Grundlos heiter. Harald Malz

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Название Grundlos heiter
Автор произведения Harald Malz
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783934900516



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ein Trompetenmundstück. Er hatte in der Nachkriegszeit in der Tanzkapelle »Die Weiße Fünf« Trompete gespielt. Nun steckte er das Mundstück auf das havarierte Instrument, drückte probehalber die Ventile und blies »Il Silencio« von Nini Rosso. Die Trompete hatte einen schönen Klang, und durch das geöffnete Fenster drang die getragene Melodie in die sonntägliche Morgenstille des kleinen Dorfs. Das Wetter meinte es gut. Die Sonne schien, und die Luft war klar. Wer in der Umgebung noch nicht wach gewesen war, war es jetzt.

      Natürlich gab es in diesem Dorf, wie in jedem in Deutschland, eine freiwillige Feuerwehr. Und diese freiwillige Feuerwehr hatte natürlich eine Feuerwehrkapelle. Auch Friedrich Hüper, Mitglied in dieser Kapelle, war erwacht und hatte wie gebannt der live gespielten Solotrompete gelauscht. Er spielte erstes Flügelhorn. Nachdem er die Herkunft der Töne geortet hatte, ging es wie ein Lauffeuer durch das Örtchen: Der Kriminalkommissar, der in der Landeshauptstadt seinen Dienst tat, konnte Trompete spielen. Es dauerte nicht lange, und eine Abordnung des kleinen Blasorchesters stand in Uniform vor der Tür. Die Männer hatten ihre Dienstmützen abgenommen, drehten sie in ihren Händen und fragten, ob der Kommissar vielleicht in der hiesigen Feuerwehrkapelle mitspielen wolle.

      Immer, wenn der Kommissar auf seiner Trompete mit der zweifelhaften Herkunft spielte, die er sich notdürftig hergerichtet hatte, änderte sich fast unmerklich das Licht, es roch etwas sonderbar wie nach Mottenkugeln und aus purpurnen Wölkchen erschienen eine schwarze Katze und ein goldener Vogel. Sie sprachen zu ihm, sie seien zwei verwunschene Prinzessinnen. Nur er könne sie durch sein Spiel auf dieser Trompete erlösen, indem er den »Hummelflug« korrekt und in einer Zeit unter einer Minute spielte. Der Kommissar war ein Freund der Frauen, und so übte er, wann immer es möglich war, die Komposition von Nikolai Rimski-Korsakow aus der Oper »Das Märchen vom Zaren Saltan«. Sie war in Anwesenheit des Zaren Nikolaus II. am 3. November 1900 an der Solodownikow Privatoper in Moskau uraufgeführt worden. Und eben die verbeulte Trompete, die von dem bekannten Petersburger Instrumentenbauer und Trompetenmacher Alexander Wassilowitsch geschaffen worden war und die Uraufführung von Rimski-Korsakows Oper mitgemacht hatte, war über mehrere Generationen von Trompetenspielern schließlich in den Besitz des Kommissars gekommen. Der Trompeter der Uraufführung hatte sich an entscheidender Stelle verspielt und aus nicht mehr zu ermittelnden Gründen war der hochmusikalische Zar Nikolaus so erzürnt gewesen, dass seine Kaumuskeln schwer arbeiteten und er in seinem Zorn den Hofmagier rief, der in seinem Übereifer zwei anwesende Damen des Hofes versehentlich in eine schwarze Katze und einen goldenen Vogel verwandelte. Und so erschienen die beiden immer, wenn jemand auf der Trompete spielte. Ihr letzter Besitzer, der die Trompete in Amsterdam auf dem Flohmarkt gekauft hatte, hatte sich mit der Aufgabe, die die verwunschenen Prinzessinnen vortrugen, irgendwann überfordert gefühlt. Er hatte das Instrument zu Boden geworfen und war in einem Anflug von heißem Zorn auf ihr herumgesprungen, wobei er sich auch noch den linken Knöchel verstaucht hatte. Schließlich war sie im Hauptbahnhof liegengeblieben. So erzählten Katze und Vogel.

      Der Dirigent der Feuerwehrkapelle hatte den Kommissar schließlich davon überzeugen können, in dem kleinen Blasorchester mitzuspielen. Das war nicht allzu schwer, denn der Kommissar war schon ein bisschen geschmeichelt, dass er gefragt worden war und er liebte es auch, im Rampenlicht zu stehen und wenn es nur die Bühne des Dorfkrugs war. Und er hatte eine funkelnagelneue Trompete zur Verfügung gestellt bekommen. So ging der Kommissar jeden Donnerstag zum Üben in den Saal des nahegelegenen Dorfkrugs, um mit den Kameraden flotte Märsche, Schlager und arg vereinfachte Arrangements von Glenn-Miller-Stücken zu spielen. Anschließend wurden immer Biere und Schnäpse getrunken, was dem musikalischen Kriminalisten auch entgegenkam.

      Nicht vergessen war die flehentliche Bitte des goldenen Vogels und der schwarzen Katze, den »Hummelflug« perfekt zu spielen, um sie von ihrem Zauber zu befreien und sei es nur, dass sie in Ruhe sterben konnten. So übte der Kommissar und übte. Er hatte schon seine ganze Umgebung mit den chromatisch angeordneten Sechzehntelnoten, wobei die Viertelnoten in 180 Schlägen pro Minute gespielt werden mussten, terrorisiert und gegen sich aufgebracht: Seine Frau Brigitte, seinen Sohn, seine kleine Tochter und die übrigen Hausbewohner. Nun übte er im Keller und hatte auf den zerknitterten Trompetentrichter einen Schalldämpfer montiert. Aber so sehr er sich auch anstrengte, seiner Flatterzunge gelang es nicht, die hochvirtuose Komposition nur annähernd korrekt wiederzugeben. Entweder klang es zu breiig, oder er schaffte die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht. Nach einer unendlichen Reihe von Versuchen gab er auf und verstaute die Trompete im Kleiderschrank hinter den Pullovern und vergaß sie. So gingen die Jahre ins Land, und niemand dachte mehr an die verbeulte, bejahrte Trompete. Nur als der alte, pensionierte Kommissar schließlich starb, hörte man gedämpfte, klagende Trompetentöne aus dem Kleiderschrank, die um zweierlei trauerten, den Kommissar und die unerlösten russischen Prinzessinnen Svetlana und Anastasia.

      Das alte Kind

      Plötzlich stand das alte Kind in unserem Garten. Einen Augenblick vorher war nichts an dem Ort, wo es auftauchte. Das erste, was mir an ihm auffiel, waren die altmodischen braunen Schnürstiefel, die bis über die Knöchel gingen, und über der Doppelschleife begannen graue, grob gestrickte Wollstrümpfe, die bis in die Kniekehlen reichten. Hosenbeine aus Popeline reichten bis kurz über die mageren Knie, so dass ein zwei Zentimeter breiter, brauner Streifen der Oberschenkel zu sehen war. Eine beigefarbene Strickjacke über der Hose lag eng an dem schmalen Brustkorb, und am Hals schaute ein spitzer Hemdkragen aus der Jacke. Es war ein Junge. Ein schmales, blasses Gesichtchen über dem Kragen, eine schmale, ernste Nase, dunkle Augen, von denen nicht zu sagen war, welche Farbe sie hatten. Die Arme hingen seitlich am Körper, es ging etwas Melancholisches von dem alten Kind aus. Das Alter des Jungen schätzte ich auf acht Jahre. Ich fragte ihn: »Wo kommst du denn her?« Außer einem Zucken der dünnen Lippen gab es keine Reaktion. Wie heißt du? Nichts. Ich wusste nicht recht, was ich mit dem Kind anfangen sollte. Es hob den dünnen Arm. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger zeigte es erst auf den geöffneten Mund, dann auf seinen Magen. Es schien Hunger zu haben. Ich ging auf den Jungen zu, wollte ihn an der Hand fassen; das ließ er nicht zu. Ich ging über die Terrasse ins Haus und bedeutete dem alten Kind, mir zu folgen, was es auch tat. Wir gingen in die Küche. Behutsam setzte es die Füße und machte kleine vorsichtige Schritte. Ich bot ihm einen Stuhl an unserem Küchentisch an und holte Brot aus dem Küchenschrank, schnitt zwei Scheiben vom Gersterbrot ab, holte Butter, Leberwurst und Käse aus dem Kühlschrank und stellte alles vor dem Jungen auf den Tisch. Er beobachtete mich mit ernsten, aufmerksamen Augen. Ich holte ein Glas hervor und ein Tetrapak Apfelsaft, schließlich ein Messer. Ich überlegte, ob ich ihm ein Brot schmieren oder ob ich schauen sollte, wie er damit zurechtkam. Ich dachte schon, dass ein Junge seines Alters, wenn meine Vermutung denn zutraf, selber ein Brot schmieren konnte. Er griff schließlich zum Messer, machte eine schnelle, waagerechte Bewegung damit vor seiner Kehle und begann dann, sehr sorgfältig Butter auf seiner Brotscheibe zu verstreichen, so dass nach einiger Zeit überall eine gleichmäßig dünne Schicht Butter verteilt war. Die Leberwurst im Darm schob er mit angeekeltem Blick zur Seite. Er griff zum Gouda, schnitt sich mehrere makellose Scheiben ab und legte sie auf sein Butterbrot. Mit großem Appetit, fast gierig, biss er in seine Stulle und kaute mit sichtlichem Behagen. Ich dachte, er solle noch etwas Frisches zu seinem Käsebrot haben und holte eine Tomate aus meiner Schüssel, die für Früchte, Knoblauchknollen aber auch Tomaten vorgesehen war und legte sie ihm auf seinen Teller. Mit fettigen Fingerspitzen hob er sie an, hielt sie in Augenhöhe und untersuchte sie mit hoch konzentriertem Blick. Rot und nahezu kugelförmig, am unteren Ende ein kleiner Krater, wo die alten Kelchblätter gesessen hatten. Er war fasziniert. Pfeffermühle und Salzstreuer ignorierte er. Er rollte die Tomate über den Tisch. Ich hielt die Hand etwas unterhalb der Tischplatte und fing die Frucht auf. Ich nahm die Tomate, dann das Messer und zerteilte sie in Viertel. Eins davon aß ich. Der Junge sah mich erstaunt an, tat es mir aber dann nach und aß ein bisschen schmatzend die restliche Tomate auf. Ich goss meinem Gast ein Glas Apfelsaft ein, das er in einem Zug leerte. Nachdem er die zwei abgeschnittenen Scheiben Brot gegessen hatte, machte er dieselben Gesten, die er schon im Garten gemacht hatte. Nachdem er das halbe Gersterbrot gegessen und den Tetrapak ausgetrunken hatte, schien er fürs erste gesättigt. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen und sah mich unverwandt an. Es war dunkel geworden, und ich hatte keine Ahnung, was ich mit ihm anfangen sollte. Ich beschloss, dass er bei mir übernachten sollte. Ich hatte