher?«, fragte Thanatos. Er nickte in Richtung des jungen Mannes. »Ich weiß, was er will, aber was dein Anliegen ist, darüber kann ich nur spekulieren.«

      Epimetheus griff in seine Robe und zog etwas aus einer Innentasche heraus. Herausfordernd hielt er es Thanatos entgegen. Neugierig machte dieser einen Schritt auf den Jüngling zu … und verharrte regungslos. In der Handfläche des Burschen befand sich ein daumengroßer Stein. Er war gläsern und glatt geschliffen; durch die transparente Oberfläche konnte man ein milchiges Netz sehen, das das Innere durchzog.

      »Wo habt ihr den her?«, fragte Thanatos und wich instinktiv einen Schritt zurück.

       »Den Mondstein? Lunarit? Du wärst überrascht an welch exotischen Orten man dieses Mineral finden kann.«

      »Du kannst uns freiwillig geben, was wir wollen oder wir setzen den Mondstein gegen dich ein!«, fauchte Epimetheus plötzlich.

       Thanatos schnitt eine Grimasse. »Deine Wut gefällt mir, Jüngling. Aber ich kann dir deine geliebte Pandora nicht zurückgeben!«

       »Du bist der Totengott! Dein Reich liegt am Eingang des Tartaros! Bring mir Pandora zurück!«

       »Das kann ich nicht!«, erwiderte Thanatos und hob hilflos seine Hände. »Pandora ist tot! Sie wäre nicht dieselbe, wenn ich sie dir wiedergeben würde, Epimetheus. Es wäre nicht die Frau, die du kennen und lieben gelernt hast.«

       »Das ist mir egal! Gib sie mir zurück!«

       »Nekromantie ist verboten! Du kennst die Gesetze von Uranos und Gaia!«

      »Mich interessieren Uranos und Gaia nicht«, antwortete Epimetheus und spie auf den Boden.

      »Dein Zorn gefällt mir, aber er richtet sich gegen die falsche Person! Du könntest ihn viel wirksamer einsetzen. Leg den Mondstein weg und ich sehe über diesen Affront hinweg!«, rief Thanatos.

       »Halt deinen Mund! Deine Worte sind vergiftet!«

      »Deine Rolle in diesem Spiel ist mir immer noch unklar, werte Hekate«, wandte sich Thanatos an die Frau, die erneut ihr raubtierhaftes Lächeln zeigte.

       »Ich möchte die Kontrolle über deine Krieger haben!«, schnurrte sie. »Und dieser Mondstein wird dafür sorgen, dass du meinen Wünschen nachkommst.«

       »Die Kontrolle über die tollwütigen Seemänner?«, fragte Thanatos verwundert. »Was hast du vor? Einen Weltenbrand anzuzetteln?«

       »Das lass mal meine Sorge sein!«

       »Auch deine Wut gefällt mir. Sie macht dich … unwiderstehlich! Aber ich muss dich leider enttäuschen. Die tollwütigen Seemänner wurden vom Gottvater in meine Obhut gegeben. Es käme einem Frevel gleich und glaub mir, ich habe kein Interesse, den Zorn des Zeus am eigenen Leib zu spüren.«

      Epimetheus näherte sich ihm mit ausgestreckter Hand.

       »Tu das nicht!«, warnte Thanatos. »Es wäre ein furchtbarer Fehler!«

       »Ich, Epimetheus, Sohn des Iapetos, befehle dir, Thanatos, Totengott und Daimon in einer Gestalt, dich unserem Willen unterzuordnen!«

      Und der Stein fing an zu leuchten. Es war ein kaltes Leuchten, das aus dem Inneren des Minerals drang. Thanatos spürte den seltsamen Druck, der sich auf seinen Kopf legte. Das Gefühl war dumpf, so, als würde man ihm einen unsichtbaren Helm aufziehen. Es erinnerte ihn an einen Kater morgens nach einem langen nächtlichen Gezeche.

      »Knie nieder!«, befahl der junge Mann.

      »Ich denke,