Der Schreiberling. Patrick J. Grieser

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Название Der Schreiberling
Автор произведения Patrick J. Grieser
Жанр Языкознание
Серия Der Primus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947816040



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      »Schöner Anzug!«, bemerkte der Cowboy, während seine Augen über das schwarze Jackett und die Stoffhose fuhren. Der Anzug war bestimmt maßgeschneidert und passte dem Toten wie eine zweite Haut. Die Kleidung irritierte ihn. Es war kein Anzug wie ihn die Männer im Wilden Westen trugen. Es war ein klassischer Tweed-Anzug der Moderne, dem Stoff nach zu urteilen ein englisches Fabrikat von einem renommierten Schneider. Solche Kleidungsstücke waren den Männern des 20. Jahrhunderts vorbehalten gewesen.

      »Was ist das?«, hauchte Morgan Elroy ehrfürchtig, als er neben den Sarg trat. »Ein Dämon?«

      »Bei den Göttern, nein!«, erklang eine amüsierte Stimme hinter ihnen. Beide Männer fuhren erschrocken herum … und schauten in das grinsende Gesicht des Mannes, den sie beide im Sarg liegen sahen. Der Krieger in Morgan Elroy erwachte und richtete instinktiv den Bogen auf die Gestalt vor ihnen. Er war es nicht gewohnt, dass sich jemand unbemerkt an ihn heranschlich. Der Cowboy blickte unsicher zwischen dem Sarg und dem Fremden hin und her, als wolle er sich überzeugen, dass der Fremde sich nicht aus dem gläsernen Sarg herausteleportiert hatte.

      »Ruhig, ruhig!«, sagte der Cowboy und legte beschwichtigend eine Hand auf die Schulter des Pawnees. Er wusste, dass sie beide tot wären, wenn der Indianer die angespannte Bogensehne losließe. Etwas Übernatürliches ging von dem Mann aus. Ein Gefühl absoluter Macht. In Gegenwart dieses Fremden waren die beiden Weggefährten nur winzige Insekten, die der Fremde, ohne mit der Wimper zu zucken, mit seinem Absatz zermalmen könnte.

      Der Cowboy richtete seinen Finger auf den Mann. »Du! Ich kenne dich …!«

      Dessen Grinsen wurde breiter, strahlend weiße Zähne wurden sichtbar. »Ganz recht, Rainer Mehnert! Wir kennen uns!«

      Der Cowboy fuhr zusammen, als der Mann ihn mit seinem Namen ansprach.

      »Aber woher?«, flüsterte er.

      »Erinnerst du dich an jene Nacht?«

      »An welche?«

      »An die Nacht, in der deine Frau dich betrogen hat?«, erwiderte der Mann mit der feuerroten Haut und sein Grinsen war innerhalb eines Wimpernschlages verschwunden. Er wurde ernst.

      Der Cowboy trat vor den Fremden; sie standen sich jetzt direkt gegenüber. Der Blick des Fremden war von solcher Intensität, dass eine geradezu hypnotische Wirkung von ihm ausging. Der Cowboy musste mehrere Male blinzeln, weil er glaubte, der Boden risse ihm unter seinen Füßen weg. Die Augen schienen die Farbe zu wechseln. Mal waren sie kristallklar wie das Schmelzwasser in den Bergen und dann wieder so dunkel wie der tiefe Grund eines stillen Sees.

      »Hab keine Angst, Rainer Mehnert!«, sagte der Mann. »Ich zeige dir, wer ich bin!« Und noch ehe er etwas sagen, geschweige denn reagieren konnte, schlossen sich die beiden Hände des Fremden um seinen Kopf und die Zeigefinger schienen mit seinen Schläfen zu verschmelzen. Der Druck auf seinen Kopf nahm zu – wie bei einem kochenden Teekessel, den keiner von der glühenden Herdplatte nimmt. Jedenfalls fühlte es sich so an. Wie flüssige Butter drangen die Finger immer weiter in seinen Kopf hinein, tauchten durch die Gehirnwindungen bis sie auf jene Teile stießen, die den Kern seiner Persönlichkeit ausmachten und sein Erfahrungswissen beinhalteten. Und dann explodierte alles um ihn herum in einem bunten Regenbogen.

      Es begann von Neuem. Ein ewiger Kreislauf. Die Szene war dem Cowboy wohlbekannt. In diesem Leben war er Rainer Mehnert und noch kein Westmann.

       Gedämpfte Stimmen drangen an sein Ohr und er verstummte schlagartig. Die Decke über ihm knarrte leise. Jemand war im zweiten Stock. Angestrengt lauschte er, doch er vernahm nur das einschläfernde Ticken der alten Wanduhr. Langsam drehte Rainer Mehnert sich um und marschierte zurück in den Flur. Sein Blick glitt zu der Holztreppe, die nach oben in den zweiten Stock des Hauses führte. Eine unheilvolle Vorahnung packte ihn. Er wusste, dass da oben etwas war, was er auf gar keinen Fall sehen wollte. Er durfte jetzt nicht hochgehen. Nicht noch einmal!

      Erneut hörte er die Frau im Obergeschoss lachen. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Das Ticken der Wanduhr benebelte seine Sinne, ließ ihn wegdriften … weg von diesem Ort, der sein Schicksal für immer verändert hatte.

      Er atmete tief die abgestandene Luft im Flur ein. Als er die Augen wieder öffnete, hatte er bereits mit der rechten Hand das Geländer umfasst.

      »Ich will weg von hier!« Sehnsuchtsvoll blickte er zu der verschlossenen Haustür. Doch er stieg die Treppen hinauf, setzte einen Fuß vor den anderen. Eine unbekannte Macht schien ihn nach oben zu ziehen und er konnte sich nicht dagegen wehren.

      Die Stufen waren alt, doch sie gaben keinen einzigen Laut von sich, als sie sein Gewicht trugen. Oben angekommen, bemerkte er als Erstes den Lichtstrahl, der aus der halb geöffneten Tür des Schlafzimmers drang.

      »Es ist noch nicht zu spät, die Beine in die Hand zu nehmen und davonzulaufen. Tu dir das nicht an!«, dachte Rainer Mehnert verzweifelt. Er wollte die Treppe wieder hinunter, doch sein Körper schien ihm nicht zu gehorchen. Wie in Trance näherte er sich der Schlafzimmertür.

      Er stieß die Tür auf und hielt den Atem an. Vor ihm räkelten sich zwei Menschen in einem wilden Wust aus Bettlaken. Ihre nackten Körper glänzten schweißüberströmt.

      Durch einen Tränenschleier sah er, wie die Frau den Mann an sich zog, ihren Unterleib gegen ihn presste. Sie schrie voller Verzückung auf und begann, sich im Rhythmus zu seinen Hüften zu bewegen.

      Jemand trat neben Rainer Mehnert und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es war der fremde Junge mit den langen pechschwarzen Haaren. Leonhard Hoyer, der Primus, der nun lächelnd auf die zuckenden Körper schaute.

      »Was hat das zu bedeuten? Warum zeigst du mir das?«, schrie Rainer Mehnert fassungslos.

      »Sieh hin und verstehe!«, forderte ihn der Primus auf.

       »Dieser Scheißkerl vögelt meine Frau. Was gibt es daran nicht zu verstehen?«

       »Was siehst du noch?«

       »Ich sehe eine verdammte Hure …«

       »Das ist nicht alles!«

       »Was um Himmels willen soll ich denn noch sehen?«

      Der junge Mann lächelte. Seine stahlblauen Augen wirkten auf einmal unheimlich und gespenstisch.

       »Du willst wissen, was du da siehst?«

       »Ja!«

       »Du siehst den Tod von Rainer Mehnert.«

       »Was?«

       »In dieser Nacht ist Rainer Mehnert gestorben.«

      Entsetzt wich Rainer Mehnert zurück. Der Primus lachte laut auf, ein Lachen, das nichts Menschliches mehr an sich hatte. Es klang, als ob der Fürst der Finsternis persönlich in dessen drahtige Gestalt geschlüpft sei und über einen schmutzigen Witz lache.

      Rainer Mehnert torkelte aus der Tür. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und das dämonische Gelächter verstummte.

      Für einen kurzen Moment lüftete sich der Schleier und der Cowboy kehrte in das Hier und Jetzt zurück: der Wilde Westen, der griechische Tempel, das Heiligtum im Herzen des Gebäudes. Verschwommen nahm er die Umrisse des Glassarges wahr. Neben ihm schien Morgan Elroy etwas zu sagen, doch die Worte waren verzerrt und undeutlich, als zöge jemand die Schallwellen mit einem Dirigentenstab in die Länge. Vor ihm leuchteten die teuflischen Augen des Fremden.

      »Warum zeigst du mir das? Ich habe dich nicht gesehen!«, sagte der Cowboy und seine Stimme klang ebenfalls seltsam verzerrt. Er hatte das Gefühl, im Zeitlupentempo zu sprechen.

      »Sieh genauer hin!«, erwiderte das feuerrote Gesicht vor ihm. Die Stimme war klar und deutlich. »Sieh genauer hin, Rainer Mehnert!«

      Rainer Mehnert rannte die Treppenstufen