Schuld ist nur das Publikum. Georg Markus

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Название Schuld ist nur das Publikum
Автор произведения Georg Markus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783902998484



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Zimmer, schreit): »Das ist die interessanteste Frage, die jemals an mich gerichtet wurde. Nehmen Sie meinen Carlos. Der ist mein Persönlichstes, mein Eigenstes, die Rolle, in der ich mich ganz fühle. Also: wenn man eine Gestalt so erlebt und so lebendig macht, alle Äderchen und alle Fäserchen, alle Übergänge und alle Zusammenhänge – die der Dichter gar nicht angedeutet hat –, und wenn der Mensch dann so dasteht, so überzeugend, so zwingend, darf ich dann nicht sagen, daß sich mein Carlos neben den des Dichters stellen darf? Daß in ihm so viel schöpferische Kraft frei geworden ist wie in der Gestalt des Dichters?«

      Der Schriftsteller wagte nicht zu widersprechen. Nicht, weil Kainz ihn überzeugt hätte, sondern weil er »die schöne Emphase eines großen Künstlers nicht stören wollte«. Klar in der nie enden wollenden Auseinandersetzung zwischen Dichter und Schauspieler ist nur, wer von den beiden früher da war; das erkannte schon ein Zeitgenosse des im 18. Jahrhundert wirkenden großen Shakespeare-Interpreten David Garrick, als er diesen Zweizeiler verfaßte:

      Die Dichter sind der Mimen Väter,

      Shakespeare kam erst, Garrick später.

      Gerade in der Zeit, als David Garrick in dem von ihm geleiteten Londoner Drury Lane Theatre eine epochale Shakespeare-Renaissance einleitete, erhielt auch Wien ein Bühnenhaus, das bald zum bedeutendsten im deutschsprachigen Raum werden sollte: das 1776 von Kaiser Joseph II. gegründete Hof-Burgtheater.

      Der »kleine Mann« freilich kam dort nie hin, er sah nichts anderes als Schmierenkomödianten – Schauspieler, die von einem Dorf zum anderen zogen, in Schuppen und Wirtshäusern auftraten, ehe sie sich, so genügend Talent vorhanden, in die viel angesehenere »Provinz« oder gar in ein städtisches Theater hochspielten. Die soziale Stellung des »fahrenden Volkes« (das eigentlich ein »gehendes« war) beleuchtet eine Episode um Emanuel Schikaneder, der in seinen jungen Jahren bei einer Wanderbühne war:

      In der Nähe von Krain bat der spätere Librettist der Zauberflöte nach stundenlangem Fußmarsch, schwitzend und zum Umfallen erschöpft, auf dem Feld arbeitende Bauern um einen Krug Wasser, den man ihm und seinen Kollegen auch reichte. Als kurz danach heftig einsetzender Hagelschlag das Getreide vernichtete, glaubten die Bauern, das Gewitter sei die Strafe Gottes dafür, daß sie »den Komödianten« geholfen hatten. Sie liefen ihnen nach, griffen sie mit ihren Sensen und Heugabeln an, wobei mehrere Mitglieder der Truppe verletzt wurden.

      So tief unten im gesellschaftlichen Leben standen die Schauspieler, daß man sich vor einem Kontakt mit ihnen fürchten mußte!

      Der berühmteste aller Schmierenkomödianten hat nie gelebt – und doch gab es ihn tausendfach: »Wissen Sie denn überhaupt, was ’ne Schmiere ist?« fragt der sächsische Theaterprinzipal Emanuel Striese in dem Schwank Der Raub der Sabinerinnen. »Ja, ich gebe zu, wir ziehen von eenem Ort zum anderen und meine Schauspieler kriegen fast keene Gage, aber dafür leisten sie mehr als manche Hofschauspieler! Mein erster Heldendarsteller, der früher Schneider war, der macht Ihnen aus ’nem Bettlerkleid ’ne römische Toga, daß Sie keen’ Unterschied merken. Meine Frau kocht für das ganze Ensemble. Magenschmerzen kuriert unser Beleuchter, der früher Apotheker war . . . Und wie anhänglich mir die Leute sind. Meine jugendliche Naive, die bereits achtzehn Jahre bei mir engagiert ist, die legt Ihnen noch heute ’n Gretchen hin, daß der Faust ihr ’n Kind machen muß, ob er will oder nicht. Und der Gute ist auch keen Jüngling mehr, das können Sie mir glauben. Sehen Sie, das wird an eener Schmiere geleistet!«

      Immerhin haben Josef Kainz, Werner Krauß, Emil Jannings und Hans Moser auf dieser untersten Stufe des Theaterbetriebs begonnen.

      War einst am Theater, auch auf den großen Bühnen, vieles dem Zufall überlassen, so stieg in unseren Tagen der Regisseur aufs Podest, um jeden Schritt, jeden Ton, jede Träne, jedes Lächeln präziser denn je zu kalkulieren. Zum Vergleich: Dauerten die Proben im vorigen Jahrhundert, in der Ära des Burgtheaterdirektors Heinrich Laube, sechs bis acht Tage, so probiert man heute bis zu drei Monaten, ehe man sich an die Premiere heranwagt. Es war Max Reinhardt, der diese Revolution am Theater einleitete.

      Was Reinhardt für die deutschsprachige Bühne, das ist Stanislawski für Rußlands Theaterkunst. Der Schauspieler Konstantin Stanislawski (1863 bis 1938) gründete das Moskauer Künstlertheater, dessen Ensemble er als autoritärer Regisseur führte. Er inszenierte Tschechow, Gorki und Turgenjew, wobei es ihm darum ging, daß seine Schauspieler so wirklichkeitsgetreu wie nur irgend möglich »in der Rolle leben«.

      Eine Episode macht seine Arbeitsweise deutlich: eine Schauspielschülerin soll Erwartung, Ungeduld, Spannung zeigen. Sie beginnt heftig zu spielen, läuft aufgeregt herum, mimt Verzweiflung, gibt sich große Mühe – und es wird nichts.

      Stanislawski schüttelt den Kopf: »Moment mal, ich gebe Ihnen eine andere Aufgabe.« Er nimmt sein Notizbuch aus der Tasche, blättert, sucht. Die junge Schauspielerin steht – wartend – daneben.

      »Großartig«, sagt Stanislawski, »jetzt waren Sie gut.«

      »Aber ich habe doch gar nichts gemacht.«

      »Eben darum. Jetzt haben Sie wirklich gewartet. Halten Sie diesen Ausdruck bitte fest.«

      Film und Fernsehen gaben dem Schauspieler des 20. Jahrhunderts ein neues Betätigungsfeld. Dabei war es vorerst verpönt, »für den Kintopp« zu arbeiten. Werner Krauß genierte sich für seinen ersten Film dermaßen, daß er sich einen Bart anklebte, »damit mich der Reinhardt nicht erkennt, wenn er ins Kino geht«. Der war damals auf den Film auch wirklich schlecht zu sprechen. Als Anfang der zwanziger Jahre etliche Theater zusperren mußten, machte Reinhardt – neben Krieg und Wirtschaftskrise – auch das Kino und die »untreuen« Schauspieler dafür verantwortlich: »Durch alle Risse des schwankenden Gebäudes dringt der Film mit seinen materiellen Lockungen und verführt selbst die besten Elemente. Sie verkaufen ihre Seele um viel schmutziges Papier und haben nicht einmal Zeit, den Besitz zu genießen. Sie weisen die größten Rollen zurück, sie verlassen die Proben und kommen abends vollkommen erschöpft und übermüdet zu den Vorstellungen, wenn sie überhaupt kommen.«

      Inzwischen haben Film und Theater zwei Kategorien geschaffen, nur in seltenen Fällen agieren Schauspieler da wie dort.

      Viele Namen, für alle Zeiten mit der Geschichte des Theaters und des Schauspielerberufs verbunden, wären noch zu nennen. Lessing, Ibsen, Gerhart Hauptmann, Strindberg, Wedekind und Bert Brecht; die Duse, Gustaf Gründgens und Therese Giehse; Piscator und Leopold Lindtberg; Thomas Bernhard, Wolfgang Bauer, Peter Handke . . . – Dichter, Regisseure, Schauspieler, Kostüm- und Bühnenbildner, Dramaturgen, Kritiker – sie alle machen das Theater aus. Nur sie?

      Ach ja, richtig, das Publikum ist auch noch da. Ohne Publikum geht’s am Theater nicht.

      Oder doch?

      Bayerns Ludwig II. ließ für sich Separatvorstellungen ansetzen. Das Haus war leer, der König saß allein in seiner Loge. Die Schauspieler agierten nur für ihn. Sie sprachen ihren Text, wie an den anderen Abenden auch. Dieselben Akteure, dieselben Worte, dieselben Kostüme und Kulissen, alles war wie immer. Und doch: die Mitwirkenden hinterließen uns, daß ihre Stimmen kläglich dahinschmolzen, daß ihre Bewegungen abbrachen, die Gebärden ausdruckslos im Nichts zerflatterten. Ihren Aktionen fehlte Leben. Die dunkle, menschenleere Höhle, in deren Abgrund sie blickten, verbreitete Kälte, ließ sie erschauern. Sie sprachen ihren Text, aber sie fühlten ihn nicht. Ohne Publikum geht’s nicht, ohne Publikum kann man nicht spielen.

      Schuld ist nur das Publikum.

      DYNASTIEN

      Hörbiger/Wessely/Thimig/Degischer/ Reinhardt/Albach-Retty/Romy Schneider. . .

      Wer mit wem?

       Wiens Schauspieler sind (fast) alle miteinander verwandt

      Wien ist keine Theaterstadt, Wien ist eine Schauspielerstadt. Geht man in Berlin ins Deutsche Theater, in Hamburg ins Thalia Theater, in München ins Residenztheater, so schaut man sich in Wien den Lohner, den Voss, die Dene, den Schenk an. Egal, ob die