Der Schreiberling. Patrick J. Grieser

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Название Der Schreiberling
Автор произведения Patrick J. Grieser
Жанр Языкознание
Серия Der Primus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947816040



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raunte der Cowboy. Ohne auf den Pawnee zu achten, lief er auf die antike Anlage zu.

      Der Tempel war auf einem viereckigen Fundament errichtet. Treppenstufen führten zu einem Vorbau, dessen Flachdach von sechs grazilen Säulen gestützt wurde. Die Säulen waren allesamt mit kunstvollen Reliefarbeiten verziert. Von seiner jetzigen Position aus konnte der Cowboy keine Einzelheiten erkennen, er vermutete aber, dass entweder Tiergesichter oder das Antlitz irgendwelcher mythischen Geschöpfe in dem Stein verewigt waren. Die Überreste einer eingestürzten Mauer liefen um das Gebäude herum. Das Mauerwerk war an vielen Stellen eingestürzt, sodass große Löcher klafften, die im Laufe der Zeit von Büschen überwuchert worden waren.

      Der Tempel war groß – jetzt, wo der Cowboy davorstand, spürte er das Bauwerk über sich aufragen wie ein steinernes Ungetüm. Und aus der Nähe bestätigte sich seine Vermutung. Von den Säulen grinsten lachende Dämonenfratzen mit herausgestreckten Zungen auf ihn herunter.

      »Dieser Ort … ist böse!«, flüsterte der Pawnee und nahm seinen Langbogen von den Schultern. »Spürst du es, Allemann?«

      Der Cowboy nickte. Sein Blick glitt über die Stufen, die fein säuberlich in perfekter Symmetrie aus Kalkstein gehauen waren, hinauf zu den Säulen, hinter denen sich der Eingangsbereich des Tempels befand.

      Was machte ein Bauwerk, das seinen Ursprung offensichtlich in der Antike hatte, hier im Wilden Westen? Waren sie auf Hekates geheimen Rückzugsort gestoßen? Irgendwie machte das keinen Sinn – Hekate war schwer verletzt auf diese Welt geflüchtet. Sie war nicht aus freiem Willen hierher gegangen. Dieses Bauwerk war alt, verdammt alt. Den Cowboy hätte es nicht gewundert, wenn es zu einer Zeit entstanden war, als dieser Homer seine Odyssee geschrieben hatte. Ein Buch, von dem er ein paar Seiten gelesen und es dann weggeworfen hatte.

      »Willst du da wirklich rein?«, fragte Morgan Elroy, als der Cowboy die Stufen zum Vorbau emporschritt.

      »Ja, ich will mir das näher anschauen«, erwiderte er. »Dieser Tempel gehört hier nicht hin.«

      »Ein Tempel?«, echote der Indianer.

      »Sieht jedenfalls so aus.« Ohne den Pawnee weiter zu beachten, bestieg der Cowboy die Stufen. Er löste den Revolver aus seinem Halfter und spannte den Hahn durch. Er wollte kein Risiko eingehen. Wenn ihm gleich ein großer weißer Wolf mit acht Augen entgegenstürzte, dann wollte er ihm wenigstens ein schönes Stück Blei zur Begrüßung verpassen.

      Zwischen den Säulen herrschte ein seltsames Dämmerlicht. Es war, als würde man die Schwelle in ein Reich übertreten, in dem andere Gesetzmäßigkeiten herrschten. Das Licht wurde hier anders gebrochen, ein Großteil des Abendrots wurde einfach von den Säulen geschluckt und in einem trüberen Farbton wiedergegeben. Die Stiefel des Cowboys knirschten, als er über den Kalksteinboden lief, seltsam verzerrt und irgendwie langsam und schwerfällig drang das Geräusch an sein Ohr. Morgan Elroy schien es auch aufzufallen, denn sein Gesicht wirkte ernster und besorgter. Sein ganzer Körper war angespannt. Ein Pfeil lag auf dem Bogen jederzeit bereit, sich in einen potentiellen Angreifer zu bohren.

      Sie schritten durch den überdachten Vorbau, der zu einem bogenförmigen Portal führte. Die Türen standen offen. Der Cowboy bemerkte, dass die Türen wohl schon längere Zeit nicht mehr geschlossen worden waren, denn Sand, abgestorbene Büsche, die man im Wilden Westen allgemein als tumbleweed bezeichnete und verlassene Vogelnester besprenkelten den Boden des Tempelinneren.

      Die beiden Männer betraten mit angehaltenem Atem das Portal. Während die Stiefel des Cowboys lautstark knirschten, verursachten die geschmeidigen Ledermokassins des Pawnees keinerlei Geräusche auf der sandigen Oberfläche des Kalksteinbodens. Der Cowboy beneidete den Indianer um dessen lautloses Gehen.

      Ein Gang führte in ein mit Säulen geschmücktes Atrium, das nach oben hin offen war. In der Mitte des Innenhofes befand sich ein großer Springbrunnen; Wasser plätscherte aus einem Bronzerohr, das aus dem Maul eines steinernen Fabelwesens ragte. Vorsichtig näherte sich der Cowboy dem Brunnen, immer den Blick auf die Figur gerichtet. Es war eine Kreatur mit dem Körper eines Löwen und einem langen reptilienhaften Schwanz, der in einen spitzen Stachel mündete. Der Bildhauer, der die Skulptur erschaffen hatte, musste ein wahrer Meister seines Faches gewesen sein. Die Kreatur sah in der einbrechenden Dunkelheit täuschend echt aus. Jede einzelne Schuppe des Drachenschwanzes war mit Hammer und Meißel so aufwendig bearbeitet, dass ein kunstvolles Schuppengeflecht entstanden war. Durch das Wasser glitzerten die Schuppen wie echte Echsenhaut.

      Der Cowboy umrundete zusammen mit dem Pawnee den Springbrunnen. Im hinteren Teil des Atriums gab es eine Pforte, die offensichtlich ins Heiligtum des Tempels führte. Kunstvolle Reliefs waren in die Türen eingelassen und mit Blattgold veredelt. Eine Tafel mit griechischen Buchstaben war über dem Bogen angebracht. Aus dem dahinterliegenden Raum drang ein schwaches Leuchten. Morgan Elroy bedeutete dem Cowboy, dass sie gemeinsam durch das Portal in den Hauptraum, der sich dem Atrium anschloss, gehen sollten.

      Der Raum war groß, weitaus größer als die Tempelanlage von außen vermuten ließ. Zu beiden Seiten erhoben sich Säulen, die die Last der Decke stützten. Eine dicke Staubschicht zeugte davon, dass dieser Raum schon lange nicht mehr von einer sterblichen Seele betreten worden war. Der Ort war mit Spinnweben überzogen. Staub und tote Fliegen klebten in den Netzen, die wie vergammelte Zuckerwatte aussahen.

      Doch die Aufmerksamkeit der beiden Männer richtete sich auf den hinteren Teil des Raumes. Ein riesiges Fresko zierte die Wand. Darauf zu sehen war das wutentbrannte Gesicht eines Mannes mit feuerroter Haut. Die Rottöne mussten früher einmal viel intensiver gewesen sein, denn jetzt wirkten sie blass und verwaschen. An vielen Stellen waren die Farbe und der darunterliegende Putz abgeblättert. Ein Glorienschein umrahmte den Mann wie eine aufgehende Sonne. Je länger der Cowboy auf das Fresko starrte, desto widersprüchlicher erschien es ihm. Es war ein Dämon und ein Heiliger in einer Person. Das Gesicht wirkte teuflisch, der Heiligenschein dagegen würdig und erhaben. Der Cowboy runzelte die Stirn. Dieser Mann kam ihm bekannt vor. Es weckte vage Erinnerungen an etwas, das in den Tiefen seines Gedächtnisses begraben war und langsam aber sicher wieder zum Vorschein kam, wenn man nur angestrengt danach suchte. Die Vergangenheit war an diesem Ort nicht einfach tot, sondern irgendetwas hatte hier über die Jahrhunderte hinweg existiert.

      Vor der antiken Wandmalerei ruhte ein gläserner Sarg. Jemand (oder etwas?) lag darin. Jedenfalls sah es von Weitem so aus, denn der Sarg war auch mit einer dicken Staubschicht überzogen. Aber er war eindeutig gläsern. Das Glas hatte im Laufe der Zeit seinen Weißstich verloren, war nun matt und stumpf geworden.

      Auch Morgan Elroy wurde jetzt auf den Glaskasten aufmerksam. Unruhig blickte er den Cowboy an. Auf seinem gespannten Bogen lag noch immer der gefiederte Pfeil. Dieser Ort behagte dem Pawnee nicht. Er mochte zwar einen Großteil seines Lebens unter Weißen verbracht haben, aber das Blut seiner Vorfahren rauschte durch seine Adern. Und dieser Tempel war böse!

      Langsam näherte sich der Cowboy dem aufgebahrten Sarg. Er spürte förmlich den Blick des Fremden auf dem Wandfresko, als würden dessen Augen ihm folgen und jeden seiner Schritte beobachten. Mehr als einmal wanderte sein Blick zu dem Fresko. Je näher er dem Sarg kam, umso deutlicher zeichneten sich die Umrisse einer Person darin ab.

      Der Cowboy spuckte in die Hand und wischte über die schmutzige Oberfläche des Sarges. Der Staub blieb in einem schmierigen Film an seinen Händen kleben. Das Glas fühlte sich eiskalt an – als herrschten im Inneren arktische Temperaturen. Diese Vermutung war wahrscheinlich richtig, denn hinter dem Glas hatten sich an einigen Stellen Eiskristalle gebildet.

      »Wow!«, raunte der Cowboy. In dem Sarg lag ein Mann, derjenige, der auf dem Fresko abgebildet war! Sein Blick glitt zwischen dem Sarg und dem Wandfresko hin und her. Es war eindeutig der Mann auf dem Wandbild! Schläft der Mann in dem Sarg? Nein, seine Brust bewegt sich nicht. Wo habe ich ihn schon einmal gesehen?, fragte sich der Cowboy. Etwas Vertrautes ging von dem Toten aus. Doch an so einen Menschen (wenn es denn überhaupt ein Mensch war) hätte er sich mit Sicherheit erinnert: Die Haut war vollkommen rot, als habe man ihn geschminkt. Doch dafür war der Farbton zu eben und gleichförmig. Es gab keine Schattierungen oder Nuancen. Es war einfach ein leuchtendes Rot, das von blauschwarzen Haaren umrahmt wurde.

      Der