Leopold Figl. Birgit Mosser-Schuöcker

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Название Leopold Figl
Автор произведения Birgit Mosser-Schuöcker
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783902998651



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SS und findet es wahrscheinlich ganz unterhaltsam. Das „Strafstehen“ kann die ganze Nacht dauern, manchmal sogar länger. Im Winter befiehlt der Kommandant zuweilen: „Mützen ab!“ Damit auch der Kopf etwas von der guten Luft hat.

      Hoffentlich ist heute nichts passiert, wünscht sich Leopold Figl inbrünstig. Er friert, wie er noch nie im Leben gefroren hat. Der Winter 1940 ist hier in der Oberpfalz besonders eisig. Die Kälte scheint durch jede Faser seines Körpers zu kriechen. Sein Blick wandert zu seinem Freund Franzl, der nicht weit entfernt steht. Der kräftige junge Mann ist nur mehr ein Schatten seiner selbst. Ein wandelndes Gerippe. „Wie wir alle“, denkt Leopold Figl erschüttert.

      »Man war den ganzen Tag im Freien, ohne Essen und Trinken. Erst am Abend gab es Krautsuppe, ein paar schlechte Kartoffeln und ein Viertel Brot. Es regnete häufig, und manchmal wurden wir am Tag drei Mal nass bis auf die Haut. Später dann wurden die Finger von der Kälte so steif gefroren, dass es abends immer eine Zeit lang dauerte, bis ich sie wieder geradebiegen konnte«, berichtet Franz Olah in seinem Buch »Erlebtes Jahrhundert«.31

      Am 27. September 1939 werden Leopold Figl, Franz Olah und ihre Kameraden nach Flossenbürg verlegt. Die Blitzsiege der Wehrmacht lassen neue Häftlinge erwarten. Dachau wird vergrößert. Für die Dauer der Ausbauarbeiten werden die Österreicher in die Oberpfalz verlegt. Flossenbürg liegt an einem Granitsteinbruch, in dem die Häftlinge schuften müssen. Die »Arbeit« ist die Hölle.

      Auch der Journalist Rudolf Kalmar schleppt in Flossenbürg Steine. »Wir standen nicht mehr bloß unter dem Diktat der SS. Auch die Chargen aus unseren Reihen waren abgelöst und unsere Vorarbeiter durch Kriminelle ersetzt worden, die hier unerbittlich ihr eigenes grausames Regiment führten. […] So werkten wir, eine Horde von Bettlern, bei einem Minimum an Verpflegung, acht Stunden und länger im Steinbruch. Mit Tritten und Prügeln über die Halden gehetzt.«32

      Die »Rettung« kommt in Form einer Krankheit: Im Lager bricht die Ruhr aus. Die Häftlinge kommen in Quarantäne, die spärliche Nahrung – Rübensuppe – wird ihnen zum Zaun gestellt. Hinter diesem Stacheldraht sind die Freunde »in Sicherheit«. Keine schwere Arbeit, keine Schläge, kein Strafstehen. Und kein Belauschen. In diesem Vakuum können die Österreicher erstmals in der Gruppe über das Schicksal ihrer Heimat sprechen, wie Franz Olah in einem Interview für das »Haus der Bayerischen Geschichte (Bildarchiv)« berichtet: »Da hatten wir so einen kleinen Kreis eingerichtet, nicht wahr, weil da hat uns niemand gestört. Da ist sicher niemand dazwischen gekommen, weil alle Angst gehabt haben von der SS. Da konnten wir in Ruhe reden.«33 Es drohen keine Schläge, wenn man die Heimat bei ihrem Namen nennt. Die Gedanken der Machtlosen kreisen, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, um die Zukunft. Wird es wieder ein eigenständiges Österreich geben? Wie sollte ein solcher Staat aufgebaut sein? Wie sollte er regiert werden?

      »Wir haben gesagt, wir werden es halt zusammen tun und werden nicht mehr aufeinander schießen. […] Streiten werden wir schon, aber halt streiten und nicht schießen, das ist das Entscheidende. Das war die Katastrophe, dass die Leute alle geglaubt haben, man muss den anderen die Meinung mit dem Gewehrkolben aufzwingen. Also gewissermaßen ist schon der Grundstock […], dass man es gemeinsam macht und dass man das Land wieder aufbauen muss.«34

      Diese unverstellten Worte lassen spüren, dass der »Geist der Lagerstraße« kein Klischee ist. Kein Gedankenkonstrukt, das Historiker überbewerten, um dem Österreichbewusstsein der Zweiten Republik Impulse zu geben. Angesichts der gemeinsamen Bedrohung werden die alten Gräben tatsächlich überwunden. »Diese menschliche Solidarität und Hilfsbereitschaft ging über die Grenzen der alten politischen Lager hinweg. Führende Politiker wie Richard Schmitz, Alfons Gorbach oder Leopold Figl und Johann Staud hatten sich uns Sozialdemokraten gegenüber anständig benommen«35, schreibt Olah.

      Die Machthaber des Ständestaates erfahren jetzt am eigenen Leib, was es heißt, unfrei zu sein. »So, jetzt sehen Sie, wie das ist!«, verhöhnt Heinrich Himmler den ehemaligen Kommandanten des Anhaltelagers Wöllersdorf, Emanuel Stillfried, bei einem Dachau-Besuch. Der Reichsführer SS inspiziert den ÖsterreicherBlock. Der Offizier bewahrt Haltung: »Herr Reichsführer, ich würde mir wünschen, dass wir so behandelt werden, wie Ihre Leute bei uns behandelt wurden!«36, antwortet der Gefangene. Seine Kameraden erstarren und rechnen mit dem Schlimmsten. Himmler dreht sich auf dem Absatz um und geht weg. Das Demütigen macht keinen Spaß, wenn das Opfer Stärke zeigt.

      Franz Olah schreibt in seinen Erinnerungen, dass Stillfried in Dachau besonders gequält wurde, aber sich als sehr tapfer erwiesen habe. »Hier in Dachau bin ich Demokrat geworden! Wir haben immer nur gelernt, dass man der Regierung gehorchen muss. Jetzt sehe ich ein, dass es eine Opposition geben muss!«37, sagt er einmal zu dem mitgefangenen Sozialisten.

      Endlich erkennt man, wer die wahren Feinde Österreichs sind. Endlich denkt man über eine gemeinsame Zukunft nach. Einheitlich in die weiß-blau-gestreifte KZ-Montur gekleidet, beginnen Männer miteinander zu diskutieren, die sich noch Monate zuvor in Todfeindschaft gegenüberstanden. Man hört einander zu: Hier gibt es keine feurigen Reden zu halten, keine Wähler zu beeinflussen. Die Gegner von einst wollen wissen, was in ihrem verloren gegangenen Staat schiefgelaufen ist. Und es ist viel, über das gesprochen werden müsste: fehlende Konsensbereitschaft, mangelnde Identifikation mit einem Staat, der den Österreichern aufgezwungen wurde, staatliche Repression. Der Lageralltag lässt freilich keine Zeit, all diese Aspekte im Detail zu diskutieren. Aber es entsteht ein Gefühl: Wir Österreicher müssen zusammenhalten. Und: Österreich soll wieder ein freies Land werden.

      »Mir sagte ein Sozialist, dass der Graben der gegenseitigen Feindschaft zugeschüttet werden muss, wenn Österreich leben soll. Ich erwiderte ihm, dass dann, wenn das geschieht, das österreichische Haus nicht mehr auf einem Rutschgrund, sondern auf festem Boden stehen wird«, schildert der spätere Landeshauptmann von Oberösterreich Heinrich Gleißner.38

      Fritz Bock, der spätere Vizekanzler und Handelsminister, erinnert sich: »… haben wir schon im Sommer 1938 auf der Dachauer Lagerstraße, wenn dazu Gelegenheit war, von nichts anderem geredet, als was wir wieder machen würden, wenn Österreich wieder einmal frei sein werde. Dabei hat keiner von uns gewusst, […] ob er den nächsten Tag überleben wird, aber wir haben die Hoffnung und den Glauben daran nie aufgegeben, dass es wieder ein Österreich geben wird.«39

      Auch und gerade Leopold Figl verliert diesen Glauben nie. Endlich ist der Ausbau beendet und Figl und seine Kameraden werden wieder zurück nach Bayern verlegt. Am 2. April 1940 geht Häftling Nr. 13.897 durch das Tor, über dem »Arbeit macht frei« steht. Erst drei Jahre später wird es sich wieder für ihn öffnen.

      5. KAPITEL

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      Auch das Private bleibt nicht privat. Immer liest der Zensor mit.

      Nicht mehr lang? 1940 bis 1943

      Leopold Figl zieht sich die verschlissene Decke bis zur Nasenspitze. Endlich ist das Fieber gesunken. Dafür quält den Kranken jetzt der Schüttelfrost. Wenn er nur etwas Warmes zum Zudecken hätte. Ein zaghaftes Klopfen reißt den Gefangenen aus seinen Gedanken. Mühsam setzt er sich auf. Hinter dem schmutzigen kleinen Fenster, hinter einer Absperrung aus Holz und Stacheldraht, erkennt Leopold Figl einen Kameraden. Kalmar winkt ihm zu. Die Freunde haben nicht auf den Kranken vergessen. Irgendwie ist es ihnen gelungen, ihm Nahrungsmittel zukommen zu lassen. Sie müssen sie sich vom Munde abgespart haben. Ein Stück Brot. Einen Margarinewürfel. Oder gestohlen haben, wie den französischen Cognac. Ein Mal war sogar ein Brocken Fleisch darunter. Leopold Figl weiß genau, welches Risiko die Freunde für ihn eingegangen sind. Kalmar winkt noch immer und lächelt ihm aufmunternd zu. Unendlich langsam wälzt sich der Kranke von dem dreckigen Strohsack, den man hier Bett nennt. Kalter Schweiß bricht ihm aus allen Poren. Er beginnt am ganzen Körper zu zittern. Seine Beine drohen, unter ihm nachzugeben. Das Fenster in kaum drei Metern Entfernung scheint unendlich weit weg zu sein. Leopold Figl beißt die Zähne zusammen. Er will den Freunden endlich danken. Ohne ihre Hilfe hätte er nicht überlebt. Noch ein Schritt. Und noch einer. Dann ist Leopold Figl am Fenster. Sein Freund hat aufgehört zu lächeln.

      »Ein