Explosion und dann?. Hady Jako

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Название Explosion und dann?
Автор произведения Hady Jako
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783347145870



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mit schweren, bleibenden Behinderungen. Alle nahmen mich beseelt in die Arme, und im Nebenzimmer weinten sie, endlos. Doch das erlebte ich nicht mit. Ebenso erfuhr ich auch nichts von anderen Verlusten: Meine Besucher vermieden es, die Farbe der Trauer zu tragen, und sie vermieden es, meine Fragen zu beantworten. „Deine Freunde? Sie sind bei der Arbeit und werden später kommen.“ Doch die Freunde kamen nicht. Bald beschlich mich eine grauenvolle Ahnung. Derweil betete (*) meine Familie und dankte Gott für meine Rückkehr. Zum Zeichen ihrer Dankbarkeit spendete sie große Summen Geldes und gaben es einem Waisenkind aus der Nachbarschaft. Meine Schwestern Baran und Rehan spendeten ihren gesamten Goldschmuck. Gold besitzt in unserer Kultur einen hohen Wert. Wir alle stimmten in ihre Gebete für Erlösung unseres Volkes von Terror und Tod ein.

      Ich aber fand keine Ruhe. Oft lag ich traurig in meinem Bett und wartete auf meine Freunde. Meine Seele blutete, mein Körper schmerzte. Mein verbranntes Gesicht war geschwollen und entstellte mich, der linke Arm fehlte. Die Kinder hatten Angst vor mir und weinten. Dieser Horrorkranke, halb kaputt, mit gruseliger Stimme, wirkte so bemitleidenswürdig furchterregend; auch mir selbst war zum Fürchten. Nur Jassim, mein kleiner Neffe: DER fürchtete sich nicht! Er hatte so sehr geweint und war nun überglücklich, mich wiederzuhaben! Er kam so oft er konnte. „Ich schenke dir meinen Arm und mein Auge!“ Vier Jahre alt war er damals, mein kleiner Held.

      Einmal kam Majid, ein Freund aus Kindertagen. Er erzählte mir, wie er meine Familie informiert hatte: Die Ärzte hätten nicht daran geglaubt, dass ich überleben könnte; daher würde mein Leichnam bald nach Hause kommen. Vorher sollte nichts anderes gesprochen werden! „Du hattest Recht“, sagte ich zu Majid. So hätte ich es auch gemacht: Niemandem würde ich irgendetwas von Überlebenschancen sagen, bloß niemandem Hoffnung machen; es war ja sinnlos, wenn nicht einmal die Ärzte selbst daran geglaubt hatten! Die hatten es ja nur versucht, hatten einen Todgeweihten operiert, da gab es nichts zu verlieren.

      Noch heute frage ich mich: Was war eigentlich damals in diesen Ärzten vorgegangen? Hatten sie selbst an ein Wunder geglaubt? Wollten sie dem täglichen Elend von T od und Verderben eine Hoffnung entgegensetzen? Operieren war eine Sache, aber Überleben, das war eine ganz andere Sache, und dafür gab es vielleicht fünf, maximal zehn Prozent Hoffnung, so erzählten sie mir später!

      Mein Freund Kathan kam nicht zu mir nach Hause. Er wollte mich so, wie ich jetzt war, nicht sehen. Zu schmerzhaft waren seine Erinnerungen, zu groß war sein Mitleid. So fasste ich eines Tages den Entschluss, selbst zu ihm zu gehen. Ich wollte vermeiden, dass auch wir einander noch verlieren würden. Als er die Tür seines Hauses geöffnet hatte, sahen wir uns an, lange und sprachlos. Dann liefen die Tränen … erst nach und nach konnten wir reden. „Wie kann das sein? Das ist wie eine Auferstehung von den Toten! Dann können ja genauso gut auch meine Vorfahren wiederkommen, obwohl sie doch gestorben sind!“ Ja, das war alles wirklich unvorstellbar. Ich weiß nur so viel: Ich war wie durch ein Wunder gerettet worden, ein Wunder, das gute Menschen vollbracht hatten. Daher habe ich Hoffnung, dass mit solchen, guten Menschen auch der Friede möglich ist, dass es Rettung für alle gibt! Kathan und ich redeten an diesem Abend noch sehr, sehr lange. Dabei begleiteten uns überwältigende Emotionen bis tief in die Nacht. Noch ein paar Mal musste ich ins Lazarett: Operationen wurden durchgeführt, Hauttransplantationen waren erforderlich, Fäden wurden gezogen. Jedes Mal war dies alles ein Risiko auf Leben und Tod, denn das musste vor den Irakern verborgen bleiben. Keine Autokennzeichen, keine Terminabsprachen oder Personenerkennung durften bekannt werden. Alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen ergriffen wir, um unerkannt zu bleiben. Alles ging gut, mein Körper konnte heilen, meine Wunden konnten sich schließen.

      Mein Herz aber, meine Seele – hier klaffte ein riesiges Loch und ich ahnte, dass das Leid noch viel größer war, als gedacht. Wo waren meine Freunde? Wo waren all die Männer, mit denen ich aufgewachsen war, mit denen ich die Heimat verteidigen wollte? Die Antwort war immer dieselbe: Sie haben Arbeit, aber sie werden bald kommen. Bald? Wann? Da verlangte ich schließlich nach den Müttern, den Schwestern, den Frauen und Schwägerinnen. Schließlich kamen sie, bunt angezogen, extra für mich! Die Farbe der Trauer sollte draußen bleiben. Dies wiederholte sich eine Weile, bis mein kleiner Neffe Jassim zu mir kam, ganz nah, mir tief in die Augen sehend, schweigend. Tiefer Ausdruck von Trauer stand in seinen dunklen Kinderaugen. Ich verstand ohne Worte. Dann küsste er mich: „Wir haben dich wieder – das reicht mir“.

      Niemand hatte gewusst, wann und wie sie es mir hätten sagen sollen: Die Leichen meiner Freunde und Cousins waren längst nach Hause gebracht, betrauert und begraben worden. Es gab nichts, was ich noch tun konnte. Da breitete sich große Leere in mir aus. Meine Seele schwamm in einem dunklen Ozean voller Schmerz. Meine Mutter sah mich an, auch in ihrem Blick lagen Finsternis und Trauer. „Kinder sprechen die Wahrheit. Wir wussten, dass du es eines Tages erfahren musst.“ Elf junge Männer aus dem Dorf waren Opfer des Terrors geworden: meine drei Freunde, der einzige Sohn meiner Tante und viele weitere Männer. Tagen wie diesen, an denen mich Trauer und Verzweiflung besonders quälten, folgten Nächte mit Träumen, die an bessere Zeiten erinnerten: Wir Jungs durchstreifen die Straße im Dorf, rauchen Shisha, Wasserpfeife. Ach, und die Schafe! Mein Esel ist auch dabei. Ganz früh morgens gehen wir los auf den Berg, bevor die Hitze kommt. Wenn ich zu müde bin und faul im Bett bleibe, dann weckt Mama mich. Die Schafe müssen fressen, es ist Deckzeit, Mai bis August; manche Schafe werden sogar zwei Mal gedeckt. Also gut, dann gehe ich und mache auf dem Berg noch ein Nickerchen. Aber wenn ein Schaf verloren geht, bin ich hell wach! Ich finde es am selben Tag wieder. Manchmal ziehen sie in die Weizenfelder und fressen sich dort so richtig voll. Das ist eigentlich verboten, aber uns erwischt man nicht. In manchen Jahren behalten wir bis zu sieben Lämmer für uns für große Feste: Charshema Sere Sale (*) oder Ida Ezi (*). Da werden zwei Schafe extra gemästet. Alle Nachbarn kommen, das ist Tradition. Es gibt auch Trüffel, ich kenne die besten Stellen und sammle sie wirklich gerne; das ist ein Festessen für alle!

      Nach einer Weile erzählte mein Freund Majid mir, wie sich die Tage nach der Explosion aus seiner Sicht ereignet hatten. Er hatte mich bei den Leuten liegen sehen, die in einen Leichensack gesteckt wurden. „Legen sie den da auch in einen Sack!“ Das habe ein irakischer Arzt am Anschlagsort gesagt und dabei auf mich gezeigt. Da sei Majid ganz krank vor Mitleid geworden. Er habe weinen müssen und habe meinen Körper in einem Meer voll Tränen in einen Sack gelegt. Die Säcke seien einer nach dem anderen in die Kühlkammer getragen worden. Es habe die ganze Zeit Grauen und Trauer geherrscht. Etwa siebzig bis achtzig Säcke seien das gewesen, und als zwei oder drei Säcke vor mir an der Reihe gewesen seien, hatten die Männer eine Zigarettenpause gemacht. Das war der Moment, in dem der amerikanische Arzt hinzukam, der Moment, in dem ich zum ersten Mal Rettung und Hilfe bekam.

      Wie konnte es eigentlich sein, dass dieser Arzt einen schon geschlossenen Leichensack noch einmal öffnete? Hatte ich mich bewegt? Hatte er etwas gesehen? Wollte er den Tod einfach nicht akzeptieren? Eine Antwort gibt es nicht, dieser Arzt bleibt mir ein Unbekannter. Und doch weiß ich ganz genau, dass er einer von denen ist, die nicht aufgeben, die wie ein Licht in all der Dunkelheit sind, die uns manchmal umgibt. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich noch mehreren solcher ‚Lichter‘ begegnen würde.

      Die folgenden Tage und Monate blieben zunächst dunkel, der Alltag schwierig. Immer wieder hörten wir Schüsse. Die Iraker schossen auf Patienten, wenn sie von den amerikanischen Ärzten kamen. Und ich – ich kam wie ein Wunder auch durch diese schwere Zeit. Jeder Nachbehandlungstermin im amerikanischen Lazarett war lebensgefährlich, doch meine Familie beschützte mich, bis die Krankenhauszeit endlich ein Ende fand.

      2: Mein neues Leben – Mit Behinderung im Irak

      Ich war wieder zu Hause. Doch wie sollte mein neues Leben nun aussehen? Mir war, als müsste ich dieses Leben erst noch finden, mein Leben mit Behinderung in Gohbal, dem Ort meiner Heimat.

      Heimat, war sie das noch – konnte ich hier noch etwas erreichen, gar mein Glück finden? Wer denkt an die Zukunft, wenn die Gegenwart so schwer ist, wenn Schmerzen den Körper quälen, wenn Wunden und Narben medizinische Pflege brauchen und wenn das Geld für das alles fehlt? Zukunftssorgen plagten mich: Wie kann ein Mensch mit Seh- und Hörbehinderung und mit nur einem Arm im Irak Geld verdienen? Er kann es nicht. Gar nicht! Es gibt nichts, was er tun kann! Ungewissheit nagte in mir: Wochen, Monate, vielleicht Jahre wären verschwendet? Gab es Hilfe vom Staat? Vielleicht erhielt ich eine