Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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es zu dieser Entscheidung gekommen sei, habe zum größten Teil an Hetzel gelegen, dem es mit seiner demagogisch plumpen Art gelungen sei, die Mehrheit der Leute hinter sich zu bringen, erzählte Birgit. „Zuerst machte sich Hetzel lustig über die grammatischen Fehler im Text, die eines Germanisten unwürdig seien. Dann bezeichnete er es als Größenwahn, wenn jemand wie du Autor, Hauptfigur und Regisseur in einer Person sein wolle“, berichtete sie. „Und meinen Einwand, dass wir uns schon am Nationaltheater Weimar nach einem jungen Schauspieler umgesehen hätten, der Regie führen könnte, ignorierte er mit einer nicht zu überbietenden Überheblichkeit.“

      Hetzel habe den Oberassistenten heraushängen lassen, sagte Birgit Hielscher. Dann habe er mit seinem Verriss losgelegt, ohne dass jemand versucht hätte, ihn zu stoppen.

      Hetzel, für den die Lehrstücke Brechts das hohe C der Theaterkunst waren, nahm Wolfgangs Stück wie einen faulen Fisch auseinander. Abgesehen davon, dass die Großbaustellen-Romantik eines Abiturienten kaum jemanden interessiere, war Hetzel der Meinung, dass dem Stück etwas sehr Wesentliches fehle, nämlich die dramatische Substanz. Das Stück habe keine Fabel und drehe sich nur um den Helden, der nichts weiter sei als ein Medium der Selbstverständigung. André, die Hauptfigur, wolle zwar anders sein als die anderen, aber dieses Anderssein würde nicht einleuchtend erklärt. Wie ein Messias käme André daher, wie ein passiver Wanderer aus Strindbergs „Damaskus“ gehe er durch die Welt und versteige sich in existenzialistische Formulierungen. Dies sei politisch untragbar, giftete Hetzel. Auch Mike Mutzke habe nicht mit herber Kritik gespart. Dass ein 18-jähriger Abiturient sich in eine sieben Jahre ältere Kellnerin verliebt, möge noch angehen. Aber dass ein 18-Jähriger und eine nuttige Kellnerin die Welt retten wollten, sei einfach lachhaft, meinte er. Im Übrigen sei die Weltsicht der Kellnerin Irene pessimistisch und menschenfeindlich, was durch nichts zu rechtfertigen sei.

      Und Wachsmuth, der große Glattscheißer vor dem Herrn, fühlte sich bemüßigt zu erklären, dass er es ablehne, die Rolle des Karrieristen Frank zu spielen. „So sind unsere Menschen nicht“, habe er gesagt.

      „Mit Hetzels Verriss hätte ich noch gerechnet“, sagte Wolfgang. „Aber nicht mit den Reaktionen von Mutzke und Wachsmuth.“

      Aufs Schlimmste gefasst, fragte er die Hielschern, mit der er auf dem Krankenhaus-Balkon stand: „Und was haben Doris, Biene und Edda gesagt?“

      „Edda hat geschwiegen, den ganzen Abend“, sagte Birgit. Aber Doris und Biene bliesen in Wachsmuths Horn. Biene meinte, sie habe keine Lust, eine Unterhaltungsschriftstellerin zu spielen, der es nur um Geld und Wohlstand gehe. Auch Doris erklärte, dass sie es ablehne, eine junge Journalistin zu spielen, die dem Autor nur als Beweis für die Scheinmoral der Gesellschaft diene, ansonsten aber völlig blutlos sei, und ihr kurzes Statement gipfelte in dem Satz: „Auch ich halte den jetzigen Stückentwurf für nicht spielbar.“

      Nunweiler, der sich nur am Versmaß klassischer Dramen berauschen konnte, ging noch einen Schritt weiter. Mit einer unverhohlenen Dreistigkeit habe er am Schluss der Veranstaltung erklärt, dass es vielleicht besser wäre, Wolfgang würde ein neues Stück schreiben und seinen jetzigen „Versuch zu leben“ vergessen.

      „Alle meine Versuche zu erklären, warum wir das Stück spielen sollten, fanden kein Gehör“, sagte Birgit Hielscher. „Wenn du dabei gewesen wärst, wäre das nicht passiert“, und ihr war anzumerken, dass sie sich irgendwie schuldig fühlte.

      Für Wolfgang war es ein herber Rückschlag. Denn mit der Uraufführung seines Stücks „Der Gast oder Der Versuch zu leben“ verband er die große Hoffnung, als Theaterdichter (sprich: Dramatiker, sprich: Stückeschreiber) Furore zu machen.

      Einen Tag später schon musste er einen weiteren Rückschlag hinnehmen: Er bekam Fieber, und die primär verschlossene Wunde wurde aufgemacht. „Die Wunde muss aufbleiben und von unten herauf heilen“, sagte der Stationsarzt. Da die Wunde, in die bequem sechs große Tupfer hineingingen, sehr tief sei, könne das einige Wochen oder gar Monate dauern, prophezeite er Wolfgang.

       11. Kapitel

      Weil Wolfgangs Wunde am Steiß einfach nicht zuheilen wollte, war lange Zeit ungewiss, ob er sein Studium wie geplant fortsetzen könne. Man erwog sogar, ihn wegen des krankheitsbedingten Ausfalls die versäumten Semester wiederholen zu lassen. Aber zu guter Letzt ließ man ihn doch zum großen Schulpraktikum zu.

      Frau Doktor Gärtner, die Methodik-Tante in Deutsch, war nämlich der Meinung, dass Wolfgang das Versäumte schnell aufholen könne, wenn er durch seinen Mentor schrittweise und behutsam ans Unterrichten herangeführt werde.

      Aber daraus wurde nichts, denn Wolfgangs Mentor war von einem Tag auf den anderen stellvertretender Direktor geworden. Der bisherige Stellvertreter war über Ungarn, wo er Urlaub gemacht hatte, in den Westen abgehauen. Die Aufregung an der Schule war groß, und Wolfgangs Mentor musste binnen kürzester Zeit in die Leitungstätigkeit eingeweiht werden und auf Grund der veränderten Situation einen neuen Stundenplan erstellen.

      Er sagte, Wolfgang müsse für ihn die Grammatikstunde in der 6a halten und drückte ihm seine recht knappe Stundenvorbereitung in die Hand, mit der Wolfgang eine ihm fremde Klasse betrat und ganz auf sich allein gestellt seine erste Stunde hielt.

      Als Wolfgang nach dieser Stunde ziemlich geschafft aus der Klassenzimmertür trat, stand sein Mentor aufgeregt auf dem Gang und teilte ihm die nächste Hiobsbotschaft mit. Er sei mit dem Stundenplan-Ändern noch immer nicht fertig, sagte er und bat Wolfgang, für ihn den Unterricht in der 8a zu übernehmen.

      Wieder drückte er ihm ein paar spärliche Unterlagen in die Hand, und wieder ging Wolfgang völlig unvorbereitet in eine Klasse, die er nicht kannte. Dieses Mal war es Geschichte, was er zu unterrichten hatte. Er musste die Pariser Kommune behandeln, und wenn er Brechts „Tage der Kommune“ nicht so gut gekannt hätte, wäre er total eingebrochen.

      Schon am ersten Tag hatte Wolfgang seine Feuerprobe bestanden, denn keine der Stunden, die er plötzlich aus dem Stegreif halten musste, hatte er vor den Baum gefahren.

      Zwei Tage vor Weihnachten war das Praktikum zu Ende. Wolfgang wurde ins Direktorenzimmer gerufen, und sein Mentor händigte ihm die Beurteilung aus:

      „Vom 26. August bis 30. November 1968 absolvierte Herr Bruckner an unserer Schule in den Fächern Deutsch und Geschichte seine Praktika. Er unterrichtete in den Klassen 6, 8 und 10. In beiden Fächern schloss Herr Bruckner sein Praktikum erfolgreich mit der Examensprobe ab.

      Es kann eingeschätzt werden, dass Herr Bruckner die Anforderungen, die die Schule an einen sozialistischen Lehrer stellt, erfüllt hat. Im Praktikum zeichnete er sich durch parteiliche Haltung, Einsatzbereitschaft, fachliches Wissen und Drang zur Selbständigkeit aus.“

      Ganz am Schluss der vierseitigen Beurteilung stand, dass Wolfgang auf Grund der gezeigten Leistungen das Prädikat „Sehr gut“ erteilt wird. Darauf war Wolfgang besonders stolz, denn es strafte alle Lügen, die ihn bisher zum Versager abgestempelt hatten.

      Als Wolfgang über die Weihnachtsfeiertage nach Arnsbach fuhr, zeigte er Heidi die Beurteilung. „Kompliment“, sagte sie und gratulierte ihm dazu, dass er beide Examensstunden mit „Eins“ gemacht hatte.

      „Es war ein großes Glück, dass ich trotz der versäumten zwei Semester zum Großen Schulpraktikum zugelassen wurde“, sagte er. „Ich hatte richtig Glück im letzten halben Jahr.“

      „Das kann ich nicht von mir behaupten“, meinte Heidi. „Mein Start ins Lehrersein an der Dorfschule in Höhnberg hätte nicht schlechter sein können.“

      Denn zu Beginn des Schuljahres waren alle Lehrer aufgefordert worden, eine Resolution zu unterschreiben, in der der Einmarsch der fünf Bruderländer in die CSSR für gut geheißen wurde.

      Heidi jedoch fand, dass es eine große Schweinerei war, was sich da in der Welt tat, und verweigerte ihre Unterschrift.

      Auf Grund dieser Tatsache war sie als Querulant verschrien, und der Direktor konnte sie von Anfang an nicht leiden. Er hielt sie vom ersten Tag an für aufmüpfig und arrogant, und er schikanierte sie, wo es nur ging.