Der Schreiberling. Patrick J. Grieser

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Название Der Schreiberling
Автор произведения Patrick J. Grieser
Жанр Языкознание
Серия Der Primus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947816040



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Mann im bunten Hawaiihemd frühmorgens aufgebrochen, um nach Hause zu laufen. Einen Führerschein besaß er nicht mehr – den hatte er wegen Trunkenheit am Steuer verloren. Mit 2,1 Promille war er durch die Reichelsheimer Straßen gefahren, bevor er im Vollrausch an der Mauer der Kurklinik Göttmann hängen geblieben war. Da er über 1,6 Promille im Blut hatte, wurde von der Führerscheinstelle in Erbach eine medizinisch-psychologische Untersuchung angeordnet. War die Trunkenheitsfahrt nicht schon peinlich genug, so musste er jetzt auch noch zum Idiotentest. Die Prüfung hatte er bislang nicht angetreten. Er würde sie auch nie antreten. Sein Alkoholkonsum hatte mittlerweile eine Ebene erreicht, wo es ihm schwerfiel, aufs Trinken zu verzichten. Es waren die ersten Anzeichen einer Sucht, die sich in sein Trinkverhalten schlichen. Er selbst redete sich ein, dass zu einem waschechten Tiki-Fan auch ein richtiger Cocktail gehört. Mit einem Mocktail wollte und konnte er sich nicht anfreunden.

      Im Sommer war es ganz angenehm, bei warmem Wetter längere Strecken zurückzulegen. Der Winter dagegen war die reinste Qual. Während Don Tiki schnaufend der Landstraße folgte, schaute er auf sein Handy, doch es hatte keine Anrufe in den letzten drei Tagen gegeben. Sein Freund Mike hatte sich nicht gemeldet! Das beunruhigte den Mann im Hawaiihemd ebenso sehr wie die Tatsache, dass er heute wieder zu Hause schlafen musste. Mike meldete sich sonst immer. Er überlegte, ob er die Polizei einschalten sollte, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Gegen ihn lief noch eine Anzeige wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Er war zwar auf das Polizeirevier in Erbach vorgeladen worden, aber zu dem Termin nie erschienen. Den beiden Polizisten, die ihm anschließend einen Besuch abstatteten, hatte er nicht die Tür geöffnet und toter Mann gespielt. Schon deshalb konnte er die Polizei nicht einschalten. Doch die Sache mit Mike bereitete ihm Sorgen. Auf dem Rückweg von Klein-Gumpen war er an Mikes Wohnhaus vorbeigekommen, hatte geklingelt, doch niemand hatte ihm aufgemacht. Er war ums Haus geschlichen, hatte durch die Verandatür ins Wohnzimmer geschaut, doch alles schien verlassen zu sein. Auch der Briefkasten war nicht geleert worden; die Werbung steckte noch immer im Briefkastenschlitz. Irgendetwas war vorgefallen und es stand in Verbindung mit den seltsamen Wesen im Wald. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis. Sein ganzes Denken war von seiner Entdeckung im Wald und dem Verschwinden von Mike bestimmt. Er malte sich die fürchterlichsten Horrorszenarien aus: wie ihn die Wesen des Nachts aufsuchten und aus seinem Bett zogen, um ihn später in dem alten verlassenen Bunker zu foltern. Es waren wahnsinnige Gedankengänge, die ihn nur schwer zur Ruhe kommen ließen.

      Don Tiki atmete tief ein und aus, als er sein kleines Fachwerkhaus in der Ferne erblickte und beschloss, sich jetzt erst einmal einen ordentlichen Cocktail zu mixen. Bei der Hitze wirkte ein Long Island Ice Tea wahre Wunder.

      Einige Autos fuhren an ihm vorbei; mit großen Augen schauten die Beifahrer ihn an. Er war halt durch und durch ein Freak. Ein Reichelsheimer Original! Dieser Gedanke zauberte für einen kurzen Augenblick ein Lächeln auf seine Lippen und er schloss fast beschwingt die Tür seines Wohnhauses auf. Drinnen war es kühler als draußen. Es roch muffig, denn die Fenster waren während seiner Abwesenheit allesamt geschlossen geblieben. Hastig eilte er zum Kühlschrank, kramte mehrere Flaschen Rum heraus und machte sich an die Arbeit, den gewünschten Cocktail zu kreieren. Er ging mit den Rumflaschen sehr großzügig um, denn er mochte seine Cocktails sehr stark. Es sollte eine großzügige Mischung werden. Nachdem er die ersten Schlucke genommen hatte, schienen sich seine aufgedrehten Gedanken wieder zu beruhigen. Der Alkohol wärmte seinen Magen; in seinen Gliedern breitete sich eine angenehme Schwere aus. Rum war die beste Medizin! Mit einem Seufzen schleuderte er seine Straßenschuhe von sich und schlüpfte in seine Sandalen. Von der Fensterbank nahm er seinen Hulakranz und legte ihn sich um den Hals. Jetzt bin ich wieder ein richtiger Mann! Er schlurfte zurück in den Hof und ließ sich schwerfällig in seinen Liegestuhl fallen. Von hier aus hatte er einen hervorragenden Blick auf die Wälder hinter der Wiese. Was auch immer passieren würde, seinen Augen würde nichts entgehen. In der rechten Hand hielt er sein kitschiges Cocktailglas, das einer Tiki-Gottheit nachempfunden war, und in der linken fest umschlossen sein Smartphone. Wenn dort oben in den Wäldern irgendetwas passierte, dann würde er es mit der Kamera festhalten. Dann hatte er einen Beweis!

      Passt bloß auf. Einem Mann wie Hubert Arras alias Don Tiki entgeht nichts! Ich habe euch fest im Blick, ihr gottverdammten Aliens!, dachte er grimmig.

      Doch es dauerte keine fünf Minuten, da hatte der Alkohol seine Sinne so sehr betäubt, dass er tief und fest einschlief.

      Die Welt ging unter. Mal wieder. Und Jakob hatte vom Balkon der Kurklinik Göttmann den besten Sitzplatz, um die Apokalypse hautnah zu verfolgen. Die Szene war erschreckend, hätte den ein oder anderen in den Wahnsinn getrieben, doch auf Jakob wirkte alles so seltsam vertraut. So, als ob er jeden Augenblick schon einmal durchlebt hätte. Und doch war es anders! Er war allein, hatte keine Freunde mehr. Man konnte sich nicht mehr gegenseitig unterstützen, sich Kraft geben und Mut zusprechen. Merkwürdigerweise störte ihn diese Einsamkeit nicht. Im Gegenteil: Er wirkte gelassener, weil er wusste, was ihn erwartete.

      Vor ihm erstreckte sich der gesamte Ort wie auf einem Präsentierteller. Es war schon weit nach Mitternacht, als die tollwütigen Seemänner mit dem Seelensprinter kamen. Die meisten Häuser lagen in vollkommener Dunkelheit; nur vereinzelt brannte noch ein heimeliges Licht in den Fenstern. Der Kirchturm der evangelischen Kirche war bis vor Kurzem noch beleuchtet, doch zu solch später Stunde hatte man den Strom abgeschaltet.

      Aus den Wäldern drang zunächst ein unheimlicher Singsang. Der Wind trug die Stimmen klar und deutlich an Jakobs Ohr. Er musste an die kanonischen Gesänge in der orthodoxen Kirche denken. Jedoch waren die Laute stark verzerrt, als wären sie mit einem schlechten Synthesizer bearbeitet worden. In einigen Häusern nahe der Stockwiese gingen die Lichter an und Fenster wurden geöffnet. Die Anwohner hatten also auch den Gesang vernommen. Da sich Jakobs Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, wie einige Leute auf die Terrasse gingen oder auf dem Balkon standen, um nach dem Rechten zu sehen.

      Schlagartig verstummten die Laute aus den Wäldern. Ein anderes Geräusch setzte ein, das Jakob so unendlich vertraut war und trotzdem eine Gänsehaut auf seinen Armen auslöste. Die feinen Härchen richteten sich auf. Das monotone Zischen und Dampfen eines großen Zuges – einer altertümlichen Eisenbahnlok genauer gesagt –, der in einen Bahnhof einfährt. Das Geräusch war zunächst ganz leise, schwoll aber in den nächsten Augenblicken immer stärker an, sodass man das Gefühl hatte, man würde direkt daneben stehen. In immer mehr Häusern gingen die Lichter an.

      Und dann sah Jakob die zyklopisch anmutende Silhouette des Seelensprinters, wie er sich einen Weg zwischen den Baumstämmen hindurchbahnte. In gerader Linie fuhr er durch den Wald auf einem Schienensystem, das vor ein paar Wochen noch nicht dagewesen war. Gewaltige Dampfwolken breiteten sich über den Wipfeln der Bäume aus. Unzählige Vögel stiegen laut krächzend in den Nachthimmel und versuchten, sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.

      Die Waggons waren riesig, stählerne Kolosse, die teilweise das Blätterdach des Waldes überragten. Die tollwütigen Seemänner waren gekommen, um auch diese Welt zu vernichten. In den nächsten Stunden würde es verdammt hässlich werden!

      »Lasst die Spiele beginnen!«, sagte Jakob und wunderte sich über seine Kaltschnäuzigkeit. Diesen Satz hatte Lehrer Tempels immer gesagt, nachdem er die Matheklausuren verteilt hatte. Doch es war nicht Lehrer Tempels, den Jakob vor seinem inneren Auge sah, sondern das grinsende Gesicht des Primus. Leonhard Hoyer, der ihn zum Sterben auf diese Welt geschickt hatte.

      Jakob machte sich auf seinem Stuhl klein, damit man ihn nicht vom Balkon aus sehen konnte. Den Stuhl hatte er aus dem versifften Hallenbad im Erdgeschoss die ganzen Stockwerke hochgeschleppt. Er griff zu der Chipstüte am Boden und genehmigte sich eine Flasche Bier aus der gestohlenen Kühltasche. Er war damals von seiner alten Welt ohne einen schlappen Euro in der Tasche aufgebrochen. In jenen Tagen war Geld unwichtig gewesen. Jetzt musste er sich Lebensmittel auf andere Art und Weise beschaffen. Am Vortag war er in die umliegenden Gartenlauben eingebrochen. Jakob war erstaunt, was die Leute dort so alles bunkerten: vergammelte Lebensmittel, Rasierschaum, Seifen, unbenutzte(!) Präservative und sogar Fernseher in Originalverpackung. Bei seinem Einbruch hatte er Chips und Bier sichergestellt. Jemand wollte wohl einen großartigen Fußballabend am Wochenende verbringen, denn in der Laube war der Tisch mit kleinen Deutschlandfähnchen geschmückt. Jetzt würde