Der Schreiberling. Patrick J. Grieser

Читать онлайн.
Название Der Schreiberling
Автор произведения Patrick J. Grieser
Жанр Языкознание
Серия Der Primus
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947816040



Скачать книгу

fühlte er sich federleicht. Eine unbekannte Kraft schien seinen Geist ähnlich einem starken Magnetfeld nach oben zu ziehen. Und dann erwachte Desmond Pickett. Es dauerte fast eine ganze Minute, bis er realisierte, dass es nur ein Traum gewesen war. Eine Szene aus seiner traurigen und beschämenden Kindheit. Der Schleier lüftete sich und das alte Ich von Desmond Pickett übernahm die Kontrolle. Jetzt war er wieder der gnadenlose Boss und Tyrann der Three-Pearls-Ranch. Er schüttelte sich, als wollte er die letzten Fetzen des Traums loswerden, und erhob sich von seinem Bett.

      Rainer Mehnert, der Cowboy, schlug die Augen auf. Instinktiv wusste er, dass etwas nicht stimmte. Es war mehr als nur eine Ahnung. Da war wieder dieses vertraute Gefühl, das er aus der Stadt der Nacht kannte. Sein Überlebenssinn, geschärft durch die schrecklichen Erlebnisse aus der Vergangenheit, hatte ihn aus dem Schlaf geholt. Etwas stimmte nicht! Sie waren in Gefahr!

      Ganz langsam drehte er sich auf die Seite. Das Feuer war zu einer schwachen Glut heruntergebrannt. Die Männer lagen in ihren Betten und schliefen. Es hatte aufgehört zu regnen. Selbst das Brüllen des Windes war vollends verstummt. Ein Blick zum Fenster zeigte ihm, dass es draußen noch dunkel war. Neben der Tür saß einer von Jeremy Slaters Männern, dessen Namen er vergessen hatte. Dessen Kopf ruhte auf der Brust, die sich gleichmäßig hob und wieder senkte. Der verfluchte Kerl war eingeschlafen! Nur mühsam unterdrückte der Cowboy einen Fluch. Ganz langsam und vorsichtig erhob er sich von seiner oberen Schlafstätte. Trotzdem knarrte das Bett bei der Bewegung.

      Jetzt sah er, dass Morgan Elroy ebenfalls wach war. Der Indianer saß aufrecht auf seinem Bett. Als er den Cowboy sah, hob er langsam die Hand und hielt den Zeigefinger vor die Lippen. Sssshhhh! Kein Wort! Der Pawnee hatte es auch gespürt. Sie verharrten in ihren Betten und lauschten in die Stille. Und dann hörten sie es. Etwas war da draußen und bewegte sich langsam um die Hütte. Was auch immer es war, es versuchte, sich leise fortzubewegen, doch die nasse Erde ließ jeden Schritt zu einem gedämpften Schmatzen werden. Mit seinem Körper schabte es immer wieder gegen die Holzwände.

      Vorsichtig verließ der Pawnee sein Bett und schlich zum Fenster. Seine Füße glitten lautlos über den Boden. Die anderen Männer schliefen immer noch. Auch der Cowboy verließ sein Bett und kletterte die Holzleiter des Etagenbettes hinunter. Schritt für Schritt, damit er kein verräterisches Geräusch erzeugte. Die beiden Männer positionierten sich links und rechts von dem Fenster.

      »Vielleicht ein Bär?«, wisperte der Cowboy so leise, dass er glaubte, Morgan würde ihn nicht verstehen. Doch der Indianer schüttelte den Kopf.

      »Zu groß!«, hauchte er.

      Die Augen des Cowboys weiteten sich. Zu groß? Zu groß für einen Bär? Und plötzlich beschlich ihn eine ungute Vorahnung. Sein Mund wurde trocken.

      Der Pawnee blickte kurz aus dem Fenster und wich dann blitzschnell wieder zurück. Sein Gesicht war blass geworden. Was auch immer Morgan Elroy gesehen hatte, es hatte ihn aus der Fassung gebracht. Und dann stand die Kreatur direkt vor dem Fenster. Der Cowboy spürte, wie sie durch das schmutzige Glas in die Hütte starrte. Er wagte es nicht sich zu rühren. Ein unheimliches Grollen drang von der anderen Seite des Fensters an sein Ohr, das sich wie das Vibrieren eines Erdbebens anfühlte, bevor der Schall das Gehör erreicht. Diesem Knurren wohnte eine so bösartige Intensität inne, dass der Rahmen der Fensterscheibe anfing zu zittern. Obwohl das Geräusch laut war, nahm der Cowboy es mehr mit dem Körper wahr als mit seinen anderen Sinnesorganen. Und plötzlich wusste er, was für eine Kreatur da draußen stand. Dieses Knurren hatte er schon einmal gehört. In der Stadt der Nacht, Dionaea muscipula! Offenbar war Hekate noch am Leben und hatte schlechte Laune …

      5

       In einer fernen Parallelwelt …

      »Fuck!«, war das erste Wort, das über Jakob Großmüllers Lippen kam. Er schloss die Augen, weil er dachte, dass er träumte. Doch als er sie wieder öffnete, waren die Nacktschnecken immer noch da. Sie waren verendet, hatten eine schwärzliche Farbe angenommen und lagen in einem weiten Kreis um ihn herum. Er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Vorsichtig hob er den Fuß und versuchte, über die Schnecken hinwegzutreten. Sie lagen überall verstreut – es waren bestimmt Hunderte. Nur nicht auf eine drauftreten!, dachte er verzweifelt, während er sich einen Weg durch die Wiese bahnte. Er fühlte sich in diesem Moment in einer Endlosschleife gefangen, in einem schrecklichen Déjà-vu-Erlebnis, das ihn so lange heimsuchen würde, bis er ein gebrochener Mann sein und aufgeben würde.

      Wenn die Schnecken anfangen zu sterben, dann ist es soweit. Die Welt wird aufhören zu existieren. Sie wird in Flammen untergehen! So ähnlich waren die Worte von Leonhard Hoyer, dem Primus, gewesen. Hinter dem Primus versteckte sich ein legendenumrankter Mann namens Epimetheus, der ein Nachkomme der Gaia und des Uranos war. Er hatte Jakob auf diese Welt gebracht und ihm versprochen, dass er hier ein ganz normales Leben würde führen können. Irgendetwas war falsch gelaufen. Oder der Primus hatte ihn schlichtweg verarscht. Diese Welt war instabil geworden – vermutlich ausgelöst durch seine bloße Existenz.

      »Verlier jetzt nur nicht den Verstand!«, versuchte er sich selbst zu beruhigen, was ihm aber nicht gelang, denn seine Stimme hörte sich schrecklich an. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Der Cowboy und er hatten Hekate ausgeschaltet (jedenfalls glaubte er das, denn er hatte sie in ihrer Wolfsgestalt lichterloh brennend in das Energiefeld stürzen sehen). Hekate. Die Göttin der Wegkreuzungen. Magna Mater, die Große Mutter. Sie hatte die Seelensprinter kontrolliert und sich der tollwütigen Seemänner bedient. Wenn sie nicht mehr existierte, dann konnte auch keine ihrer Kreaturen auf diese Welt kommen und sie vernichten. Dieser Gedankengang erschien Jakob ausgesprochen logisch. Leonhard war im Besitz der Steuerkarte. Er würde niemals Seelensprinter in diese Welt schicken. Schließlich war es der Primus selbst gewesen, der ihn hierher gebracht hatte. Doch Jakob war ein junger Mann mit einem sehr hohen Sicherheitsbedürfnis. Er musste im Wald nachschauen. Erst dann würde er sich in Sicherheit wiegen.

      Hastig lief Jakob zwischen den toten Nacktschnecken vorbei in Richtung Stockwiese. Diese waren ein kleines Naturschutzgebiet, unweit von Klein-Gumpen, mit einer überschaubaren Anzahl von Wanderwegen, die ins Zentrum und in benachbarte Orte führten. Die Reichelsheimer nutzten die Stockwiese für ausgiebige Nachmittags- oder Sonntagsspaziergänge. Eine unberührte Landschaft, die die Last des Alltags für ein paar Stunden vergessen ließ. Ein kleiner Weg unscheinbar von dichten Büschen umgeben, zweigte von der Waldstraße ab und führte direkt ins Herz des Naturschutzgebietes.

      Jakob sprintete den geteerten Weg entlang. Hätte ich doch nur mein altes Fahrrad, meinen grünen Felt-Cruiser!, dachte er sehnsuchtsvoll. Früher war er immer mit dem Fahrrad durch die Stockwiese gefahren. Es tat weh, an seine alte Clique zu denken: Schnute, Mehlsack, Roland und Peter. Sie waren alle tot, hatten ihr Leben auf der Flucht vor den tollwütigen Seemännern gelassen. Der Weg führte an Wiesen, Pferdekoppeln und Bachläufen vorbei. Obwohl es sich anfühlte, als wäre er eine halbe Ewigkeit nicht mehr in der Stockwiese gewesen, achtete er trotzdem nicht auf die nähere Umgebung. Die alte Kurklinik Göttmann ragte in der Ferne wie ein schlafender Riese über die Hecken und Bäume hinweg.

      Der Weg gabelte sich nun wenige Hundert Meter vor der Kurklinik. Jakob nahm die linke Abzweigung, denn dieser Pfad führte in die Wälder. Er erinnerte sich daran, dass Dirk Wolpers – ein Schläger der Albert-Einstein-Schule – von seltsamen Schienen erzählt hatte. Wolpers, der immer zu den Fischteichen im Wald gegangen war, um dort zu kiffen, stieß damals auf diese seltsamen Bahnschienen. Sie waren auf einmal da gewesen. Was einige zunächst für einen bösen Streich hielten, entpuppte sich später als die Apokalypse schlechthin. Auf den Schienen und ihren Gleisbetten waren die Seelensprinter gekommen.

      Es schauerte Jakob noch immer bei dem Gedanken an die riesige, fast organisch wirkende Lokomotive mit dem schiefen Schornstein und den aufgeblähten Waggons, an den Rohrkessel und die Kolbendampfmaschine, die in diesem seltsamen grünlichen Licht leuchtete. Und die Seelensprinter entluden ihre unheilige Fracht in den Wäldern: die tollwütigen Seemänner … Jakob verscheuchte den Gedanken, bevor er sich bildhaft vor seinem inneren Auge manifestieren konnte. Stattdessen lenkte er seinen Aufmerksamkeitsfokus wieder nach außen. Achtsamkeit.