Leopold Figl. Birgit Mosser-Schuöcker

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Название Leopold Figl
Автор произведения Birgit Mosser-Schuöcker
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783902998651



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Selbstachtung noch Überlebenswillen verlieren. Angesichts eines allmächtigen Widersachers nicht aufzugeben, das lernt Leopold Figl in seiner KZ-Zeit. Ein Vermögen, das dem späteren Bundeskanzler und Außenminister einige Jahre später helfen wird, auch in scheinbar ausweglosen Situationen eine Lösung zu finden. Was es ihn gekostet hat, körperlich und seelisch, danach wird auch nach dem Krieg kaum jemand fragen. Wie viele andere dieser Generation will Leopold Figl auch nicht gefragt werden. »Red ma net darüber!«, wird seine Standardantwort sein, wenn er nach den Spätfolgen des KZ gefragt wird.

      »Wer dies alles überstehen konnte, trug natürlich seine Wunden davon, mancher mehr, mancher weniger. […] Aber es stellte sich heraus, dass die Schwächeren die Tortur oftmals besser überstehen konnten als die allzu Kräftigen«, urteilt Franz Olah.26

      Körperlich wird Leopold Figl aus jener Zeit Gewebeschäden davontragen, die auch viele Jahre später noch zu schmerzenden Geschwüren führen. Rudolf Kalmar meint sogar, dass Figls früher Tod auf diese Verletzungen zurückzuführen sei. Bei der Prügelstrafe seien die Häftlinge, obwohl es verboten war, immer wieder auch in der Nierengegend getroffen worden. Dabei dürften Figl Stofffetzen seiner Montur in die Haut gedrungen seien.27

      25 Schläge und sechs Wochen Bunker sind in Dachau nicht genug, um das Aussprechen des verpönten Wortes Österreich zu ahnden: Als zusätzliche Strafe verschwindet Leopold Figl danach ein halbes Jahr im Strafblock. Dort lebt man im Lager hinter einem Stacheldrahtverhau, abgeschnitten von den Kameraden. Nur zum Arbeitseinsatz darf das Gefängnis im Gefängnis verlassen werden. Statt alle zwei Wochen, dürfen die Gefangenen hier nur ein Mal im Vierteljahr einen Brief schreiben oder empfangen.

      Die »Disziplinar- und Strafordnung für das Gefangenenlager« vom 1. Oktober 1933 enthält eine ganzen Katalog von Strafen, abgestuft nach dem Grad an Leid, das sie verursachen: Essensentzug, Postsperre, schwere Strafarbeit in eigenen Strafkommandos, Bunker, körperliche Züchtigungen wie der »Bock« oder das berüchtigte »Pfahlhängen« (das Hängen an den nach hinten gefesselten Händen an einem Pfahl) und schließlich die Todesstrafe. Das Amtsdeutsch des von KZ-Inspektor Theodor Eicke verfassten Dokuments lässt nichts von den Ängsten und körperlichen Qualen der Bestraften erahnen. Theoretisch soll die Diszi plinarordnung Willkür verhindern. So heißt es in der Dienstvorschrift für Begleitposten und Gefangenenbewachung: »Den Begleitposten obliegt die Bewachung der Gefangenen bei der Arbeit. Sie richten ihr Augenmerk auf das Verhalten derselben bei der Arbeit. Träge Gefangene sind zur Arbeit anzuhalten. Streng untersagt ist jedoch die Misshandlung oder Schikane. Ist ein Gefangener bei der Arbeit sichtlich nachlässig und faul oder gibt freche Antworten, dann stellt der Posten den Namen fest. Nach Dienstschluss erstattet er Meldung. Selbsthilfe bedeutet Mangel an Disziplin.«28

      So weit die Theorie. Tatsächlich besteht das »zur Arbeit anhalten« in Schlägen oder Beschimpfungen. Außerdem liegt das Melden oder eben Nichtmelden allein in der Entscheidungsgewalt des Postens, womit jeglicher Willkür Tür und Tor geöffnet ist.

      Als Leopold Figl nach sechs Monaten aus dem Isolierblock entlassen wird, ist er ein körperliches Wrack. Er ist so abgemagert und geschwächt, dass er die harte Arbeit des Mauerkommandos, dem er ursprünglich zugeteilt war, nicht durchstehen würde. Jetzt macht es sich bezahlt, dass er Kameraden und Freunde hat, denen er geholfen hat. Nun wird ihm geholfen: Die Planung der neuen SS-Unterkünfte, neuer Baracken und eines Bordells obliegt einem jungen österreichischen Bauingenieur. An ihn wenden sich die Freunde: »Du, der Figl ist doch Ingenieur .« Tatsächlich wird Leopold Figl der Bauplanung zugeteilt. Dass der Niederösterreicher Agrarwesen studiert hat, stört niemanden. Allerdings kommen ihm bei seiner neuen Aufgabe seine Vermessungskenntnisse zugute. Alsbald sieht man ihn mit einer rotweißen Stange geodätische Daten aufnehmen. Geschwächt, wie der »Schutzhäftling« ist, fällt ihm vermutlich auch diese vergleichsweise leichte Arbeit schwer. Aber er kann sich endlich wieder innerhalb der Lagergrenzen frei bewegen, alle zwei Wochen einen Brief nach Hause schreiben und mit seinen Freunden sprechen. Leopold Figl kann neue Hoffnung schöpfen. Und Hoffnung ist im Lager überlebenswichtig.

      Kraft schöpft Leopold Figl auch aus seinem Glauben. Als Bauernbub ist er in einem Umfeld aufgewachsen, in dem der sonntägliche Kirchenbesuch und das Einhalten christlicher Feiertage eine Selbstverständlichkeit waren. Anders als für andere christlich-soziale Politiker jener Zeit ist die katholische Kirche für ihn mehr als nur ein Alliierter im Kampf der Ideologien. Leopold Figl glaubt an Gott und lebt diesen Glauben auch – sogar im KZ. In einer unbelegten Baracke wird eine heimliche Kapelle eingerichtet. Ein Tisch dient als Altar, aus Ästen wird ein Kreuz gefertigt. Wenn die Christen heimlich beten, stehen die »Roten« draußen Schmiere. Umgekehrt halten die »Schwarzen« Wache, wenn bei den »Sozis« oder Kommunisten eine verbotene Feier ansteht.29 Unter den Augen der SS entsteht Kameradschaft. In manchen Fällen, wie bei Figl und Olah, lebenslange Freundschaft.

      Obwohl es streng verboten ist, werden in Dachau die Toten entsprechend ihrer Gesinnung verabschiedet. Die Freunde schleichen sich in die Totenkammer und beten, oder sie heben die Hand mit der geballten Faust. Der Verstorbene bemerkt nichts mehr von dem Risiko, das die Kameraden mit einem solchen, verbotenen Ritual eingehen. Aber die geheimen Treffen, so kurz sie auch sein mögen, geben den Lebenden ein wichtiges Gemeinschaftsgefühl: Wir sind nicht zu willenlosen Objekten der SS degradiert. Wir haben eine Gesinnung, die wir nicht aufgeben.

      Seinen Glauben wird Leopold Figl auch später, in der Freiheit, nicht aufgeben. Auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht, als Kanzler und Außenminister, wird er vor einer schwierigen Entscheidung darum beten, das Richtige zu tun. Im KZ, wo Gewalt und Tod allgegenwärtig sind, verhilft dem Häftling vermutlich seine Religiosität zu innerer Stärke. Wer an das ewige Leben glaubt, kann sein irdisches Leben leichter einsetzen.

      Rudolf Kalmar erlebt das erste Ostern hinter Stacheldraht mit Leopold Figl: »Wir standen elend und trostlos auf dem Appellplatz und in den Baracken herum. Leopold Figl suchte an diesem Morgen jeden aus unserem Kreis auf und gab ihm die Hand. ›Vergiss nicht, der Herr ist erstanden.‹ – ›Der Herr ist wahrlich erstanden‹, gaben ihm die Freunde die Osterbotschaft dankbar zurück. Er antwortete: ›Amen und Österreich.‹«30

      Auch wenn es für zeitgenössische Ohren kitschig klingen sollte, so umreißen diese beiden Worte die Lebensthemen des späteren Bundeskanzlers: ein bäuerlich geprägter Glaube an Gott und eine unbeirrte Liebe zu seiner Heimat.

      Als sich Leopold Figl und seine Kameraden am Ostersonntag 1938 auf dem Appellplatz die Hände schütteln, ahnen sie nicht, dass eine Zeit kommen wird, in der sie sich nach Dachau zurücksehnen werden.

      4. KAPITEL

      Der Steinbruch: Winter 1940

      „Schneller, du faules Schwein!“ Der Schlag trifft den Gefangenen mit aller Macht zwischen die mageren Schulterblätter. Leopold Figl schwankt. Der Granitbrocken rutscht aus seinen steif gefrorenen Fingern und kracht zu Boden. Wortlos schlägt der Kapo noch einmal zu. Der ausgemergelte Körper kippt nach vorne und schlägt schmerzhaft auf dem harten Boden auf.

      Der Treiber lächelt zufrieden. Auch er ist ein Häftling, doch die SS hat ihn, den ehemaligen Zuchthäusler, zum Herren über Leben und Tod gemacht. Der verurteilte Mörder macht seine Sache gut. Angewidert schaut er auf den schmächtigen Mann, der zu seinen Füßen liegt. Intellektuelles Gesindel. Sie sind daran schuld, dass die Nazis Lager eingerichtet haben. Wir werden ihnen schon noch beibringen, zu gehorchen, den feinen Herren.

      Mühsam kämpft sich der Mann in der zerlumpten Häftlingskleidung auf die Knie, dann langsam auf die Beine. Leopold Figl sieht den Schläger nicht an. Sein Blick ist auf den grauen Felsbrocken gerichtet. Er muss ihn aufheben, sofort. Bevor der Kapo wieder zuschlägt oder ihn wegen „Faulheit“ meldet. Der Gefangene greift nach dem Stein. Die raue Oberfläche reibt an seinen blutig gerissenen Fingern. Häftling Nr. 13.897 spürt den Schmerz nicht. Auf, nur auf. Es kostet ihn jedes Quäntchen Kraft, den Brocken wieder in die Höhe zu stemmen. Der Kapo beachtet ihn nicht mehr. Er ist auf der Suche nach einem neuen Opfer.

      Acht Stunden später steht Leopold Figl mit seinen Kameraden auf dem Lagerplatz. Zählappell. Die letzte Quälerei des Tages. Außer, dem Kommandanten fällt noch eine andere Belustigung für sich und seine Wachmannschaft