Leopold Figl. Birgit Mosser-Schuöcker

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Название Leopold Figl
Автор произведения Birgit Mosser-Schuöcker
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783902998651



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Ankunft in Bayern bewahrheiten sich alle Befürchtungen, die der spätere Bundeskanzler gehabt haben mag. »Als wir in Dachau ankamen«, schreibt sein Mitgefangener Rudolf Kalmar, »von der Bahn ins Lager geschleift und dort in irgendeine Ecke geprügelt, begann so etwas wie ein öffentliches Verhör vor einer ganzen Gruppe von sogenannten Offizieren. Jeder einzelne von uns wurde vorgerufen und verhöhnt. Jeder schmutzige Witz fand seinen begeisterten Beifall.«20

      Einige Stunden später neigt sich der erste Tag, den Leopold Figl im Konzentrationslager überlebt hat, dem Ende zu. 151 Österreicher sind auf dem Dachauer Appellplatz angetreten. Sie haben eine schlaflose Zugfahrt, ein demütigendes Verhör, eine anstrengende Registrierung und jede Menge Prügel hinter sich. Zu essen oder trinken gibt es nichts. Hans Loritz, der Kommandant, mustert die in Doppelreihen angetretenen Häftlinge. »Wir werden jetzt essen gehen und ein gutes Glas Bier auf die Ankunft der Herren Österreicher trinken. Und ihr lasst euch in der Zwischenzeit ein bisschen Sonne in den Bauch scheinen. Das ist gut für den Hunger!«21

      Während sich Hans Loritz bei einem Glas Bier von dem anstrengenden Tag erholt, kommt der Friseur auf den Appellplatz. Den Neuzugängen werden die Köpfe kahl geschoren. Dann heißt es weiter stehen. Die Männer starren sich gegenseitig verschämt und entsetzt an. Ohne Haare und in der schäbigen blau-weiß-gestreiften KZ-Montur gleichen sie Zuchthäuslern. Minister stehen neben Kommunisten, jüdische Kaufleute neben jungen Sozialisten. Die erbitterten Gegner von gestern sind jetzt die Opfer eines gemeinsamen Feindes. Irgendwo auf dem Appellplatz steht auch Leopold Figl. In den letzten 24 Stunden hat er erfahren, was es heißt, ein »Schutzhäftling« des sogenannten »Dritten Reiches« zu sein.

      Am 17. April schreibt er die erste Karte nach Hause: »Es geht mir gut und ich bin gesund!« Diese barmherzige Lüge wird sich in jedem der Briefe, die der Gefangene in den nächsten fünf Jahren schreiben darf, wiederholen. Seine Frau Hilde kann auch in ihren schlimmsten Befürchtungen nicht ahnen, wie die KZ-Häftlinge tatsächlich behandelt werden. In knappen Worten fragt der Verhaftete nach dem Befinden der Familie. Er verliert kein Wort über seine eigenen Gefühle. Rund zwei Wochen nach seiner Ankunft in Dachau sitzt der Schock über das Geschehene vermutlich noch zu tief. In der kurzen Karte schöpft Figl nicht einmal die zehn vom Lagerkommandanten zugestandenen Zeilen aus; er schreibt nur sechs. In den kommenden Monaten und Jahren wird Leopold Figl lernen, seine Frau mit Worten aufzumuntern, die er sich selbst vermutlich nur schwer abringen kann. Nur hin und wieder wird er sich einen Hinweis auf seine Gefühle erlauben: »Ich kann dir nicht schreiben, was mein Innerstes empfindet«, heißt es in einem Brief aus dem Jahr 1939.22 Selbst wenn es keine Zensur gäbe, würde es der Gefangene kaum über sich bringen, seiner Frau den wahren KZ-Alltag zu schildern. Das Regime, das ihn gefangen hält, zeigt ihm mit allen Mitteln, dass einer wie er nichts mehr zu hoffen hat.

      Die Bestrafung: Frühling 1938

      Auf dem Appellplatz herrscht völlige Stille. Vergessen sind Erschöpfung und Hunger. Die Gefangenen starren auf den verhassten Prügelbock. Es ist wieder so weit. Wen es wohl heute treffen wird? Sie stehen und stehen. Endlich erscheint der Kommandant. Hans Loritz ist guter Dinge. Er wirft einen kurzen Blick auf seine Unterlagen. „Schutzhäftling Nr. 13.897, vortreten!“ Eine hagere Gestalt löst sich aus der Menge. „Jessas, der Figl!“, raunt einer der Österreicher.

      Hans Loritz hat es nicht eilig. Eingehend mustert er den Verurteilten. Ein schmächtiger Mann, noch relativ jung. Brillenträger. Vermutlich ein Intellektueller. Wird er schreien? Wird er es schaffen, sich den Schmerz zu verbeißen? Man darf sich von der Statur eines Mannes nicht täuschen lassen, das weiß der KZ-Kommandant längst. Manchmal sind gerade die kleinen Drahtigen besonders zäh. Der Gefangene steht vorschriftsmäßig vor ihm; die Hände an der Hosennaht, die Mütze in der Hand. Er lässt keine Gemütsbewegung erkennen. Hans Loritz macht einige Schritte vorwärts, bis er dem Verurteilten ganz nahe ist. Ihre Blicke treffen sich. Der SS-Mann sucht die Angst in den Augen seines Opfers.

      Leopold Figl spürt das Lauern des Lagerkommandanten fast körperlich. Keine Schwäche zeigen. Wenn es nur nicht so schwer wäre. Der Gefangene weiß genau, was ihm bevorsteht. Die SS zwingt die Häftlinge nicht ohne Grund, die Bestrafung ihrer Kameraden mitanzusehen. Das Prügeln eines Mannes wird für Hunderte seiner Mitgefangenen zur seelischen Qual. Er sieht den armen Teufel noch vor sich, gefesselt und wehrlos. Er hört die Schreie, sieht das Blut. Fast wäre er bei dem Anblick umgekippt, wenn ihn nicht zwei Kameraden aufgefangen hätten. Und jetzt ist er selbst dran. Leopold Figl wird „über den Bock gehen“, wie die Häftlinge sagen.

      Hans Loritz hat genug gesehen. Verstockt, wie die meisten Politischen. Eine kleine Abreibung wird dem Mann gut tun. Wer nicht hören will, muss eben fühlen. Der SS-Mann verliest den „Straftenor“. Schließlich muss alles seine Ordnung haben.

      Die Worte prasseln auf den Gefangenen ein. Ein Schauspiel, um den Anschein der Rechtmäßigkeit zu wahren. Um das demütigende Spektakel in die Länge zu ziehen. Die schnarrende Stimme des Kommandanten scheint von weit her zu kommen. Er sieht, wie sich der Mund des SS-Mannes bewegt, aber er kann die Worte kaum unterscheiden. Leopold Figl kennt die Strafe auch so: 25 Schläge, weil er bei der Arbeit gesprochen hat. Über die Heimat, über Österreich. Worüber sie geredet hätten, hat ihn der Posten angeherrscht. Er hätte ausweichen können, lügen können. Aber alles in Leopold Figl hat sich dagegen gesträubt, aus Angst, den Namen seiner Heimat zu verleugnen. Jetzt wird er dafür büßen.

      „Blockführer, tun Sie ihre Pflicht!“, kommandiert Loritz. Wie in Trance geht der Verurteilte auf den Bock zu. Die SS-Männer ziehen ihre Uniformhemden aus. Mit bloßem Oberkörper lässt es sich besser zuschlagen. Es sind junge, kräftige Burschen. Routiniert fesseln sie den Delinquenten an das Holzgestell. Dann nehmen sie die Ochsenziemer aus einem Wasserbecken, in dem sie eingeweicht waren.

      Das dunkle Holz liegt kühl und glatt unter seiner Wange. Es stinkt nach Schweiß und Blut. Leopold Figls Blick ist auf einen der Schläger gerichtet. Wie jung er ist, denkt der Gefangene flüchtig. Dann explodiert die Welt in einer Welle aus Schmerz.

      Der Ex-Häftling Rudolf Kalmar beschreibt, wie die Prügelstrafe in Dachau vollzogen wurde: »Der Ausgepeitschte hatte laut zu zählen. Von eins bis 25. Wenn er es versäumte, bekam er zusätzliche Prügel. Nach ein paar Hieben zerrissen die Hosen. Die schmiegsamen Peitschen schnitten wie Messer den Stoff auseinander. Das Leder fraß sich in die Haut und in das Fleisch. Der Gepeinigte schrie auf, so oft er getroffen wurde. Er biss die Zähne zusammen und stöhnte. Oder er verlor das Bewusstsein und wimmerte nur mehr, wenn ihn der neue Schmerz immer wieder aus der Dämmerung riss. Nach 25 Hieben stießen sie ihn vom Bock. Er hatte, die Hände an der Hosennaht, dem Schutzhaftlagerführer den Vollzug seiner Strafe zu melden und wurde anschließend mit Jod übergossen.«23

      »Die armseligen Hinterteile der Gefolterten sind blutige Fleischfetzen«, erinnert sich Maximilian Reich, der einer solchen Schinderei beiwohnen musste.24 Es geht nicht nur um das Zufügen körperlicher Schmerzen, sondern auch und vor allem um die Demütigung der Regimegegner. Das »über den Bock gehen« lässt den Geprügelten und seine zusehenden Kameraden ihre absolute Ohnmacht in grausamer Weise spüren. Zusätzlich verletzt das entwürdigende Ritual das Schamgefühl des Bestraften. Dieses Ausgeliefertsein ist für jeden Gefangen quälend. Für Menschen wie Leopold Figl, Wochen zuvor noch hoch respektiert, mag es noch schwerer zu ertragen gewesen sein.

      Seine Kameraden können dem ehemaligen Reichsbauernbunddirektor nicht helfen. Die nächsten 45 Tage wird Leopold Figl alleine sein, ganz alleine. Zusätzlich zur Prügelstrafe hat er sechs Wochen Bunker ausgefasst. Das bedeutet Dunkelhaft bei hartem Lager, Wasser, Brot und nur jeden vierten Tag die ohnehin magere Lagerkost.

      Auch Figls Leidensgenossen und lebenslangen Freund Franz Olah haben die Nazis in den Bunker gesperrt: »Vor allem suchte man nach Wegen, in einer solchen Situation nicht verrückt zu werden. Wer Derartiges nicht selbst erlebt hat, kann eine solche Lage nicht beurteilen. Ich habe damals mein ganzes Leben an mir vorüberziehen lassen, systematisch, Tag für Tag, Tag und Nacht. Dabei wird man natürlich von der Frage gequält, ob man immer richtig gehandelt hat.«25

      Es ist das Erleben gleichartiger Ausnahmesituationen, das österreichische Politiker der Stunde Null später verbinden wird. »Schwarze« wie Lois