Grundlos heiter. Harald Malz

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Название Grundlos heiter
Автор произведения Harald Malz
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783934900516



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sollte. Ich deutete auf das Bett, legte die Hände katholisch aneinander und hielt sie dann an eine Wange. Sofort war ihm anzusehen, dass das Angebot gar nichts für ihn war. Er rannte los zur Terrassentür, zerrte daran, ohne sie öffnen zu können und sah mich verzweifelt an. Ich machte die Tür auf und das alte Kind verschwand in meinem dunklen Garten. Ich trat hinaus, ich rief, aber es gab keine Anzeichen, wo der Junge abgeblieben sein konnte. Etwas beunruhigt machte ich meine Abendtoilette und ging ins Bett. Der Tag hatte mich angestrengt und nach ein paar verwaschenen Gedanken an das Kind schlief ich ein. Am nächsten Morgen wurde ich durch ein drängendes Klopfen geweckt. Nachdem ich mich orientiert und auf den Wecker geguckt hatte, wusste ich, woher der Lärm kam. Das alte Kind klopfte an die Terrassentür. Es war früh, halb sieben. Wir frühstückten zusammen. Kein Wort von meinem Gast, nur viel Kauen und genüssliches Essen. Nach dem Frühstück wandte ich mich meiner gewohnten Zeitungslektüre zu und schaltete das Radio ein. Deutschlandfunk. Radio hören fand der Junge gut. Konzentriert hatte er den Kopf dem Apparat zugewandt. Musik fand er besser als Wortbeiträge, wie ich bei meinem unauffälligen Schielen über den Zeitungsrand feststellte. Der zarte Körper und das schmale Köpfchen bewegten sich im Takt der Musik. – Mein Gast müffelte. Ich überlegte, wie ich ihn von Körperhygiene überzeugen konnte. Ich verschob meinen Plan aber. Ich konnte mich an seine heftigen Abwehrreaktionen von gestern Abend erinnern, als ich ihm das Gästebett angeboten hatte. Ich ging hinaus in den Garten, der Junge hinter mir her. Er hatte sich eine Plastikplane unters Gesträuch am Grundstücksende gespannt und sich ein Lager aus Blättern bereitet. Dort also hatte er die Nacht verbracht. Das würde er auch zukünftig tun und ich sah keinen Grund, ihn davon abzuhalten.

      Wir hatten jetzt schon einige Tage miteinander verbracht. Das alte Kind hatte immer noch nichts mit mir gesprochen. Wir aßen regelmäßig zusammen, es blieb stumm. Wir hörten häufig Musik aus meiner CD-Sammlung. Einmal hörten wir Peer Gynt von Edward Grieg. Das alte Kind war bei Ases Tod besonders berührt. Tränen schimmerten in seinen geheimnisvollen, dunklen Augen, so dass ich es fortan Peer nannte. Wenn sich der Junge unbeobachtet fühlte, tat er etwas total Ungewöhnliches. Er übte, sich aufzulösen. Mal verschwand eines seiner dünnen Ärmchen, mal war nur noch der halbe Kopf zu sehen, mal war der mittlere Teil seines Körpers verschwunden. Peer sprach immer noch nichts, aber er konnte verblüffend gut zeichnen. Einmal zeigte er mir eine Zeichnung, auf der er und eine Wand zu sehen waren, in der er halb verschwunden war.

      Die gestromte junge Katze aus der Nachbarschaft liebte ihn. Sie genoss sein Streicheln und folgte ihm ständig mit in den Himmel gerecktem Schwanz und zeigte ihre rosige Katzenrosette.

      Einmal stand ich an der Supermarktkasse, vor mir zwei Frauen aus meiner Nachbarschaft. Sie hatten mich nicht gesehen. Ich hörte Gesprächsfetzen. »Neffe aus Hamburg, so, so.« »Ich sage dir, Pädophilie!« Ich fragte mich, ob ich mich in ihr Gespräch einmischen sollte, aber es verstummte von ganz allein, als sie mich sahen und sich dann ganz abrupt »Schönen Tag, noch!« wünschten.

      In der Nacht hatte sich ein heftiges Sommergewitter gebildet. Ich stand am geöffneten Fenster. Der Regen trommelte auf die Ziegel der Gaube, die Luft vibrierte vom Krachen der einschlagenden Blitze. Ich liebe die Geräusche, die dem eigentlichen Donner vorangehen. Das Bersten, Knacken, Knattern, Knistern. Als kleiner Junge hatte ich mich vor Gewitter immer sehr gefürchtet. Die Blitze warfen meine mächtige Silhouette auf die Wand. Ich meine auch, Peers Schatten im Garten gesehen zu haben. Am nächsten Morgen war er verschwunden und blieb es auch. Ich hatte mich so an es gewöhnt, das alte Kind.

      Der freundliche Riese

      Ganz oben, sehr zurückgezogen, gleich unterhalb des Deisterkammes, lebt der freundliche Riese. Er haust in einer geräumigen Felsenhöhle, deren Eingang er immer sehr sorgfältig tarnt, wenn er ausgeht, um Wildschweine am Schinken zu zwicken oder Wanderer und Mountainbiker zu erschrecken. Er ist fünf Klafter hoch und wiegt dreizehn Doppelzentner. In letzter Zeit hat er etwas zugelegt. Das liegt an der Angst der Menschen, die rund um den Deister wohnen und von deren Angst er lebt. Angst vor der Zukunft, Angst um den Euro, Angst um den Partner und um die Kinder, Angst vor der Angst. Die Angst wird mit dem Wind die Hänge herauf geweht, und der Riese ernährt sich von ihr. Er nimmt sie über seine gewaltige Körperoberfläche osmotisch auf, denn meistens, wenn es die Witterung zulässt, bewegt er sich mit freiem Oberkörper durch den für ihn eigentlich zu kleinen Wald. Wenn man die Klitschko-Brüder aufeinanderstellte und dann noch mit drei malnähme, hätte man einen Eindruck von der Größe des Riesen. Aber nur die wenigsten haben ihn je gesehen und denen schenkt man wenig Glauben. Sein rundes Haupt ist bedeckt von semmelblondem Haar, das golden in der Morgensonne leuchtet. Er hat ein freundliches Gesicht, und Kinn und Wangen sind von einem mächtigen Seemannsbart bedeckt, den ihm die Deistertrolle regelmäßig kurz scheren und ihre Kissen und Betten damit füllen. Dann ist auch sein krauses Brusthaar fällig. Der freundliche Riese legt sich für die Prozedur auf den Rücken und genießt das Kribbeln und Krabbeln der emsigen kleinen Kerle.

      Stets trägt er ein Lächeln im Gesicht und in alten Zeiten half er den Forstgesellen und deren schwer arbeitenden Rückepferden, ohne dass sie es bemerkten. Oft erledigte sich die Fron wie von Zauberhand und die Holzknechte murmelten dann ehrfurchtsvoll: Das muss wohl Sigmar, der freundliche Riese gewesen sein. Mit Rübezahl, seinem übellaunigen weitläufigen Verwandten aus dem Riesengebirge hat er charakterlich nur wenig zu tun. Ursprünglich hatten die Bergleute, die im Deister Kohlegruben unterhielten, nur Spott für die Holzknechte. Doch manch wundersame Rettung aus Bergnot ging auf das Konto des freundlichen Riesen, der Schächte vorm Einstürzen bewahrte und Kinder, die sich verlaufen hatten, auf den rechten Weg zurückführte.

      Wenn er lacht, und das tut er oft, grollt es wie dunkler Donner durch den dichten Wald, und es gibt an jedem Baumstamm ein Echo. Sein Schritt lässt den Waldboden erbeben, so dass das Reisig immer ein wenig emporgeschleudert wird. Den alten Mütterchen lüpfte er früher heimlich die Reisigbündel, damit sie es nicht so schwer hatten beim Tragen, denn er konnte auch leise ein, wenn er wollte. Die Vögel des Waldes mögen ihn und singen immer besonders innig, wenn sie seiner gewahr werden.

      Er hat Fäuste wie Basketbälle, was sag’ ich, wie Medizinbälle, und kann Bäume samt Wurzelwerk aus dem Waldboden ziehen, wenn er übermütig ist und sich einen Spaß machen will. Er kann auch Felsbrocken mehrere hannoversche Meilen weit werfen. Dann pfeift die Luft, und die Leute sagen: Sigmar übt wieder Weitwurf. Nicht in böser Absicht, er will nur spielen.

      Manchmal, bei sehr schlechtem Wetter, trägt er ein wasserabweisendes Gewand aus Buchenrinde. Er hat einen Wanderstab, den er sich aus einem Fichtenstamm schnitzt, der ihm aber leicht zerbricht wie unser einem ein hölzerner Zahnstocher. Wenn er in seltenen Fällen ein bisschen schlechte Laune hat, steckt er Bikern Äste zwischen die Speichen der sich drehenden Räder, die für ihn aussehen wie rotierende Swastiken, nein, nicht Spastiker, wie das Schreibprogramm meint. Wanderern zieht er auch mal das Schuhband auf und kann sich darüber fast geräuschlos schlapp lachen, so dass es sich anhört, als ob der Wind in den Baumkronen saust.

      Seine Eltern waren normalwüchsige Springer, die Sigmar, den Riesen, unter allerdings merkwürdigen Bedingungen gezeugt hatten. Fritz und Dorchen hatten ihn während Not und Krieg bekommen, die fast das gesamte Denken und Fühlen der Menschen eingenommen hatten. Sie hatten ihn als kleinen Jungen unter Tränen im Wald ausgesetzt. Gab es schlimme Zeiten, so war die Angst groß vor Hungersnot, Überschwemmungen, Atomkrieg, Terrorismus, 11. September, Al Qaida. Eigentlich war die Angst immer groß, so dass der freundliche Riese stets groß und gut genährt war.

      Ob er noch lebt? Ich weiß es nicht. Doch man hört immer wieder von Wanderern, denen das Schuhband aufgeht oder von vom Rad fallenden Bikern. Das kann eigentlich nur Sigmar, der freundliche Riese gewesen sein.

      Käfer im Baum

      Jeder kennt sie. VW-Käfer auf dem Dach eines Autohauses. Oder halbe Käfer, die aus einer Wand herauszuschießen scheinen, wenn sie von vorne zu sehen sind, umgeben von gemalten, auseinanderspritzenden Ziegelsteinen. Oder halbe Käfer von hinten, die in einer Wand verschwinden. Von einem Käfer handelt auch die folgende Geschichte.

      Vor ziemlich genau dreißig Jahren hatte ich meinen letzten gebrauchten