Schuld ist nur das Publikum. Georg Markus

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Название Schuld ist nur das Publikum
Автор произведения Georg Markus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783902998484



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Albach-Retty war – wie gesagt – besonders höflich und gestaltete selbst die Interview-Verweigerung zum Erlebnis, denn als sie am Telefon merkte, daß ich über ihre Absage unglücklich war, tröstete sie mich mit der unvergleichlichen Noblesse, die wohl nur noch ihre Generation beherrschte: »Vielleicht ein andermal, rufen Sie mich doch nächstes Jahr wieder an!«

      Ich hatte mit dieser Erzählung im Freundeskreis damals großen Erfolg, eine Hundertjährige lädt mich ein, sie in einem Jahr wieder anzurufen, das kam gut an. Daß ich je die Gelegenheit, mit ihr ein Interview zu führen, haben würde, an dieses Wunder konnte ich natürlich nicht mehr glauben.

      Dennoch, als ein Jahr vergangen war, rief ich wieder an. Auch wenn’s völlig sinnlos erscheint, als hartnäckiger Journalist gibt man sich nicht so leicht geschlagen. Wieder diese bezaubernde Stimme am Telefon, und wieder diese ausnehmende Höflichkeit. »Ach ja, Sie haben’s ja schon voriges Jahr versucht. Aber wissen Sie, ich muß nächste Woche zum Arzt, das Haus, in dem ich hier wohne, wird renoviert, meine Schwiegertochter kommt zu Besuch . . . « Mit einem Wort: Rosa Albach-Retty wollte nach wie vor nicht. In ausgesuchter Höflichkeit fügte sie freilich wieder an: »Probieren Sie es doch im nächsten Jahr wieder.«

      Wieder Riesenerfolge im Freundeskreis. Jetzt ist sie schon hundertundeins. Und sie vertröstet mich immer noch.

      Was soll ich Ihnen sagen, im Dezember 1976 hab’ ich’s ein drittes Mal probiert. Anruf in Baden, »hier spricht der lästige Journalist, Sie wissen schon, gnädige Frau . . .«

      »Ach ja«, Frau Hofschauspielerin klangen heiter wie eh und je und selbstverständlich höflich wie bei den beiden anderen Malen. Aber es ginge ihr gesundheitlich nicht so besonders, wobei sie betonte, daß sie schließlich nicht mehr die Jüngste sei. Womit ich neuerlich vertröstet wurde.

      Diesmal wollte ich nicht wieder ein ganzes Jahr ins Land ziehen lassen, war die Dame doch mittlerweile einhundertundzwei Jahre alt geworden. Zugegeben, die Geschichte wurde mit jedem Jahr, um das sich das Interview hinauszögerte, besser – aber andererseits: Wir beide, die Frau Hofschauspielerin und ich, sollten es doch noch erleben!

      Obwohl meine diesbezüglichen Hoffnungen auf dem Nullpunkt angelangt waren, wandte ich mich in dieser Situation an Tante Hilda. Tante Hilda ist die Schwester meiner Mutter – und sie war schon damals kein junges Mädchen mehr, aber natürlich viel jünger als Frau Hofschauspielerin. Tante Hilda besaß das Privileg, Rosa Albach-Retty persönlich zu kennen. Seit Jahren verbrachte sie die Sommermonate in demselben Hotel wie die »Frau Professor«, wie die berühmte Schauspielerin allseits genannt wurde. Im Kurhotel von Bad Goisern im Salzkammergut. Ich habe Tante Hilda angerufen und ihr die Situation erklärt. Sie versprach mir, bei nächster Gelegenheit intervenieren zu wollen.

      Ein paar Monate waren vergangen, als ich im Sommer 1977 einen Anruf erhielt. Ich dachte an alles mögliche, nur nicht an Tante Hilda, geschweige denn an ihre diesbezüglichen Bemühungen. Doch sie rief jetzt ins Telefon: »Ich hab’ mit ihr gesprochen, du kannst kommen!«

      »Was, bitte sehr, mit wem . . .?«

      »Ich bin in Goisern«, sagte Tante Hilda ein wenig indigniert, »und heute beim Frühstück hab’ ich mit der Rosa Albach-Retty gesprochen. Sie ist bereit, dir ein Interview zu geben. Setz dich ins Auto und fahr los!«

      Tatsächlich, die mittlerweile im einhundertunddritten Lebensjahr stehende Frau Hofschauspielerin hatte via Tante Hilda zugesagt, daß sie jetzt bereit sei, mit mir zu sprechen. Tante Hildas Protektion machte es möglich.

      Am selben Tag noch schnappte ich mir einen Fotografen und los ging’s. In dreieinhalb Stunden waren wir in Goisern, und am späten Nachmittag erwartete mich Tante Hilda bereits in der Hotelhalle. Wir gingen sofort in den Park, wo die Frau Professor und Hofschauspielerin gerade ihren täglichen Nachmittagsspaziergang unternahm. Tante Hilda stellte mich vor.

      »Ach, Herr Markus, Sie haben ja lange warten müssen, aber Sie sehen, wir haben es doch noch geschafft«, sagte die unvergleichlich vornehme alte Dame gut aufgelegt und fügte mit Bestimmtheit in der Stimme an: »Was halten Sie davon, wenn wir uns morgen um zehn an der Rezeption treffen?«

      Ich hielt natürlich viel davon, mietete mich im Kurhotel ein und stand anderntags überpünktlich, zum Interview bereit, in der Halle.

      Es war ein heißer Augustmorgen, der eine fast unerträgliche Schwüle in sich trug. Und da kam sie auch schon. Zierlich, auf einen Stock gestützt – aber nicht etwa, weil ihr das Alter dieses Attribut abverlangt hätte, sondern weil es zur Elegance ihrer Generation gehörte, einen zarten, schwarzen Elfenbeinstock in der Hand zu halten. Sehr schick wirkte sie in ihrem mondänen, weißen Seidenkostüm, das wunderschöne weiße Haar nach hinten gesteckt.

      Sie begrüßte mich höflich und distinguiert, wie sie eben war. Und dann stellte mir die alte Dame eine Frage, die ich, solange ich lebe, nicht vergessen werde. Sie, die im einhundertunddritten Lebensjahr stehende Frau Professor und Hofschauspielerin, fragte mich, den damals in den mittleren Zwanzigern befindlichen Reporter, ob ich »das Gespräch hier in der Halle führen möchte oder lieber draußen auf der Terrasse, aber dort wird es Ihnen vielleicht zu heiß sein«.

      Nicht ihr, der über Hundertjährigen, könnte es zu heiß sein, nein, mir, dem um ein Dreivierteljahrhundert jüngeren. Ich habe einen Beweis solcher Courtoisie in meinem Leben nie wieder erlebt.

      Wir entschieden uns der besseren Fotografiermöglichkeiten wegen für draußen, und ich darf gleich vorwegnehmen, daß sowohl die alte Dame als auch ich die Hitze, gemildert durch einen schattenspendenden Sonnenschirm, glänzend überstanden.

      Soweit die Vorgeschichte, wie es zu unserem Gespräch kam. Und nun zu diesem selbst.

      »Es war kein sehr bewegtes Leben«, begann sie ihre Erzählung mit zarter Stimme, »nein, ganz im Gegenteil – es gab keine Ausschweifungen, alles verlief sehr bürgerlich.«

      Und darin sah sie auch schon das Geheimnis dafür, ihr sagenhaftes Alter erreicht zu haben. »Ich habe nie viel gegessen und getrunken, bin viel an der frischen Luft, gehe gerne spazieren. Und vor allem: Ich glaube, ein gutes Naturell zu haben. Dinge, die mich belasten, kann ich ziemlich leicht abschütteln. Ich sage mir, es hat keinen Sinn, sich allzusehr aufzuregen.«

      Mit einer besonderen Langlebigkeit ihrer Vorfahren konnte sie nicht aufwarten, »meine Verwandten wurden alle nicht sehr alt. Die älteste war meine Großmutter, sie starb mit achtundsiebzig.« Auch Rosa Albach-Rettys Eltern waren Schauspieler, und kein Geringerer als Josef Kainz hatte zu ihrem Vater, als sie sechzehn war, gesagt: »Die Roserl, die muß zum Theater, das geht gar nicht anders.« Mit Kainz, »meinem Lieblingspartner«, sollte sie dann noch oft auf der Bühne stehen, unter anderem als Rahel in der Jüdin von Toledo. In einem halben Jahrhundert Burgtheater war sie dann auch die Nerissa im Kaufmann von Venedig, die Roxane in Cyrano von Bergerac, die Maria in Was ihr wollt, die Delfine im Konzert, die Beatrice in Viel Lärm um nichts, die Aase in Peer Gynt. Und die Göre Adelheid im Biberpelz – eine Rolle, für die sie Gerhart Hauptmann einst in Berlin persönlich vorgeschlagen hatte . . .

      »Für uns Junge war das Burgtheater etwas sehr Komisches«, schmunzelte sie. »Wir in Deutschland hatten ja längst nicht mehr so deklamiert, wir waren moderner. Am Burgtheater hat man immer noch mit furchtbarem Pathos gesprochen.«

      Dennoch war sie dem Ruf der führenden Bühne des deutschen Sprachraums gefolgt, an der ihr – trotz der anfänglichen Ressentiments – gleich auffiel, »daß alle so ein wunderschönes Deutsch sprachen«. Neben Kainz hatte sie auch noch die Burg-Titanen Adolf von Sonnenthal, Josef Lewinsky, Katharina Schratt und Lotte Medelsky erlebt, »alles wunderbare, große Sprechkünstler. Und genau das vermisse ich heute bei so vielen Kollegen, ich würde mir wünschen, daß sie alle sprechen lernen«, formulierte sie zielsicher und unmißverständlich ihren Seitenhieb an die Adresse der jüngeren Generationen.

      Sie war auch nicht zimperlich, als ich das Gespräch auf ihre (damals 39jährige) Enkelin Romy Schneider brachte. Und wieder kam ein Satz, der mir immer im Gedächtnis haftenbleiben wird, weil er so schön den Zeitensprung dokumentiert, der zwischen ihrer und der Generation ihrer Enkelin lag: »Die Romy? Ja,